Alle Artikel der Rubrik "Friedhof der Wörter"

Ein „dicker Fehler“ in der Zeitung oder: Müssen Journalisten die deutsche Sprache beherrschen? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 10. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.
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„Wie nachlässig arbeiten Ihre Redakteure eigentlich?“ fragt eine Familie – ja, gleich eine komplette Familie. „Es ist für uns Leser eine Zumutung, was uns seit Jahren in der Zeitung sprachlich geboten wird.  Gilt für Journalisten nicht, dass man diesen Beruf nur ergreifen sollte, wenn man die deutsche Sprache sehr gut beherrscht?“

Der Grund für die Generalkritik ist eine Überschrift im  Lokalteil: „Da ist Ihren Redakteuren wieder so ein ,dicker‘ Fehler passiert, dass wir uns diesmal wirklich über die Arbeitsweise beschweren wollen. Es geht um das Foto mit der Information „Email-Symposium…“. Gemeint ist aber offensichtlich ein Emaille-Symposium! Wir fragen uns, wie solche mehr als Sinn entstellenden Fehler passieren können.“

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Sie haben Recht: Es sind immer wieder Fehler in unserer Zeitung. Und es stimmt: Jeder Fehler ist ein Fehler zu viel. Gleichwohl arbeiten Redakteure, die Artikel gegenlesen, wie auch unsere Korrektoren daran, eine möglichst fehlerfreie Zeitung anzubieten.

Täglich stehen rund 35.000 Wörter auf unseren Seiten. Selbst wenn wir 35 Wörter falsch schrieben (was selten vorkommen dürfte), sind wir gerade bei einem Promille!

Kommen wir zum „dicken Fehler“: Laut Duden ist er keiner. Email, der Schmelzüberzug auf Metall, schlingert in der Geschichte unserer Sprache zwischen Email und Emaille hin und her. Im 18. Jahrhundert dominiert das sächliche Email; im 19. Jahrhundert dringt das Französische mit Gewalt in unsere Sprache, so wie heute das Englische drängt: Die weibliche Emaille setzt sich durch.

Heute finden wir „Email“ im Duden fett als Haupteintrag und „Emaille“ als mageren Nebeneintrag; in der Alltagssprache wiegt die „Emaille“ schwerer – wobei viele sich schwer tun mit der korrekten Schreibweise wie bei den meisten französischen Lehnwörter. Oder schreiben Sie auf Anhieb das französische Geldtäschchen richtig: Portemonnaie?

Allerdings bekommt das Email gerade einen starken englischen, zudem weiblichen Konkurrenten: Die E-Mail, der digitale Brief, der zwar korrekt mit Bindestrich geschrieben wird, aber ab und an schon geschrieben wird wie der Schmelzüberzug. Da kollidieren zwei Wörter – und wie stets in einer lebendigen Sprache weiß keiner, wie der Kampf ausgehen wird.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 13. Juli 2015 (geplant)

Grexit, Grimbo, Alexit – neue Wörter dank der Griechenland-Tragödie. Ein deutsches Kofferwort passte auch: Jein

Geschrieben am 4. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Wir lesen in diesen griechischen Tagen, die voller Tragödien sind, eine Reihe neuer Wörter – wie Grexit oder Grexident. Es sind Kofferwörter, also zwei verwandte Wörter, die in einen neuen Koffer gesteckt werden.

So werden immer wieder Wörter erfunden. Als die Deutschen überzeugt waren: Mit der Einführung des Euro wird alles teurer, packten sie „teuer“ und „Euro“ in einen Koffer und nannten ihn „Teuro“.

Der amerikanische Volkswirt Ebrahim Rahbari erfand vor drei Jahren den „Grexit“ aus Greece, dem englischen Wort für Griechenland, und dem Exit, dem Ausgang aus einem Haus oder einer U-Bahn-Station. Er hat – ungewöhnlich für einen Ökonomen – Lust am Wort-Erfinden gewonnen und ersann vor einigen Wochen für den aktuellen Schwebezustand den „Grimbo“.

Greece, also Griechenland, und Limbo, ein Tanz aus Trinidad, sind die Lieferanten für das neue Kofferwort. Der Limbo erfordert eine enorme Akrobatik: Bei karibischen Klängen schlängelt sich der Tänzer unter einer niedrigen Stange durch und erntet beim faszinierten Publikum reichlich Beifall.

Dass der Tanz in Trinidad eine Woche nach einem Begräbnis getanzt wird, gibt dem neuen Wort eine pikante Note – dürfte aber bei der Schöpfung keine Rolle gespielt haben.

Der „Grexident“ ist auch ein englisches Kunstwort, zusammengesetzt aus Greece und Accident, dem Wort für einen Unfall. So sah es auch lange aus: Europa stolpert in den Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone, der weniger politischem Kalkül folgt, sondern wie ein Unfall einfach so passiert.

Tsipras, der griechische Regierungschef, wird im Internet gern beim Vornamen genommen: Alexis. Beim neuesten Kofferwort musste nur der letzte Buchstabe seines Vornamens geändert werden: „Alexit“ – ein Kofferwort aus Alexis und „Exit“. Alexit steht für das Ende Tsipras, für den Rücktritt nach dem Ende aller Illusionen.

Das schönste und bekannteste deutsche Kofferwort ist viel älter als alle griechischen Tragödien, es hat nur eine Silbe und vier Buchstaben: „Jein“. Es würde auch auf Griechenland passen, auf Tsipras und seine Kofferträger.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 6. Juli 2015

 

Wen schändet ein „Kinderschänder“? Polemik gegen einen unsäglichen Begriff (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Screenshot_reinhold_gall_tweetDer Innenminister in Baden-Württemberg ist SPD-Mitglied und Anhänger der Vorratsdaten-Speicherung. Als seine Partei auf einem Konvent über die Vorratsdaten diskutierte, schrieb er einen Tweet:

Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.“ (Das Komma fehlt im Original)

Immer wieder gehe ich an einem parkenden Auto vorbei, das auf der Heckscheibe propagiert:

Todesstrafe für Kinderschänder

„Kinderschänder“ ist ein Wort, das Neonazis und die NPD gerne gebrauchen; sie fangen damit auch Bürger, die weder braun sind noch NPD-Wähler, aber Gewalt gegen Kinder verurteilen (und wer tut das nicht?). Was bedeutet aber der Begriff „Kinderschänder“?

Er erinnert an einen Begriff wie „Rassenschande“ aus dem Wörterbuch der Nationalsozialisten. Der „Rassenschänder“ wie der „Kinderschänder“ sind zwiespältige Begriffe: Beide bringen Schande über den Schänder – und über den Geschändeten. Wer ein Kind „schändet“, liefert es der Schande aus; es ist befleckt – womöglich gemeinsam mit der Familie. Neben dem Leid steht auch noch der Verlust des Ansehens, der soziale Abstieg.

Zudem suggeriert der Begriff: Das Opfer der Vergewaltigung hat sich nicht gewehrt, es vielleicht sogar provoziert, es ließ sich schänden und gehört somit nicht mehr zum ehrenwerten Teil der Gesellschaft. Das Opfer wird zum zweifachen, zum ewigen Opfer

Der Blogger Sascha Lobo meint: Wer den menschenfeindlichen Begriff „Kinderschänder“ benutzt, nimmt „ein Sitzbad im braunen Schlammwasser hinter dem rechten Rand“. Ein Innenminister, der den NPD-Begriff nutzt, sei „unwürdig in einer Demokratie“.
„Um wie Könige zu prahlen, schänden kleine Wütriche ihr armes Land“, schrieb der Dichter Hölderlin in einem Gedicht. Wir brauchen „schänden“ nicht, wir können von „vergewaltigen“ oder „misshandeln“ sprechen. „Kinderschänder“ sollten wir schnell und geräuschlos auf dem Friedhof der Wörter beerdigen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 29. Juni 2015 (geplant)

Das „Blabla“ der Politiker: Von Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

In guten Zeiten gehen die Menschen in den Supermarkt und bekommen alles, was sie brauchen. In schlechten Zeiten legen sich die Menschen einen Vorrat an: Das ist klug, sagen wir, und hören den Geschichten unserer Groß- und Urgroßeltern zu, wenn sie aus den Jahren nach dem Krieg erzählen.

Wenn Politiker von Vorrats-Daten sprechen, die sie speichern, meinen sie nichts Gutes: Sie greifen nach der Freiheit der Bürger und vermuten, dass alle irgendwann etwas Böses tun. Würden sie das Gesetz aber ein Anti-Freiheitsgesetz nennen, spürten die Bürger genau das Ungemach.

„Infrastrukturabgabe“ ist auch ein Nebelwort. Politiker nennen so die Maut, also eine Steuer, die wir – früher oder später – für die Benutzung der Straßen zahlen müssen, die schon mit unserem Geld gebaut worden sind.

Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe sind zwei Beispiele für die Flucht in politische Sprachspiele. Von dieser Flucht sprach schon Helmut Kohl, als er vor dreißig Jahren die Frankfurter Buchmesse eröffnete: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert.“ Diese Einsicht hinderte weder ihn noch seine Nachfolger, diese Spiele zu spielen.

Heiner Geißler, kein Freund Kohls, sondern nur ein Parteifreund, sprach vom „Blabla“ mancher Politiker – und schloss uns Journalisten gleich mit ein; er forderte: „Die Wahrheit muss deutlich gesagt werden.“

Nun ist das Gegenteil der politischen Wahrheit nicht die Lüge, sie ist selten. Wer lügt, den erwischen die Kollegen, richten einen Untersuchungsausschuss ein oder verlangen den Rücktritt. Das Gegenteil der politischen Wahrheit ist der Nebel, der uns an der freien Sicht auf die Wirklichkeit hindert.

Fordern wir also: Politiker, sprecht die Wahrheit! Ja, hören wir das Echo. Aber wenn es darauf ankommt, also bei Wahlen, Parteitagen und ähnlichen Wahrheits-Kongressen, gewinnt meist der, der im Nebel die beste Sicht hat – und Helmut Kohl folgt: „Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“

Im vergangenen Bundes-Wahlkampf war es Peer Steinbrück, der den Nebel mied, klare Positionen bezog – aber sprach, als fühle er sich im Kühlschrank wohl. Der Dresdner Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat während des vergangenen Bundes-Wahlkampfs in einer detaillierten Analyse die Reden Merkels und Steinbrücks verglichen: Steinbrück verzichtete auf den Nebel, aber auch auf Emotionen; Merkel nutzte die Emotionen und den Nebel.

Wir schimpfen also auf den Nebel und lassen uns doch gern von ihm einlullen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Juni 2015; erweiterte Fassung

 

Gender, die Kirche und die Sprache: Das Mikrofon ist eine Frau (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 5. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Evangelische Kirchentage sind Seismografen der Gesellschaft: Wo müssen wir bald ein Erdbeben erwarten? Wo bebt es schon – aber wir haben es noch nicht gespürt?

Vor allem das Beben zwischen Mann und Frau ist meist auf Kirchentagen zu fühlen. „Wer hat Angst vor Gender?“ lautete denn auch der Titel einer Debatte, an der laut Programm ein „Frl.“ teilnahm und eine Professorin für „Gendersensible Soziale Arbeit“.

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags – so die gendergerechte Sprache – war die Frage eine rhetorische. Für die Mehrzahl unserer Leser sei erklärt:

Gender, ein englisches Wort, meint, stark vereinfacht: Ist die soziale Gleichheit von Frau und Mann überall verwirklicht? Mit Energie stürzt sich die Genderforschung himmlisch gern auf die Sprache und vermutet den Mann als Urheber von Wörtern, die für die Ungleichheit verantwortlich ist.

Also – warum sind Gott und Mensch männlich, aber Ziege und Ameise weiblich und Kind, Krokodil und Mikrofon eine Sache? Der Kirchentag machte Schluss mit der Ungleichheit und  baute auch sprachlich Eine Welt.

Im Programm ist auf Seite 12 zu lesen:

„Die Teilnehmenden des Kirchentages sind eingeladen, mitzureden und ihre Meinung deutlich zu machen: über Anwältinnen und Anwälte des Publikums und über Saalmikrofoninnen und -mikrofone.“

Nun kann sich das Mikrofon nicht dagegen wehren, weiblich zu werden. Aber der gendersensible Luther, der Meister der Sprache,  würde wettern, so wie er über Lehrer und Mönche wetterte, die die Sprache verdorben hatten: „Die Leute wurden zu Bestien und haben beinahe die natürliche Vernunft verloren.“

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Thüringer Allgemeine, 8. Juni 2015, Friedhof der Wörter

Wer ist ein Rabauke? (Ein „Friedhof der Wörter“ zur Freiheit von Meinung und Presse)

Geschrieben am 1. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Was Franz Beckenbauer in Deutschland ist, war der Trainer Luis Aragones in Spanien: Eine Fußball-Legende, vier Mal Meister, vier Mal Pokalsieger – und mit der Nationalelf Europameister durch einen Final-Sieg gegen Deutschland.

Als er vor gut einem Jahr starb, schrieb die Deutsche-Presseagentur: „Für die einen galt er als Rabauke, für die anderen als Kauz – geliebt haben sie ihn fast alle in Spanien“.

Als der Gewerkschafts-Führer Weselsky vor Pfingsten zum neunten Streik aufrief, nannte ihn die Börsen-Zeitung einen Rabauken. Eine Beleidigung?

Die Lexika sehen in einem Rabauken einen Rüpel, die Wörterbücher verweisen auf den Ursprung: „Rabau“, der Schurke, im Niederdeutschen; „Ribaud“, der Lotterbube, im Französischen und „Ribaldus“, der Landstreicher, im Lateinischen. Rabauke – eine Beleidigung?

Nein, ein Wort aus der Umgangssprache, nicht gerade zärtlich gemeint, aber weit entfernt von einer Beleidigung. Der CDU-Fraktions-Chef in Mecklenburg sieht das ähnlich: Kein Begriff mit beleidigendem Inhalt.

Die Politiker in Mecklenburg haben einen Grund, sich über Rabauken Gedanken zu machen: Sie schütteln, durch alle Fraktionen, den Kopf über eine Amtsrichterin in Pasewalk, die einen Reporter des Nordkurier zu 1000 Euro Geldstrafe verurteilt hat – weil er einen Jäger einen Rabauken nannte.

Der Jäger hatte ein totes Reh an die Anhänger-Kupplung seines Wagens gehängt und über die Bundesstraße gezogen. Als das Foto im Internet auftauchte, empörten sich viele.

Der Jäger empörte sich, als Rabauke tituliert zu werden, erstattete Anzeige und bekam Recht: Ein Kind könne man noch als Rabauke betiteln, urteilte die Richterin, ein Erwachsener müsse sich eine solche pfeffrige und scharfe Formulierung nicht gefallen lassen. Das ließ sich der Chefredakteur des Nordkurier nicht gefallen:

Die Meinungs- und Pressefreiheit „schert offenbar weder einen sich im Gerichtssaal mit Schaum vor dem Mund über die Presse ereifernden Staatsanwalt noch seine Erfüllungsgehilfin am Richtertisch“.

Jetzt empörte sich der Staatsanwalt – und erstattete Anzeige. Wer ist nun der Rabauke?

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 1. Juni 2015

 

 

„Mein lieber Schwan!“ – Warum Lorenz Maroldt zu Recht einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise gewinnt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Die Poesie aus den Schreibstuben der Politik ist ein beliebtes Thema auf dem Friedhof der Wörter. Wie vernebeln wir die Wahrheit! So dürfte der Auftrag in den Kommunikations-Abteilungen lauten – in denen alles geschieht außer Kommunikation

Die einfallsreichsten Nebel-Poeten sitzen in Berlin. Lorenz Maroldt, der Chefredakteur des Tagesspiegel, hat gerade einen der Lokaljournalisten-Preise bekommen für seinen täglichen Newsletter „Checkpoint“ – das ist ein Nachrichten-Brief -, in dem er Tag für Tag seine Funde präsentiert wie zum Beispiel einen Text, der für die Baudirektorin Lüscher geschrieben wurde.

Der Umbau der Staatsoper wird teurer und teurer und immer noch teurer. Und wie begründet die Baudirektorin die Geldvernichtung?

„Die Optimierungsvorschläge und Einsparungsvorschläge wurden in der Regel nach ihrer Machtbarkeit und Sinnhaftigkeit unter Wahrung der Sanierungsziele auf breiter Ebene unter Einbeziehung des Bedarfsträgers und des Nutzers nach sorgfältiger Prüfung entschieden.“

„Machtbarkeit“ ist kein Verschreiber in dieser Kolumne, sondern einer im Original, sozusagen ein Freudscher Verschreiber.

Was ist typisch für die Verwaltungs-Poesie, mit dem gut bezahlte Beamte die Bürger quälen? Ein 31-Wörter-Satz mit 12 Substantiven und einem Verb und einigen Verben, die in Hauptwörter verwandelt wurden, zum Beispiel: vorschlagen in „Vorschläge“, einbeziehen in „Einbeziehung“ oder prüfen in „Prüfung“.

Der Sinn der Nebelwörter? Den gibt es nicht. Dafür sucht die Verzweiflung einen Satz, der selbst nach dreimaligem Lesen unverständlich bleibt. Man kann ihn noch öfter lesen: Er wabert und wabert und kann vom Klügsten nicht enträtselt werden.

Lorenz Maroldt, der kluge Redakteur, kommentiert mit einem 6-Wörter-Satz aus Wagners Lohengrin: „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!” Den Satz muss man auch nicht verstehen, aber er ist immerhin kurz und schön.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Mai 2015

Der Platz im Leben – Ein „Friedhof der Wörter“ über Kreative und Sitzenbleiber

Geschrieben am 17. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

In der DDR wurden Sie platziert, in den USA werden Sie immer noch platziert ebenso wie bei uns in teuren, beliebten oder überfüllten Restaurants. Wer die DDR nicht mehr kennt, die USA und teure Restaurants noch nicht, dem sei erklärt:

Sie können sich nicht einfach an einen freien Tisch setzen, vielmehr müssen Sie warten, bis Ihnen ein Platz zugewiesen wird (oder nicht). War die Zuweisung erfolgreich, dann haben Sie Ihren Platz gefunden.

Und wie ist es mit dem Platz in Leben? Wer weist den zu? Die Berliner Bildungs-Senatorin Sandra Scheeres hat das „Sprachlerntagebuch“ erfunden, in dem Eltern zum Beispiel auf die Frage antworten: „Wie reagiert Ihr Kind auf ein Nein von Ihnen?“; oder in dem das Kind aufschreibt: „Was ich in meiner Kita überhaupt nicht mag.“

Im Vorwort zu dem Tagebuch schreibt die Senatorin an die Eltern: „Sie wollen das Beste für Ihr Kind: Es soll glücklich und erfolgreich werden und seinen Platz im Leben finden.“ Also wird in Berlin der Platz nicht vergeben, sondern wird von jedem, der glücklich werden will, im Irrgarten von Kita und Schule gefunden.

Und wenn mein Kind seinen Platz gefunden hat: Bleibt es dann ein Leben lang sitzen? Lässt es sich die Speisekarte des Lebens bringen und sucht sein Lieblingsessen aus? Und wer räumt den Tisch ab?

Der Platz im Leben – er ist nur ein Sprachbild, aber ein verräterisches: Es zeigt uns das Leben nicht als langen Lauf zu stets neuen Orten, gespeist aus Neugier und Phantasie, sondern als kurzen Lauf.

Wer sich selbst sucht und seinen Platz findet, der bleibt sitzen: Er erledigt seine Arbeit und sich selbst. Alle anderen sind „kreativ“, um ein Modewort recht zu nutzen: Am Ursprung des Worts steht das Lateinische „creare“, also erschaffen – so wie es Gott mit der Welt getan hat.

„Wie werde ich kreativ?“ Mit Seminaren dieser Art lässt sich viel Geld verdienen. Dabei ist die Antwort leicht zu geben: Genieße, unentwegt Schöpfer Deiner Welt zu sein!

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 18. Mai 2015

Wolf Schneider: Wie werde ich ein Sprach-Liebhaber? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 9. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Den schönsten Heiratsantrag der Literatur schrieb Wilhelm Busch, und Wolf Schneider, der Meister der deutschen Sprache, zitiert ihn als Vorbild in seinen Memoiren:

Mädchen, sprach er, sagt mir, ob…
Und sie lächelt: Ja, Herr Knopp.

Wie alt kann einer werden, der die deutsche Sprache liebt? 90 Jahre und noch mehr – dabei jung im Kopf und immer noch auf den Beinen, wenn auch mühsamer als zuvor. Wer eine Sprach-Kolumne schreibt wie diesen „Friedhof der Wörter“, der muss Schneider zum 90. gratulieren, wenn auch einige Tage zu spät: Aber Kolumnen haben ihren Rhythmus, und das Leben hat einen anderen.

Schneider erzählt, wie ihn nicht Deutschlehrer, sondern der sprachverliebte Vater zum Liebhaber der Sprache machte: Beim Sonntagsfrühstück, die Familie komplett beisammen! Zwei Stunden tafelte und plauderte die Familie, damit sich die Mutter das Mittagessen sparen konnte. Der Vater deklamierte Heinrich Heine, Wilhelm Busch und Christian Morgenstern:

Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt.

Brunch nennen wir das lange Frühstück heute, „bransch“ gesprochen. Schneider mag keine Anglizismen, aber er mochte das Sonntagsfrühstück, und er müsste zugeben: Bransch ist viel kürzer und schöner.

Deutschlehrer mag Schneider nicht, und so erwähnt er sie in seinen Memoiren auf 447 Seiten auch nur mit einem schönen langen Satz: „Die Deutschlehrer sollten zur Kenntnis nehmen, dass man mit völlig korrektem Deutsch einen Leser verscheuchenden, Leser ohrfeigenden Unfug treiben kann.“

Nun werde ich wieder viele böse Briefe von Deutschlehrern bekommen.

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Thüringer Allgemeine, 11. Mai 2015, „Friedhof der Wörter“

Ein Mord ist keine Hinrichtung – Der Kampf um Worte und der Terrorismus (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 30. April 2015 von Paul-Josef Raue.
„Mediendialog“ über Terrorismus und Journalismus in  München: Juri Durkot, ein Journalist aus Lemberg in der Ukraine, erzählt von Manipulationen und Verschwörungs-Theorien; von Redakteuren, die auf Todeslisten stehen; von inszenierten Video-Morden oder wirklichen; von Reportern aus dem Westen des Landes, die nicht mehr im Osten arbeiten dürfen, und lokalen Reportern im Osten, die nur schreiben können, wenn sie sich der Propaganda unterwerfen.
Und er berichtet vom Kampf um Worte:
> Das russische Staatsfernsehen spricht von der „Bürgerwehr“, die den Donbass beherrscht, das Donez-Kohlebecken im Osten.
> Deutsche Zeitungen bevorzugen „Rebellen“: Ein romantischer Begriff, der zudem besser auf einen kleinen Kreis von Kämpfern passte statt für eine gerüstete Armee.
> Andere schreiben von „Separatisten“: Ein meist positiv besetzter Begriff, den wir auch für Katalanen und Schotten nehmen.
Wechseln wir den Schauplatz:  Terroristen, beispielsweise in Arabien, kämpfen nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Wir fallen darauf  rein, wenn wir eine Mörderbande wie  „IS“ einen „Staat“ nennen, einen Mord eine „Hinrichtung“, einen Mörder einen „Henker“ und eine Serie von Morden „Kriegsverbrechen“, die vor den Internationalen Gerichtshof gehört.
Moderne Terroristen foltern und töten wie im Mittelalter, aber nutzen souverän das Internet samt sozialen Netzwerken für ihre Propaganda – und nicht selten Journalisten, die ihre Wörter übernehmen und kruden Botschaften verbreiten.
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Thüringer Allgemeine,  4. Mai 2015
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