Alle Artikel der Rubrik "H 32 Reportage"

Welche Lehre Reporter aus der TV-Serie „Weißensee“ ziehen können: Einfach erzählen!

Geschrieben am 1. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 1. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, H 32 Reportage, I. Die Meinung.

Die ARD-Serien „Weißensee“ erzählen von der DDR, dem Ende der DDR und von den ersten Wochen nach der Mauer-Öffnung. Die Kritik von Katharina Rhiel in der Süddeutschen Zeitung zeigt, worauf Reporter achten müssen:

> Zu viel ist meist zu viel des Guten. Wer alles, was passiert ist, in die Reportage zwängen will, presst die Helden der Geschichte in Schablonen. „Die Figuren werden zu Trägern historischer Botschaften“ – also: Der Reporter erhebt den Bildungs-Zeigefinger statt einfach zu erzählen.

> Katharina Rhiel verweist auf die hochgelobten und beim Publikum erfolgreichen Serien aus den USA, England oder Dänemark, an „House of Cards“ oder „Borgen“. Sie nennt diese Serien „deshalb so wunderbar, weil sie sich auf ihre Geschichten verlassen. Weil kein großes Erzählkino entsteht, wenn man nebenbei Volkshochschule sein will“.

Das gilt auch für die schreibenden Reporter: Lasst Eure Botschaft zu Hause! Erzählt so, dass sich der Leser sein eigenes Urteil bilden kann!

Missionare im Journalismus sollten Kommentare schreiben statt Reportagen.

 

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Quelle: SZ 29.9.15 „Deutsches Neuland“

Vorbildlich: Die Middelhoff-Buddenbrooks-Reportage der SZ

Geschrieben am 9. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Zwei Reporter haben Thomas Manns Bürger-Roman „Buddenbrooks“ gelesen und das Schicksal der Lübecker Familie mit der von Thomas Middelhoff verglichen: Entstanden ist ein großes Feature,  eine Mischung aus Essay, Porträt und Analyse, eine prächtiges Lese-Stück über drei große Zeitungsseiten. Die Süddeutsche mit ihrer neuen Wochenend-Ausgabe zeigt, was Zeitung erschaffen kann, was eine gute Redaktion leisten kann, wenn sie den Mut hat, über eine Zeitungsseite hinauszudenken. Mit der Wochenend-Ausgabe ist das Gefäß dafür geschaffen, jetzt kommen die edlen Stoffe hinein.

„Warum ist Middelhoff so geworden? Was trieb ihn an? Warum handelte er so widersprüchlich? Warum erscheint sein glanzvolles Leben im Nachhinein als eine einzige Unstimmigkeit?“, fragen Uwe Ritter und Ulrich Schäfer in der SZ-Wochenendausgabe. „Mein Haus, meine Yacht, meine Familien“ ist „eine Geschichte wie ein Roman, ein Verfall wie bei den Buddenbrooks“. Nur wofür die Buddenbrooks vier Generationen brauchten, das schafft Middelhoff in nicht einmal einem Leben.

Lesen!

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SZ 8. August 2015

Vom Leben und Leiden in einer DDR-Redaktion: Eine Redakteurin erinnert sich (25 Jahre Thüringer Allgemeine)

Geschrieben am 14. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Am 15. Januar 1990 erschien die erste unabhängige Tageszeitung in der DDR: Die Redaktion der Bezirkszeitung Das Volk in Erfurt warf die SED raus, ließ die Freiheit rein und gab der unabhängigen Zeitung einen neuen Titel – Thüringer Allgemeine. Zum Jubiläum lud die TA zu einem ganztägigen Symposium: Zu Beginn erzählten vier Redakteure über die Unfreiheit vor der Revolution, von den Revolutionstagen und den Wochen danach.

Angelika Reiser-Fischer ist heute Redakteurin der Lokalausgabe „Erfurt Land“; sie erzählte (leicht gekürzt):

Am Morgen des 13. Januar 1990 fand in der Kantine der Druckerei Fortschritt Erfurt jene denkwürdige Versammlung statt, bei der sich die Redaktion der Zeitung Das Volk für parteiunabhängig erklärte. Hitzige Diskussionen hatten in den Wochen zuvor in der Redaktion stattgefunden.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich an jenem Morgen in das Zeitungshaus unterwegs war. Im Trabant, ohne Winterreifen, über von Reif glitzernden Straßen.
Ich war pünktlich. Und ich hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde. Ich wusste aber: So ging es nicht weiter. Man überlegt in solchen Umbrüchen wohl immer: Wann hat es angefangen? Was waren die Zeichen? Was haben sie mit mir gemacht?

Ja, ich war in der SED. Ohne Zwang bin ich als Volontärin eingetreten. Ich wollte Journalistin werden – weil ich neugierig war, weil mich das Bunte und Spannende interessierte; weil ich meinte, als Journalistin der Wahrheit zumindest nahe zu kommen; weil man da die Dinge selbst erleben, hinterfragen, begutachten, auch beurteilen könnte. Und das wollte ich bei einer großen Zeitung lernen. Die allerdings waren Mitte der 1970er Jahre alle in der Hand der SED. Meine Vorstellungen waren ziemlich naiv. Zunächst beim Journalistik-Studium in Leipzig: Schockiert erlebte ich ein Partei-Verfahren gegen einen Wissenschaftler. Er hatte aus einem Urlaub in Ungarn ein Buch mit in die DDR gebracht: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, von Wolfgang Leonhard. Ich konnte nicht fassen, was sich vor meinen Augen abspielte: demütigende Verhöre vor den Studenten im 2. Studienjahr, das Durchdrücken einer Abstimmung, Drohungen an uns junge Leute und anschließender Rauswurf des Wissenschaftlers.

Aber ich wollte Journalistin werden. Wenn ich nur erst in der Redaktion wäre, dachte ich, da würde bestimmt alles besser.

1978 begann ich in der Redaktion Das Volk, und lernte die Spielregeln, hatte bald die Schere im Kopf, fragte Dinge erst gar nicht, überhörte Bemerkungen.
Meine Gesprächspartner wussten meist auch selbst, dass ich manches gar nicht schreiben würde: fehlendes Gemüse, verbotene Bücher, nicht genehmigte Westreisen. In der sozialistischen Presse hatte so etwas nichts zu suchen. Es waren peinliche Momente. In der Redaktion drechselte ich an meinen Sätzen. Und glaube noch immer, dass jeder mitreden durfte, auch wenn es bald Ansagen gab, dass manche Wörter oder Formulierungen nicht verwendet werden durften; „Umgestaltung“ war ab Mitte der 1980er Jahre so ein verbotenes Wort.

Wenn manche heute meinen, sie hätten Widerstand geleistet – ich nicht. Um anzuecken, war dies auch gar nötig. Eines Tages kam ein Leserbrief in die Redaktion über eine rollende Fleischerei, in der die Leute Schnitzel und Wurst kaufen konnten. Plötzlich blieb es weg. Warum?, wollte jemand wissen. Ich ging der Sache nach, fragte, und es hieß, da sei etwas kaputt, das Auto sei zur Reparatur, es fehle ein Ersatzteil. Das schrieb ich auf. Ich hielt das für einen völlig normalen journalistischen Vorgang. Der Beitrag wurde aus der Zeitung kurz vor dem Andruck entfernt. Ich bekam Ärger und eine Verwarnung.

Im Sommer 1983 erschien ein Artikel aus der Feder meines Kollegen Heinz aus dem Kulturressort. Es ging, eigentlich völlig harmlos, um ein Erfurter Ehepaar, das als Dauercamper am Stausee Hohenfelden lebte. Was weder in dem Artikel stand noch dem Autor bekannt war: das Ehepaar hatte einen Ausreiseantrag gestellt.Dem Kollegen wurde unterstellt, bewusst dem Klassenfeind Raum in der Parteizeitung gegeben zu haben. Zunächst wurden alle Redakteure angewiesen, niemanden in der Zeitung mit Namen zu nennen oder im Foto zu zeigen, von dem nicht klar war, dass er keinen Ausreiseantrag gestellt hatte. Ein Akt des Misstrauens gegen jedermann. Und für eine Tageszeitung ein unsägliches Verfahren.

Gegen Heinz wurde nun ein Parteiverfahren angestrengt. Artikel von ihm durften nicht mehr erscheinen. Wie sollte ich mich verhalten? Diskussionen unter den Kollegen waren schwierig. Mit wem konnte man offen reden? Wie würden sich die anderen in einer Abstimmung verhalten? Und wenn sie einer Bestrafung zustimmen würden, dann aus Überzeugung – oder um die eigene Haut zu retten? Angst und Zweifel bestimmten die Tage in der Redaktion. Die Parteileitung ließ keinen Zweifel: Wer dem Rauswurf von Heinz widerspricht, fliegt auch. Das Urteil gegen ihn stand eh fest. Klar war: Hier sollte ein Exempel statuiert werden.

Die außerordentliche Parteiversammlung im September 1983 war eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieser Zeitung. Mir völlig unbekannte Leute saßen in der Versammlung und zitierten plötzlich aus einem Brief, den Heinz an seine Schwester in den Westen geschrieben haben sollte. Ich war wie versteinert. Wie kamen sie überhaupt zu dieser Post? Eine einzige Kollegin hob nicht die Hand, als es um den Rauswurf von Heinz ging. Ich war das nicht, auch ich hob die Hand. Und auch diese Kollegin soll im Nachhinein ihre Gegenstimme, ihren Widerstand zurück genommen haben. Heinz musste die Redaktion danach sofort verlassen.

Es war nur ein paar Monate später. Eines Abends klingelte es an meiner Wohnungstür. Davor stand der stellvertretende Chefredakteur Heiner Oette. „Bis du allein in der Wohnung?“, fragte er mich. Ich nickte, bat ihn herein. Ich war in diesen Tagen allein in der Lokalredaktion gewesen und hatte über einen neuen Kosmetiksalon berichtet. Eine schöne lokale Geschichte, dachte ich, die ich sofort mit einem Foto einrückte. Was mir der Vize-Chef an jenem Abend mitzuteilen hatte: Auch jene Kosmetikerin hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Das hatte ich nicht gewusst, nicht vermutet und – nicht prüfen lassen. Ich wusste, was mir bevorstehen würde.

Als ich am nächsten Morgen die Redaktion betrat, kam ich nicht mal bis zu meinem Schreibtisch. Ich wurde auf der Treppe abgefangen und musste mit zur SED-Kreisleitung. Dort saß ich dann stundenlang auf dem Gang, wurde immer wieder verhört und befragt und zu Stellungnahmen aufgefordert: Warum habe ich diesen Beitrag geschrieben? Wer hat gesagt, dass ich diese Frau interviewen und fotografieren sollte? Wer wusste, dass ich darüber schreiben würde? Wer hat den Artikel vorher gelesen? Nach zwei Tagen durfte ich wieder in die Redaktion. Aber: Auch ich bekam ein Verfahren. Auch gegen mich waren sich alle einig. Dabei: Ich war kein Widerstandskämpfer. Es war einfach eine Panne, die offenbar auf einen schwachen Klassenstandpunkt schließen ließ.Ich kam mit einer Parteistrafe davon. Es wurde mir wohl zugute gehalten, dass zufälligerweise niemand im Umkreis dieser Frau von ihrem Ausreiseantrag wusste.

Am 23. Oktober 1989 wurde in der Redaktionskonferenz angekündigt, dass nun nach Leipzig, Dresden und anderen Orten auch in Erfurt demonstriert würde. Was macht die Redaktion? Schweigen am Tisch. „Ich gehe da hin“, habe ich heraus geplatzt. Das wollte ich sehen, hören. Und davon wollte ich etwas für die Zeitung schreiben, zusammen mit meiner Kollegin Esther Goldberg. Wir waren uns einig. Ich fuhr zunächst nach Hause (Telefon hatte ich nicht). Dort saß mein neunjähriger Sohn über den Hausaufgaben. Ich erklärte ihm, dass es heute später werden würde. Für den Fall, dass ich bis 21 Uhr nicht zu Hause wäre, sollte er zu seiner Oma gehen. Falls mir etwas zustoßen würde, ich vielleicht verhaftet oder verletzt wäre, wollte ich verhindern, dass er – allein zu Hause – ahnungslos die Tür aufmachte. Womöglich dem Jugendamt.

Nach den Friedensgebeten in den Kirchen der Stadt strömten die Massen zum Domplatz. Dort verabredete man sich für Samstag zum „Dialog“ in der Thüringenhalle. Anschließend führte der Zug durch die Innenstadt von Erfurt. Auch vor das Zeitungshochhaus. Das lag im Dunkeln. Alle Lichter waren gelöscht. Aufgeregte, hitzige junge Leute stürmten die Treppe hoch zur Eingangstür. Vertreter vom „Neuen Forum“ und den Kirchen griffen ein, beruhigten. „Schreibt die Wahrheit“, riefen die Demonstranten immer wieder. Das wollte ich gern tun. Als Esther und ich zur Redaktion kamen, riefen wir glücklich und aufgekratzt: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind vom Volk“ – beides stimmte ja. Uns wurde ein Platz auf Seite 2 zugewiesen. Nicht sehr groß, aber immerhin. Wir wollten nun schreiben, was wirklich geschehen war. Und lieferten unser Manuskript ab. Warteten dann, wie das Urteil des Chefredakteurs ausfiel. Wir warteten. Und warteten. Irgendwann kam jemand an uns vorbei: Geht heim, sagte er, und dass Werner Hermann, der damalige Chefredakteur, seit Stunden mit der SED-Bezirksleitung telefoniere. Ausgang: unklar.

Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, die Zeitung in der Hand zu halten. Ich schlug auf, Seite 2? Wo war unser Bericht? War er unverändert?
Er war – gar nicht. Er war nicht gedruckt worden. Dafür erschien an diesem Platz, der unserer sein sollte, ein Pamphlet mit der Überschrift: Offizielle Mitteilung. Da war die Rede von einer „propagierten Aktivität“, von „Losungen mit demagogischem Inhalt“, von einer „nicht genehmigten Demonstration“. Ich war fassungslos, wütend. Wollte den Hergang erfahren. Der Chefredakteur erklärte zerknirscht, dass die Überschrift „Offizielle Mitteilung“ das Äußerste war, wodurch sich die Redaktion von dem Text distanzieren konnte. Auch unter Lesern brach ein Sturm der Entrüstung los.

Zwei Tage später fand in der Thüringenhalle der auf dem Domplatz verabredete „Dialog“ statt. Während sich vor der Halle Hunderte drängten, hieß es an den Türen: Alles besetzt. Die Hälfte der Halle war reserviert, für Funktionäre und Studenten der Parteischule. Die Debatte wurde mit Mikrofonen nach draußen übertragen.
Trotzdem drängten sich stundenlang die Leute an den Mikrofonen im Saal, verlangten von Partei und Regierung, teils aufgebracht, Rechenschaft. Und die Leute wollten auch wissen, wer für die „Offizielle Mitteilung“ in der Zeitung verantwortlich sei, sie verfasst hätte. Der stellvertretende Chefredakteur Hartmut Peters stand auf und sagte, dass die Redaktion diesen Text nicht geschrieben hatte und nur unter Zwang den Text eingerückt hätte. Damit war dann aber auch sein Abgang besiegelt.

In den folgenden Tagen und Wochen brach in der Redaktion immer heftiger eine Debatte los, ob und wie der Schritt zur Unabhängigkeit gegangen werde sollte. Etwa ein Viertel der Kollegen sagten auch klar, dass sie diesen nicht mitgehen wollten und in solch einem Fall die Redaktion verlassen würden. Was dann auch geschah.

An jenem 13. Januar wurde der Schritt vollzogen. Mit allen Unwägbarkeiten. Unser Kapital waren allein die Leser der Zeitung und ihr Vertrauen und unsere Verwurzelung in Thüringen. Die Zeitung erhielt einen neuen Namen Thüringer Allgemeine. Ich habe in den darauf folgenden Monaten und Jahren endlich über vieles schreiben können, wovon ich zuvor nur hätte träumen können: Über die ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990, die Öffnung des Rennsteiges nach Bayern, die Einführung der D-Mark, die Wiedergründung des Landes Thüringen und den ersten Thüringer Landtag und vieles mehr.

Es waren für mich gute Jahre.

Thüringer Allgemeine, 16. Januar 2014 (gekürzte Fassung in der Extra-Ausgabe).
Weitere Reden und Debatten aus dem Symposium folgen in diesem Blog.

Die „Zeit“ versucht sich am Lokalen und lernt Demut vor dem Leser

Geschrieben am 26. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Was passiert, wenn eine Zeit-Redakteurin plötzlich eine Lokalausgabe macht? Sie ist verwirrt, verwundert und stellt fest:

Man merkt erst einmal, wie stark man wirklich gelesen wird. Einmal haben wir zum Beispiel über den überhitzten Immobilienmarkt geschrieben. Und auf einmal hing der Artikel in Eimsbüttel an den Laternenmasten. Selbst beim geschliffensten politischen Kommentar zur internationalen Großwetterlage passiert das nicht.

So staunt Zeit-Hamburg-Chefin Charlotte Parnack in einem Interview mit Alexander Becker bei meedia.de (vom 19. November 2014). Der Zeit-Redakteurin fällt auf, was Lokalredakteure längst wissen: „Im Lokalen ist vieles extremer. Die Reaktionen im Positiven, aber auch im Negativen sind stärker. Bei den Lesern geht es immer gleich um alles. Das lehrt einen als Journalisten Demut. Es gibt keine Kleinigkeiten mehr. Das verändert alles.“

So ganz ist der typische Hochmut einer Zeit-Redakteurin aber noch nicht verflogen: „Wir glauben: Der Leser will erst einmal über den Krieg in Syrien lesen, nicht über die Busbeschleunigung vor seiner Haustür.“

Der Blick von außen auf das Lokale lässt auch Defizite erkennen. Beckers Frage „Fehlt grundsätzlich der Spieltrieb im Lokaljournalismus?“ bejaht Parnack zu Recht: Leser wollen Neues, das so sein soll wie das Alte. Die typische Zeit-Lokalgeschichte muss, so Parnack, eine Lagerfeuergeschichte sein, über das Kleine im Großen. „Also eine Geschichte, über die ich abends am Abendbrottisch immer noch sprechen will.“

PS. Die Konkurrenz vom Hamburger Abendblatt hat schon zweimal den Deutschen Lokaljournalistenpreis gewonnen und ähnlich wichtige Preise. So schlecht steht es um Hamburgs Lokales also nicht.

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Mail vom Journalisten und Juristen Daniel Grosse

Wenn lokale Geschichten bei Spiegel, stern und Co. explodieren

Es sind lokale Geschichten, die dann irgendwann explodieren. Überregional in einem der Medien wie Spiegel, stern oder Süddeutsche Zeitung. Dort sind die Explosionen zu hören. Mit den Augen. Es sind diese Geschichten hinter den Geschichten aus der Provinz, dem Lokalen. Einst immer wieder aufgegriffen von Reportern vor Ort, begleiten diese Geschichten ihre Leser. Und dann, wenn die Nachrichtenkriterien endlich übererfüllt sind, ziehen die Überregionalen nach. Genauso könnte es auch der Geschichte um den seit rund 20 Jahre währenden Verfall des Ortsmittelpunktes Marbach ergehen. Misswirtschaft, Familienschicksale und dann der Brand haben dort aus einer einst denkmalgeschützten Fachwerk-Villa mit imposantem Gelände einen öden Ort gemacht.

Ein verkohltes Dachstuhl-Gerippe überragt die vom stundenlangen Feuer geschundene Fassade, zerborstene Fensterscheiben erinnern an ein nächtliches Inferno, verkohlte Vorhangreste flattern hinter rußgeschwärzten Fensterrahmen. Beirut, Libanon, sind Worte, die Passanten sagen, wenn sie heute an der Bauruine in der Brunnenstraße vorbeigehen. Tatsächlich wie im Krieg. So sieht es dort aus. In dem ansonsten sehr ansehnlichen, gemütlichen Ortsteil Marbach am Rande der Uni-Stadt Marburg.

Gebrannt hat es am 15. August 2014. In der Nacht. Behörden, Feuerwehr, Polizeiermittler, Gerichte, Zwangsverwalter, Sachverständige und die Staatsanwaltschaft suchen seitdem nach Schuldigen, nach Hintergründen, sortieren Interessenlagen, sichern den Brandort und die Umgebung, planen weitere Schritte. Pikantes Detail: Gebrannt hat es in den vergangenen Jahren bereits in verschiedenen anderen Gebäuden des Eigentümers. Marbacher Bürger rätseln, verdächtigen und spekulieren. Suchen Zusammenhänge. Oberhessische PresseGr und Lokalreporter berichten. Weiträumige installierte Absperrgitter schützen Kinder, Blinde und andere Passanten vor maroden Gebäudeteilen, die herabstürzen könnten.

Eine Geschichte, die ganz sicher noch überregional in den Medien explodieren wird. Vielleicht spätestens dann, wenn zum Beispiel auf dem historischen Grund in bester Lage eventuell eine neue Immobilie wächst.

Quelle: Blog von Daniel Grosse
http://irondan.de/?p=119
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Wie umgehen mit der Forderung eines Gesprächspartners: Den Artikel muss ich vorher komplett lesen?

Geschrieben am 6. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Misstrauen begleitet die meisten Recherchen, Misstrauen von Leuten, die wir fragen – aber die nie wissen, was der Reporter aus dem Gespräch mitnimmt und in der Zeitung oder Zeitschrift druckt. Brand Eins gibt ein Heft über „Vertrauen“ heraus. Chefredakteurin Gabriele Fischer schreibt im Newsletter über eine besonders kribbelige Recherche von Andreas Molitor, der mit Vertrauensleuten sprach, jenen nicht zu beneidenden Menschen, die zwischen Gewerkschaft, Betriebsrat und Kollegen sitzen:

Er bekam das Misstrauen zu spüren, das in solch ungeklärten Situationen gedeiht. Am liebsten hätte der oberste Vertrauensmann vor einer Veröffentlichung den kompletten Text gelesen und auch gleich noch die Fotoauswahl bestimmt. Weil beides bei brand eins nicht möglich ist, wäre die Geschichte um ein Haar nicht erschienen.

Wie hat die Chefredakteurin den Beitrag gerettet? Sie knickte nicht ein, sondern machte klar, wie das Magazin mit Vertrauen umgeht:

Am Ende aber einigte man sich nach einer Sondersitzung des Vertrauensleute-Gremiums auf das bei brand eins einzig mögliche Verfahren: Wörtliche Zitate können auf Wunsch abgestimmt werden – mehr nicht („Zwischen den Stühlen“; Oktoberheft, Seite 80).

Ein Kuss, ein Gebet – Die letzten Stunden der Opfer von MH 17: Ein Glanzstück der Nachrichtenagentur AP

Geschrieben am 5. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Das sind die Geschichten, die Leser lieben: Wie verbrachten die Passagiere des Flugs MH 17, den Terroristen abgeschossen haben, ihre letzten Stunden? Mit wem sprachen sie zuletzt? Wie lautete ihre letzte Mail? Welchen Menschen sahen sie als letzten, bevor sie zum Flugsteig gingen? Wen küssten sie? Wen umarmten sie?

Es ist schon ungewöhnlich, dass eine große Nachrichtenagentur wie AP solch ein großes Erzähl-Stück recherchiert und veröffentlicht. Normalerweise bringt sie die aktuelle Meldung, vielleicht noch die Namensliste der Opfer, ihre Nationalitäten. Kristen Gelineau, AP-Chefin in Australien, wollte hinter die Nachrichten schauen, die Kleinigkeiten entdecken, die das Leben ausmachen, sie suchte den Zeitstempel des letzten Gesprächs der Opfer, sie wollte „Qualität statt Quantität“ – und bat um Recherche-Hilfe bei Reportern in Neuseeland und auf den Philippinen, in Indonesien, Holland und Malaysia.

Erin Madigan White erklärte die Reportage „A kiss, a prayer: The last hours of MH 17’s victims“ im AP-Blog zum „Beat of the week“, der mit 500 Dollar honoriert wird. Kristen Gelineaus Geschichte beginnt so (frei übersetzt):

Im Schlafzimmer eines Hauses nahe Amsterdam fragt Miguel seine Mutter: „Mama, darf ich Dich umarmen?“ Samira, seine Mutter, legt ihre Arme um ihren elfjährigen Sohn, der sie seit Tagen nervt mit Fragen nach dem Tod, nach Gott und seiner Seele.

Am nächsten Morgen brachte sie ihn und seinen großen Bruder Shaka zum Flughafen, wo sie den Flug Malaysia Airline 17 nehmen wollten, um ihre Großmutter in Bali zu besuchen mit der Aussicht auf Wasser-Ski und Surfen im Paradies.

Irgendetwas war anders. Am Tag vor dem Flug brach es aus Miguel heraus beim Fußballspiel: „Wie willst du sterben? Was wird aus meinem Körper, wenn ich beerdigt bin? Fühle ich nichts, weil unsere Seele zu Gott zurückkehrt?“ Er beginnt mich zu vermissen, sagte sich seine Mutter. Sie hielt ihn die ganze Nacht fest in den Armen.

Das war um 23 Uhr am 16. Juli. Shaka und 296 andere Passagiere auf Flug 17 hatten noch ungefähr 15 Stunden zu leben.

Die Geschichte liest sich wie die Skizze für einen großen Roman. Zur Nachahmung empfohlen – für Nachrichtenagenturen und jeden, der Qualität mag und seine Leser liebt.

Die neue Basis des Journalismus: Storytelling und Multimedia

Geschrieben am 9. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Was sind die Grundlagen des Journalismus? Diego Yanez ist der neue MAZ-Direktor, der Schweizer Journalistenschule; er beantwortet die Frage nach der „soliden Grundausbildung“ im April-Newsletter der Schule:

Recherche, Medienrecht, Storytelling, multimediale Fertigkeiten und vieles mehr.

Schreiben und Redigieren und die Nachricht und die Reportage, über Jahrhunderte die Basis des Journalismus, gehören mittlerweile zu „vieles mehr“. Aber immerhin, so beginnt der Newsletter: „Journalismus ist nach wie vor ein Traumberuf.“ Dann tell me mal ne Story.

In den Grundkurs zum Interview gelangt sicher bald das Interview im Newsletter mit einer erfolgreichen Absolventin. Beispiel:

Frage: Pro Jahr schliessen fast 100 junge Journalisten eine Journalistenschule ab. Braucht es die alle?
Antwort: Keine Ahnung.

Braucht es die alle?

Qualitätsjournalismus und das liebe Geld

Geschrieben am 21. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute niemand mehr überleben.

Hubert Burda sprach so bei einer Digitalkonferenz in München, offenbar als Zwischenruf – und gegen Jakob Augstein, der stolz ist, sein Geld mit dem Verkauf einer Zeitung zu verdienen.

Quelle: SZ und Horizont.net vom 20./21. Januar 2014

KOMMENTARE (Facebook) am 21. Januar 2014:

Anton Sahlender:
Kann meinen Widerspruch nicht beweisen, mag aber diesen Beitrag nicht teilen …

Paul-Josef Raue:
Selbstverständlich können wir mit Qualitätsjournalismus überleben, ja eine Demokratie wird auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sein. Wir müssen nur – auch in den Redaktionen – die Bedürfnisse unserer Leser genau erkennen, wir müssen ihnen das bieten, was sie wirklich brauchen und wofür sie Geld bezahlen, und wir müssen sie mit Qualität überraschen.

Bis heute haben wir nicht selten über Qualität nachgedacht, weil die Leser uns nur zu einem Teil bezahlt haben; das meiste Geld kam von der Reklame . Lange stimmte der Satz, der noch in den ersten Auflagen des „Handbuch des Journalismus“ stand (das war kurz vor der Jahrhundertwende):

„Die dritte Spielart des bedenklichen Journalismus: der verknöcherte Journalismus. Seine Kalk-Ablagerungen finden sich in jeden saturierten Abonnementszeitungen, die mit journalistischen Mitteln gar nicht ruiniert werden können…“
vor einigen Sekunden · Gefällt mir

Überall wird gescannt und durchleuchtet – bis auf einen, einen allerletzten Ort: Nordkorea. Marcel Reif war dort

Geschrieben am 24. November 2013 von Paul-Josef Raue.

TV-Sport-Kommentator Marcel Reif war drei Tage in Nordkorea, um Sportjournalisten zu lehren, wie man ein Fußballspiel kommentiert. Fünf Stunden lang spricht er über Emotionen, ohne die eine Reportage nicht gelingen kann – und die Nordkoreaner wollen noch mehr hören, über Emotionen.

Das erzählt Reif dem SZ-Reporter Holger Reitz, der aus dem Gespräch eine empfehlenswerte „Seite Drei“ in der Süddeutschen geschrieben hat: Wenn der Reporter nicht selber nach Nordkorea fahren kann, schreibt er lieber ein Stück von einem, der dort war, als gar nichts. Auch eine Form der Reportage: Ein Reporter erzählt einem anderen Reporter.

Der Reporter, der für die „Seite Drei“ schreibt, schreibt auch über das Gespräch, über seine Strategie, wie aus den Erzählungen eines anderen eine eigene Reportage wird. Er steigt ein mit der Herbstsonne am Zürichsee, ein paar hundert Zeilen später – das Stück füllt wirklich eine komplette Seite – schreien die Möwen am See: Es ist wie im Volontärskurs, Atmosphäre bitte, Sonne und Möwen gehen immer.

Das merkt auch der gestandene Reporter: In der Süddeutschen, weil Qualitätszeitung, geht das eigentlich nicht – es sei denn, ich habe einen guten Grund. Den gibt der Rückkehrer aus Nordkorea: Es ist der Kontrast.

Reif am See sagt: „Sprache. Wir sitzen hier, reden, tauschen Flapsigkeiten aus. Über Möwen. Derlei. Geht in Nordkorea alles nicht. Gibt es nicht. Auch mit denen, die Deutsch können: nicht. Es gibt nichts Ironisches. Nichts.

Du hast natürlich tausend Fragen. Aber du überlegst sofort, in welche Schwierigkeiten du denjenigen bringst, dem du sie stellst. Und dann stellst du sie eben nicht mehr. Du schützt die anderen vor deiner eigenen Neugier, indem du schweigst. Und irgendwann hast du dann gelernt, dass du auf 1000 Fragen auch nur 1001 Ausflüchte hören würdest.“

So wird aus dem Schweigen eine Reportage, nachher, aus zweiter Hand.

„Tor in Pjöngjang“ ist auch eine lustige Reportage: Marcel Reif sitzt in einem riesigen Stadion, gefüllt mit fünfhundert Zuschauern, und schaut einem Spiel zu – Weiß gegen Blau. Er will wissen, auf welchem Tabellenplatz die Mannschaften stehen. Keiner antwortet.

„Noch mal, meine Frage war: Wer spielt da? Sicher kann jede Information gegen Nordkorea verwendet werden, aber in dem Fall war ich sicher, mit meiner Frage nicht in den staatsgefährdenden Bereich vorgedrungen zu sein.“ Die Frage löst Schnappatmung aus bei Journalisten, Aufpassern, Übersetzern. Bis der Mann im Trainingsanzug herangewunken wird. Information: Dritter gegen Vierten…

Abermals Schnappatmung bei Aufpassern und Begleitern.

Dann bittet Reif darum, zu den Zuschauern auf der anderen Seite wechseln zu dürfen. Keine Schnappatmung mehr, erzählt Reif.

„Da war Panik. Bis einer wirklich sagte: Nein, das geht nicht, das sind Fans, da weiß man nicht, was passiert.“ Ist es nicht erstaunlich, dass es in einer Welt, in der alles gescannt und durchleuchtet wird, noch einen allerletzten Ort gibt, den man nicht durchblickt? Nordkorea.

Eine kurze Debatte über das „Ich“ in der Reportage

Geschrieben am 22. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Ist das „Ich“ in einer Reportage erlaubt? Eine Debatte entwickelte sich über Facebook, nachdem ich in meinem Blog das „Ich“ gelobt hatte in der vorbildlichen Reportage von Judith Luig über den Verlust ihres ungeborenen Kindes.

Anton Sahlender:

Ich verkürze – hoffentlich zutreffend: Herr Blum hat sehr grundsätzlich die Ich-Form im Journalismus angeprangert. Und ich habe diese Grundsätzlichkeit in Frage gestellt. Da kam mir dieses Ich-Beispiel gerade recht, um meine Meinung im Nachhinein zu unterlegen.

Joachim Blum antwortet:

Das ist eine Version, wo das Ich sogar elementar ist. Qualität und Wirkung dieses Textes sind treffende Argumente dafür, dass das Ich eine absolute Ausnahme sein sollte.

Meine Antwort:

Ich teile Blums Aversion gegen das „Ich“. Das spricht dafür, es nur dann zu gebrauchen, wenn es notwendig ist – wie in dieser Reportage.

Joachim Blum:

Genau das wollte ich ausdrücken. Da aber jeder Redakteur meint, es sei bei ihm notwendig, würde ich das Ich beim Chefredakteur genehmigen lassen.
Herr Sahlender ist halt liberaler.

Alexander von Halem schreibt:

Und ich finde das fehlende ICH und die fehlenden Beziehungen zu den Lesern sind mit die größten Probleme des derzeitigen Journalismus. die vermeintliche Objektivität will kein MENSCH.

Joachim Blum:

Unsere Debatte hat nichts, aber auch gar nicht mit Objektivität oder Subjektivität zu tun.

Alexander von Halem:

dann besteht ja noch Hoffnung…

Seiten:«1234»

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