Deutsch lernen mit Luther (5): Die und-und-und-Marotte (Friedhof der Wörter)
Luther mochte das „und“, dies unscheinbare, keinen Sinn tragende Wort. Viele Absätze, nicht nur in der Kreuzigungs-Geschichte, beginnt er mit „und“:
„Und als er zu Jerusalem einzog“; „Und als er in den Tempel kam“; „Und als er auf dem Ölberg saß – und, und, und.
Luther hatte eine „Und“-Marotte – und eine „Da“-Marotte“. Wenn er einen Absatz nicht mit „Und“ begann, nutzte er oft das „Da“, ebenso unscheinbar und sinnfrei:
„Da versammelten sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten“; „Da ging hin der Zwölfen einer mit Namen Judas“; „Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach‘s und gab’s den Jüngern“; da, da, da.
Luther war mehr als ein Übersetzer, er war ein Dichter, ein großer dazu. Dichter haben ihre Eigenarten, ihre eigene Meisterschaft, ihren eigenen Stil, der kaum zu erklären ist: Er ist, wie er ist. Wer ihn kopieren will, macht sich lächerlich.
Es gibt allerdings eine Szene in der Leidensgeschichte, in dem Luther dem „und“ eine erkennbare Funktion gibt: Es steigert die Dramatik immer weiter und weiter. Sie beginnt mit einem kurzen Satz: „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“ Auf das „laut“ hätte Luther sogar verzichten können, den „schreien“ ist immer laut. Geriet Luther der Satz, der Gottes Ende erzählt, doch zu kurz? Oder er wollte den Schrei noch lauter machen, den Schrei der Verzweiflung?
Es folgen zwei Sätze, in denen acht Mal „und“ erscheint: Was für eine Spannung, die ohne das Und-Stakkato ungleich schwächer ausfiele!
Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und stunden auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
41 Wörter in einem Satz, nimmt man den vorgeschalteten Satz hinzu sind es 58: Ein Beispiel für lange, aber gut verständliche Sätze, denen die Und-Marotte zusätzlich gut tut. Meisterhaft!
Deutsch lernen mit Luther (4): Wie das Volk seine Sprichwörter macht (Friedhof der Wörter)
Wie erfindet man neue Wörter? Der Philosoph Peter Sloterdijk schenkte der Welt viele neue Wörter wie „thymotisch“ oder „Lethargokratie“, aber die Welt besteht für ihn aus hochgebildeten Menschen und Kulturredakteuren, die die Welt zwar nicht verstehen, aber unentwegt über sie nachdenken; sie freuen sich über jedes Nebel-Wort, in denen sie endlos stochern können, aber niemals klar sehen.
Auch Martin Luther, der Anti-Sloterdijk, erfand neue Wörter, als wolle er das Wörter-Fließband erfinden. Martin Luthers Welt waren die einfachen Menschen: Seine neuen Wörter waren die Wörter, die er beim Einkaufen hörte oder beim Stammtisch in der Wirtschaft. In seinem „Sendbrief“ nennt er die eigentlichen Erfinder der neuen Wörter: „Die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt“.
Bisweilen spielte auch das Volk mit Luther, las seine Schriften und verbog sie, dass es krachte – wie in der Gerichtsszene mit Pontius Pilatus:
Pilatus will sich nicht mit Jesus abgeben, er sucht einen Ausweg. Was macht ein Politiker? Er fragt: Bin ich zuständig? Pilatus schaut ins Organigramm der Macht und findet heraus: Galiläa, im Norden des heutigen Israels gelegen, gehört in die Zuständigkeit von König Herodes.
„Sie waren einander feind“, schreibt Luther über die Beziehung von Pilatus und Herodes. Also schickt Pilatus Jesus zu Herodes, der soll ihn richten. Da aber Jesus nicht ein Wort mit Herodes spricht, schickt er ihn zurück zu Pilatus. „Auf den Tag wurden Pilatus und Herodes Freunde miteinander“, schreibt Luther.
Da wird einer von Pilatus zu Herodes geschickt, und nichts kommt dabei heraus. Was macht das Volk aus dieser Geschichte? „Da wird einer von Pontius zu Pilatus geschickt“: Dies wird sprichwörtlich und hat mit der historischen Wahrheit nichts zu tun. Es ist ein Spiel mit der Sprache, das zeigt, wie sich Sprachbilder von ihrem Ursprung lösen und verselbständigen, bis kaum mehr einer ihren Ursprung kennt.
Deutsch lernen mit Luther (3): Kurze Wörter, nicht unbedingt kurze Sätze (Friedhof der Wörter)
Wie hält es Luther mit kurzen Sätzen? Je kürzer, desto besser?
Kürze propagieren moderne Sprachtrainer, weil in unserer Welt alles schneller wird: Filme haben hektische Schnitte, Bücher abgehackte Sätze, oft nicht einmal vollständig; Comics schätzen Gestammel: Aääh, bäh, brumm; gähn, plopp, urg. Ein Ratgeber für Blog-Schreiber, also Tagebücher im Internet, beginnt mit dem kurzen Satz: „Der kurze Satz gewinnt!“
Nun lebte Luther ein halbes Jahrtausend vor dem Internet. Aber in einem hätte er sich mit den Bloggern und Twitterern verbrüdern können: Schreibt so, dass die Leute Euch verstehen! Dafür braucht man keine kurzen Sätze.
In der Lukas-Geschichte der Kreuzigung bildet Luther immer wieder Sätze mit mehr als zwanzig Wörtern:
Die Männer aber, die Jesus hielten, verspotteten ihn und schlugen ihn, verdeckten ihn und schlugen in sein Angesicht und fragten ihn und sprachen…
Der Satz hat 23 Wörter: Warum stört uns die Länge nicht? Warum klingt er wie ein kurzer, gut verständlicher Satz? Nicht die Zahl der Wörter entscheidet über die Verständlichkeit, sondern vor allem die Zahl der Silben. In der Folter-Geschichte hat die Hälfte der Wörter nur eine Silbe; gerade mal drei Wörter haben drei.
Je kürzer ein Wort, desto einprägsamer ist es: „Recht und Schlecht“ geht sofort in den Kopf, eine Wendung aus dem alttestamentlichen Buch der Sprüche.
Aber nicht der Geiz mit den Silben allein schafft attraktive Sätze: In der Folter-Szene finden wir nur einen Nebensatz mit gerade mal drei Wörter. Der Hauptsatz dominiert, in ihm erzählt Luther eine komplette Geschichte und erzeugt mit dem Stakkato der Aufzählung eine Atmosphäre des Schreckens – ohne ein einziges Adjektiv.
Noch ein 24-Wörter-Satz aus der Leidensgeschichte: Wieder nur ein Hauptsatz, sogar mit zwei viersilbigen Wörtern – doch nicht minder verständlich:
Und als es Tag wurde, sammelten sich die Ältesten des Volks, die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und führten ihn hinauf vor ihren Rat und sprachen…
Deutsch lernen mit Luther (2): Traue keinem Adjektiv!
Krimis sind beliebt. In Buchhandlungen stehen die Tische mit Blut- und Horror-Geschichten in der Nähe des Eingangs.
Krimis wimmeln von Adjektiven:
Die Terroristen, blutrünstige und finstere Gesellen, zogen dem zutiefst verängstigten Mann sein dunkles fleckiges Hemd aus und seine ärmliche schmutzige Hose, hängten ihm einen tiefroten Mantel um und gossen übelsten Spott über ihn aus. Sie jagten ihm spitze Nägel in den schief hängenden Kopf, bis er einer silbernen Krone glich. Sie spuckten ihn voller Verachtung an und schlugen ihm mit einem dicken Rohrstück auf sein müdes Haupt.
Ein gutes Dutzend Adjektive steht in diesen drei Sätzen, fast alle überflüssig. Wer seiner Erzählung nicht traut, verpasst ihr ein paar Adjektive; wer Gefühl beim Leser wecken will, verführt ihn so – als ob der genaue Bericht nicht reicht, um ein Bild oder einen Film im Kopf zu erzeugen.
So beschreibt Luther die berühmteste Foltergeschichte der Weltliteratur:
Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesus zu sich und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an und flochten eine Dornenkrone und setzen sie auf sein Haupt und spotteten ihn an und schlugen mit dem Rohr sein Haupt.
Sieben starke Substantive, sieben kräftige Verben und kein einziges Adjektiv: So nimmt Luther den Leser ernst, vertraut dessen Phantasie und Vorstellung. Wer Adjektive braucht, um seinen Text zu schmücken, der gleicht einer Mutter, die ihr Kind an die Hand nimmt, statt es alleine gehen zu lassen.
Georges Clemenceau war Ende des 19. Jahrhunderts einer der großen Journalisten in Frankreich. Den Redakteuren seiner Zeitschrift „L’Aurore“, die Morgenröte, ordnete er an:
Wenn Sie ein Adjektiv verwenden wollen, kommen Sie zu mir in die dritte Etage und fragen, ob es nötig ist.
Dramatik geht am besten ohne Adjektive. Lies Luther:
Der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde bebte und die Felsen zerrissen und die Gräber taten sich auf…
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 29. Februar 2016
Deutsch lernen mit Luther: Hinweg mit Floskeln und Blähungen!
In den sechs Wochen vor Ostern kaufen viele Menschen die Marzipan-Hasen bei Aldi; einige fasten und betonen: “Das hat nichts mit Religion zu tun“; einige wenige hören Bachs Matthäus-Passion. Wir schauen, wie Luther die Folter- und Hinrichtungs-Geschichten vom Griechischen ins Deutsche übersetzt hat.
Mit Luther können wir gutes Deutsch lernen: Verständlich, einfach und schön. Luther blähte die Sprache nicht auf wie viele seiner Epigonen. Mit gerade mal neun Wörtern lässt er die Geschichte des Leidens beginnen, neun Wörter des Verrats:
„Was wollt Ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten.“
Zweimal: wollen; zweimal: ich und mir; zweimal Ihr und euch; zwei Verben, darunter das starke „verraten“, um die Handlung anzutreiben; kein Substantiv, die Verben reichen.
Knapper geht es nicht; die meisten Krimi-Autoren brauchen zig Seiten, um einen Verrat zu erzählen und zu blähen. So sei ihnen sowie Politikern, Managern und Theologen empfohlen, bei Luther in die Schule zu gehen. Selbst in einem Buch wie Margot Käßmanns „Schlag nach bei Luthers“ ist das Vorwort voller Floskeln und Blähungen, unter denen Luther schon physisch litt.
Käßmann ist durchaus wortgewaltig, bisweilen. Über die Zeit der Reformation schreibt sie: „Martin Luther bleibt im Zentrum des Geschehens, so sehr er auch durch andere Personen und gewiss durch die geschichtlichen Umstände geprägt wurde.“
So viele Allgemeinplätze in einem Satz – „gewiss“! Wer meint wirklich, er sei allein auf der Welt, vielleicht abgesehen von Donald Trump? Und was meint eine Frau, die an Gott glaubt, mit „geschichtlichen Umständen“? Schicksal?
Floskeln waren allerdings Luther nicht fremd: „Und es begab sich, da Jesus alle diese Reden vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern.“ Da schwätzt er wie ein Radio-Moderator, der die Überleitung sucht vom Liebeslied zur Trauer-Ballade.
Johann-Sebastian Bach lässt in seiner Matthäus-Passion die Geschwätzigkeit nicht zu: „Und es begab sich“ , streicht er einfach.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Februar 2016
Metaphern-Suppenköche im Einsatz: Das zerschnittene Tischtuch (Friedhof der Wörter)
Was wären die anonymen Streifbild-Autoren der Süddeutschen ohne geglückte und vor allem missglückte Sprachbilder. In der heutigen Folge zerschneiden sie das Tischtuch.
Winfried Kretschmann, Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, will im Wahlkampf keine Tischtücher zerreißen (statt zerschneiden!) und bekommt vom Streiflicht-Autor sogar einen Vorschlag für seinen Wahlkampf:
Papierservietten zerreißen, um aus den Fetzen buntes Konfetti für die Wahlparty zu gewinnen.
Und wie heißt es nun: Das Tischtuch zerschneiden oder zerreißen?
Bei Google kommt „zerreißen“ auf eine dreimal höhere Trefferquote als die sprichwörtliche Fassung „zerschneiden“. Bei „zerreißen“ bietet Google auch gleich werbend die passende Tischdecke dazu: Weinrot mit Punkten aus Wachstuch.
Da das Zerreißen eines Tischtuchs recht gewalttätig ist, endet der Streiflicht-Autor lukullisch und findet in seinem Fundus den „Esstisch der internationalen Metaphern-Suppenköche“. Bitte nur nicht versalzen!
**
Quelle: Süddeutsche Zeitung 11. Februar 2016
Gemeinplätze fürs Volk: Was Roger Willemsen über Merkels „Wir schaffen das“ dachte (Friedhof der Wörter)
Wir schaffen das!
dürfte der meist wiederholte Satz der vergangenen Wochen sein: Drei kurze Wörter, vier Silben. So sind die großen Sätze der Weltgeschichte gebaut, ob man sie mag oder verabscheut.
Yes we can!
lauteten die drei Wörter, die Barack Obama ins Weiße Haus beförderten. Man könnte Obamas Wahlslogan als Vorbild von Merkels „Wir schaffen das“ betrachten. Aber noch einer nutzte den Slogan – vor Obama, vor Merkel.
Am 1. Juli 1990 gab’s die D-Mark für alle, trat die deutsch-deutsche Währungsunion in Kraft – und Helmut Kohl sprach im Fernsehen:
Wir werden es schaffen.
Das „werden“ macht den Satz allerdings kraftloser: Ein Wort zu viel – und schon merken sich die Leute stattdessen „die blühenden Landschaften“, die zudem die Phantasie fliegen lassen.
Obama und Merkel – oder wohl ihre Redenschreiber – machten es besser. Merkel hatte bei der ersten großen Krise, der Finanz- und Griechenland-Krise, schon einmal geübt: „Gemeinsam können wir es schaffen“, sagte Merkel in ihrer Neujahrs-Ansprache; mit der Analyse dieser Rede eröffnet Roger Willemsen, der am Sonntag verstorbene Schriftsteller, sein Buch „Hohes Haus“. Ein Jahr lang saß Willemsen im Bundestag, hörte zu und schrieb auf, was er sah und dachte.
Willemsen geht den Wörtern auf den Grund:
Was ist dieses »es«? Wo ist der Schauplatz für dieses »gemeinsam«? Und wie belastbar ist diese Rhetorik?
Die Wörter sind leer: Was bedeutet „es“? Was bedeutet „das“ in „Wir schaffen das“? Doch die Leere ist gewollt: Unter „es“ und „das“ kann sich jeder seine eigenen Gedanken machen und glaubt, es seien die Gedanken der Kanzlerin. Das ging in der Finanzkrise gut, in der aktuellen Flüchtlings-Krise geht es nicht mehr gut: Das Volk macht sich seine eigenen Gedanken über das „das“.
„Wer an der Macht nicht auffällt und sich mit dem Volk auf Gemeinplätzen verabredet, kann immer weiter herrschen“, schrieb Roger Willemsen – und ein paar Zeilen weiter: „Sie weiß, was wir hören wollen.“ Eben kurze Sätze, drei Wörter, vier Silben.
**
Roger Willemsen starb, 60 Jahre alt, am Sonntag, 7. Februar 2016
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 15. Februar 2016
Ein neues Verb: „lügenpressen“
Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung in Koblenz, prägt ein neues Verb: „lügenpressen“ – also ich lügenpresse dich, du lügenpresst mich usw.. So geschehen in einem Tweet, nachdem Frauke Petry, die AfD-Vorsitzende, während der Autorisierung den Schießbefehl gegen Flüchtlinge nicht mehr erwähnte. Lindner machte dies öffentlich und twittert nun:
Für die AfD ist es also „übelste Verleumdung“, wenn transparent wird, wie Frauke Petry lügenpressen wollte…
„Überartzung“ – was ist das? Oder das „Zepfilebuch“? (Friedhof der Wörter)
Beenden wir unsere Wort-des-Jahres-Rundreise durch das deutschsprachige Europa in Liechtenstein. Die Erbmonarchie, idyllisch in den Alpen gelegen, spricht deutsch – und Dialekt.
Allein in Liechtenstein wählt eine Jury das Dialekt-Wort des Jahres und beweist: Dialekte leben! „Zepfilebuch“ ist das Wort des Jahres, das in einem Stammtafel-Buch des kleinen Liechtensteiner Orts Schaan vorkommt.
Es gibt dort tiefe Täler und gab offenbar auch Abgründe in der Einstellung der Bürger: So sind nur Männer aufgeführt im Buch der Abstammungen – „und Frauen bestenfalls in der Form von Ehegattinnen“, wie die Jury schreibt.
Das in diesem Herbst erschienene neue ,Stammbuch der Bürgerinnen und Bürger von Schaan‘ räumt nun endlich auch den Schaanerinnen den Platz ein, der ihnen gebührt. Das Zepfilebuch hat sich damit emanzipiert und muss sich einen neuen Übernamen suchen.
Wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz prägt die Politik das Wort des Jahres. Offenbar haben sich die 36.000 Liechtensteiner über eine Reform der Krankenversicherung die Köpfe heiß geredet.
„Überartztung“ ist das Wort des Jahres, von einem Richter populär gemacht, der einen Arzt zu einer Million Franken verurteilte – weil er seine Patienten zu oft untersucht hatte. „Überartztung“ sollten wir uns in Deutschland merken!
Auch das Unwort des Jahres entstammt dieser Debatte: „Entsolidarisierung“. Die Reform-Gegner machten mit dem Wort mobil. Die Jury:
Das Argument der ,Entsolidarisierung‘ drang beim Stimmvolk aber nicht durch – weil die Regierung glaubhaft darlegen konnte, dass im Falle einer Zustimmung zur Revision die Prämien für alle stabiler bleiben würden und die schwarzen Schafe unter der Ärzteschaft besser zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
Vielleicht sollten sich die Bürger in deutschen Städten auch für ein eigenes Wort des Jahres entscheiden: Die thüringische Stadt Mühlhausen hat fast so viele Einwohner wie Liechtenstein; Eisenach sogar ein paar hundert mehr.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 8. Februar 2016
Sprachbild kaputt: Für Franz Josef Wagner spielen elf Handballer um die EM
Liebe Handball-Nationalelf,
titelt Franz Josef Wagner heute seine Bild-Kolumne. Das ist das Kreuz mit den Sprachbildern: Die Nationalelf wurde zum Synonym für die Fußball-Mannschaft, als elf Spieler zur Mannschaft gehörten und eine Auswechslung nicht möglich war – selbst bei Verletzungen nicht.
Als Auswechslungen möglich wurden, war das Sprachbild schon zerkratzt: Dreizehn Spieler und mehr bilden die Fußball-Mannschaft.
Zum Handball passte das Bild nur beim Feldhandball, der in den fünfziger Jahren populär war. In der DDR wurden die Feldhandballer sogar einmal die Mannschaft (nicht die Elf) des Jahres, als sie die westdeutsche geschlagen hatte. Bei der aktuellen Europameisterschaft stehen nur sieben Spieler gleichzeitig auf dem Hallenboden, wenigstens zu Beginn der Partie.
Nationalelf beim Handball 2016? Liest denn in der großen Bild-Redaktion keiner die Wagner-Kolumne? Oder gibt er sie einfach zu spät ab?
**
Die Version zum „Friedhof der Wörter“ in der Thüringer Allgemeine, 1. Februar 2016:
Sprachbilder: Sieben oder elf?
Wer erinnert sich noch? 1959 trafen im Leipziger Zentralstadion die Auswahl der DDR und der Bundesrepublik aufeinander – vor 93.000 Zuschauern! Die Fußballer?
Immerhin war die Bundesrepublik ein Jahr zuvor bei der Weltmeisterschaft in Schweden Vierter geworden und fünf Jahre zuvor in Bern sogar Weltmeister. Aber nicht die westdeutschen Fußballer zogen die Massen ins Stadion, sondern die Feldhandballer.
Die DDR siegte und wurde zur Mannschaft des Jahres gewählt. Feldhandball war in den fünfziger und sechziger Jahre eine der populärsten Sportarten in beiden Teilen Deutschlands. In den dreißiger Jahren war Feldhandball sogar eine olympische Disziplin. Elf Spieler liefen auf ein Feld, so groß wie das der Fußballer.
„Liebe Handball-Nationalelf“, überschrieb am Freitag Franz Josef Wagner seine Bildzeitungs-Kolumne, die in Briefform geschrieben ist – so wie bisweilen auch der „Felix“ auf unserer Thüringen-Seite die Kolumne beginnt. Doch Wagner redete keine Feldhandball-Mannschaft am, sondern die Hallenhandballer, die in Polen überraschend erfolgreich um die Europameisterschaft spielen.
Doch das Spielfeld in der Halle ist kleiner als ein Fußballplatz, so dass nur sieben Spieler auflaufen. „Handball-National-Elf“ gibt es nicht mehr.
Das ist das Kreuz mit den Sprachbildern: Die Nationalelf wurde zum Synonym, als elf Spieler zu einer Mannschaft gehörten, ob Fußball oder Handball, und eine Auswechslung selbst bei Verletzungen nicht möglich war.
Als die Trainer auswechseln durften, war das Sprachbild schon zerkratzt: Dreizehn Spieler und mehr bilden heute eine Fußball-Mannschaft. Aber die „Elf“ hält sich als Begriff, hinter dem kein Bild mehr aufblitzt.
Dabei verlieren Sprachbilder, die zu reinen Synonymen degradiert werden, ihren Wert, wenn sie kein Bild mehr im Kopf aufleuchten lassen. Ein gutes Sprachbild ist wie die Melodie im Kino: Man hört sie später, und im Kopf läuft der Film ab.
„Spiel mir das Lied vom Tode“: Ich muss nur die Mundharmonika erwähnen und schon sind die Bilder im Kopf.
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?