Alle Artikel der Rubrik "O. Zukunft der Zeitung"

Der Blog oder das Blog? Und viele Liveticker – sogar von der Kreisliga

Geschrieben am 15. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Woran erkennt man einen richtiger Blogger? Er sagt: Das Blog. Macht einer den Blog zu einem männlichen Substantiv, wird er belächelt und als digitaler Staatenloser an den Katzentisch gesetzt.

Philipp Ostrop, Lokalchef der Ruhr-Nachrichten in Dortmund, dürfte der agilste Onliner in deutschen Lokalzeitungen sein. Bei der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche tapste er in die Falle:

Der Blog, nee, das Blog, glaube ich… Sonst krieg ich wieder Ärger auf Twitter

David Schraven von der konkurrierenden WAZ stellte einige Coups des Dortmunders vor, der in seiner Redaktion Zeitung und Online zusammen organisiert an einem fünfköpfigen Desk, dem 15 Reporter zuliefern:

+ Der Live-Ticker zu einer Giraffe im Zoo, die umgefallen war (nebst Shitstorm: Seid Ihr bekloppt – so was als Liveticker);

+ Live-Ticker von einem plötzlichen Unwetter am Abend, der vor allem hundert Tweets von Lesern nutzte und auch unbestätigte mitnahm, weil die Redaktion sie als wichtig ansah: „Offenbar Wasser in der U-Bahn-Haltestelle Stadtgarten. Wir können es nicht verifizieren. Hier der Tweet von Kevin. Danke!“;

+ Liveticker von der Räumung wegen einer Fliegerbombe;

+ „Lokalredaktion London“ während des Champion-League-Finales; nach diesem Vorbild soll es in einem schwierigen Dortmunder Gebiet ab 1. Juli die „Lokalredaktion Nordstadt“ geben;

+ „Wir livetickern sogar Kreisliga“ (Ostrop).

Gute Nachrichten für Lokalzeitungen: Buffett kauft weiter

Geschrieben am 6. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Der zweitreichste Amerikaner kauft eine Lokalzeitung nach der anderen. Laut SZ besitzt er nun auch The Roanoke Times in Virginia mit einer Auflage von 76.000. Er hält mittlerweile 29 Lokal- und 40 Wochenzeitungen, hat rund 350 Millionen Dollar investiert, und ließ mitteilen, dass seine Blätter in diesem Jahr Profit bringen werden.

Zwei große Zeitungen lassen sich offenbar vom Optimismus des Milliardärs anstecken: Times Picayune in New Orleans revidiert die Entscheidung, nur noch digital zu erscheinen, und druckt täglich wieder; und der Philadelphia Inquirer druckt wieder eine Samstagsausgabe.

Quelle: SZ 5.Juni 2013

Was Diekmann lernte im Silicon Valley: Lokal, lokal! Keine Ressorts mehr, weniger Konferenzen, mehr Teams!

Geschrieben am 4. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Die digitale Zukunft der Zeitung ist lokal! „Geolokal“, sagt Bild-Chefredakteur Kai Diekmann am Ende seines Silicon-Valley-Sabbatjahrs. Das solle konkret so aussehen: Das Smartphone weiß, wo ich mich aufhalte; es liefert mir die lokalen Nachrichten, die ich in diesem Augenblick brauchen kann – inklusive lokaler Werbung.

WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz berichtet auf Der-Westen.de von einem Besuch der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bei Diekmann. Auf Deutschland übertragen könne man, so Diekmann, weder die Mentalität noch den Erfolg des Silicon Valley – zum einen wegen der deutschen Angst vorm Scheitern.

Wir müssen in Deutschland das Scheitern lernen, wenn die Zeitungen auch digital erfolgreich sein wollen! Das ist eine der Lehren, die Bild-Chefredakteur Kai Diekmann gezogen hat: Das Scheitern ist eine Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wer scheitert, der solle schnell scheitern – um schnell wieder starten zu können.

Die Erkenntnis erinnert an einen Spruch Adenauers, der sinngemäß sagte: Es ist keine Schande hinzufallen; es ist eine Schande nicht wieder aufzustehen.

Nich nur eine Kultur des Scheiterns fehlt laut Diekmann in Deutschland, sondern auch eine „Kultur des Teilens“. Im Silicon Valley helfe jeder jedem. Zudem fehle eine Universität wie Stanford mit seinen „unglaublich guten Studenten“, die nahezu alle schon eine eigene Firma gegründet hätten.

Was Diekmann noch gelernt hat?
 

  • Journalisten müssen Kümmerer sein, nicht Nachrichten-Verwalter („Die reine Nachricht ist mittlerweile wertlos.)
  • Konferenzen, wie sie zur Routine in den Redaktionen zählen, gibt es nicht mehr.
  • Die bisherige Ressort-Aufteilung verschwindet zugunsten von Teams, die tagesaktuell an einem Thema arbeiten und auf den unterschiedlichen Kanälen ausspielen.
  • In diesen Teams arbeiten neben den Journalisten auch Techniker und Entwickler fürs Digitale mit.

So umwerfend sind diese Lehren nicht: Zum einen hat sie Diekmann selber beherzigt in seinem Blatt („Bild kämpft für sie“), zum anderen sind an funktionierenden Newsdesks in Deutschland die Ressorts schon seit einiger Zeit aufgelöst zugunsten von Teams, die ad hoc Themen, aber auch Serien bearbeiten.

Journalismus der Zukunft: Blogs, lousy Pennies, Arbeitsverdichtung, geringere Gehälter

Geschrieben am 17. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Joachim Braun, Chefredakteur in Bayreuth, hat den Gewerkschaftsmitgliedern in Bayern einiges zugemutet, als er am 11. Mai über die Zukunft der Zeitungen und Journalisten sprach:

1. Neue digitale Kanäle (Blogs, Social Media)
2. Diversifizierte Geschäftsfelder (Lousy Pennies)
3. Arbeitsverdichtung (Kleinere Redaktionen)
4. Geringere Gehälter (Ausstieg aus dem Tarif)
5. Höhere Qualifikation (Multikanalität)

Oder:Der Zusammenbruch des Mediensystems!

Ich kenne nur die Powerpoint-Präsentation, aber ahne: Joachim Braun wird kaum neue Freunde unter den Journalisten gefunden haben – auch nicht mit einem Zitat von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo:

Wir müssen uns fragen, ob wir eigentlich die Berichterstattung machen, die die Lebenswirklichkeit unserer Leser trifft. (2011 auf der Jahrestagung des Netzwerk Recherche)

Wie treffen wir den Leser:

1. Sei näher am Kunden! (Perspektive)
2. Erkläre die Welt! (Neugierde)
3. Gehe hin, wo‘s weh tut! (Haltung)
4. Kommuniziere! (Reflektion)
4. Werde mobil! (Veränderung)
5. Frage Dich, wer Du bist (Rollenverständnis)

Das ist zwar nicht neu, aber provokant auf einige Merksätze konzentriert. Ob Braun wohl Beifall bekommen hat?

Findet die Medienzukunft ohne Frauen statt?

Geschrieben am 8. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Christian Seifert, Frank Schirrmacher, Christoph Schuh, Earl Wilkinson, „The Times“, „Daily Telegraph“, „Göteborgs-Posten“ und die Otto Group sind einige der vielen Höhepunkte auf der Bühne des Multimedia-Kongresses „Zeitung Digital“ am 19. und 20. Juni in Frankfurt am Main.

So beginnt die Einladung für den Multimedia-Kongress der deutschen Zeitungsverleger (zusammen mit der Ifra und der WAN,dem internationalen Verlegerverband). Es folgen 16 Porträt-Fotos – allesamt männlich. 16 männliche Höhepunkte also.

Wo bleiben die Frauen? Ist die Zukunft der Medien wirklich nur männlich? (Abgesehen von der Otto Group, die wenigstens grammatisch weiblich ist.)

Die Entdeckung der Lesernähe – und Recherche

Geschrieben am 29. April 2013 von Paul-Josef Raue.

Lesernähe wird entscheidend für die Zukunft der Zeitungen. Worauf legen Sie besonderen Wer? Und wie setzen Sie das um?

fragt Claudia Mast, Professorin der Kommunikationswissenschaft und Journalistik an der Universität Hohenheim. Meine Antwort, die kurz sein soll:

Lesernähe war immer schon entscheidend, aber gefahrlos zu ignorieren, als Zeitungen nahezu konkurrenzlos waren.

Leser wollen mitreden, aber nicht jeden Unsinn anderer lesen (wie es im Netz geschieht); sie schätzen die Moderation der Redaktion, wenn sie fair ist, offen und tolerant.

Zuvor wollen Leser verstehen, um was es geht, wollen einschätzen können, ob es für sie wichtig ist. Also, wie immer schon: Erst die Recherche, dann die Analyse und Einordnung, dann die Debatte.

Die zweite Frage der Professorin:

Welches Selbstverständnis führt die Tageszeitungen erfolgreich in die Zukunft? Worin sehen Sie im Vergleich zu anderen Medien ihr spezielles publizistisches Leistungsangebot?

Meine Antwort:

Das Selbstverständnis ist das bewährte: Wir kennen die Welt unserer Leser und lassen sie die Welt kennenlernen. Kennen wir die Welt unserer Leser nicht, werden sie uns ignorieren. So einfach ist das.

Was wir leisten müssen? Intensiver und tiefer recherchieren als bisher. Wir entdecken die Nachrichten, die andere posten; wir führen unsere Leser in den Hintergrund der Nachricht und analysieren, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Und das tun wir am besten in der Provinz, wo unsere Leser leben und arbeiten und ihre Heimat schätzen.

„taz am wochenende“: Fällt der Weltuntergang sonntags aus?

Geschrieben am 21. April 2013 von Paul-Josef Raue.

Am Wochenende darf man sich doch auch mal des Lebens freu’n,oder?

Ines Pohl, taz-Chefredakteurin.

Das Zentralorgan des deutschen Weltuntergangs bringt in der 3,20 Euro teuren Wochenend-Ausgabe zwei Seiten nur mit „Fortschritts“-Nachrichten, Positives eben, unglaubliche zwei Seiten Positives – um neue Leser ans Blatt zu binden.

(Quelle: SZ 20. April 2013, „Die Entdeckung der Langsamkeit“)

Annika Bengtzon (6): Der Chefredakteur – eine tragische Figur („Ohne uns wäre die Demokratie zerbrechlicher“)

Geschrieben am 6. April 2013 von Paul-Josef Raue.

In den österlichen TV-Filmen mit der Reporterin Annika Bengtzon ist der Chefredakteur ein verhuschter Mann im Hintergrund, während der Nachrichtenchef als ein netter Bär durch die Redaktion tappst, Aufträge verteilt, aber hübsch unverbindlich bleibt.

In den Romanen von Liza Marklund ist der Chefredakteur eine nachdenkliche, aber gebrochene Persönlichkeit, der an sich, der Welt, der Zukunft und an seiner Redaktion zweifelt; dagegen ist der Nachrichtenchef der „Mann mit Schwedens schlechtestem Urteilsvermögen“.

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„Das ist wirklich nicht meine Welt“, resigniert der Chefredakteur Schyman angesichts des Terrorismus und des Sicherheitswahns als Reaktion der westlichen Welt. „Wo Terrorismus beginnt, stirbt die Freiheit des Individuums“

Wo aber die Freiheit beschnitten wird, gerät auch der Journalismus in Gefahr, wird „das Prinzip der Öffentlichkeit eine leere Hülle“. Er verfällt in Selbstmitleid:

Um die Interessen der neuen Zeit wahrzunehmen, bedarf es vermutlich eines neuen Schlags von Journalisten, und die brauchen wohl eine neue Art der Führung. (Nobels Testament, Seite 38f.)

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Als Schyman Chefredakteur wird und alle in den neuen Nachrichtenraum umziehen, gibt er sein protziges Büro auf; er bezieht am Rande des Nachrichtenraums ein „anspruchsloses Kämmerchen“, in dem er dem Aufsichtsratsvorsitzenden nicht einmal einen Besucherstuhl anbieten kann.

In einem bizarren Gespräch mit dem Aufsichtsrats-Vorsitzenden zeigt der Chefredakteur die neuen, engen und billigen Redaktionsräume, preist die Effizienz, während der Aufsichtsrat wissen will, warum kein Redakteur die Kompetenz habe, über den Justizombudsmann zu schreiben.

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Als der Chefredakteur angewiesen wird, sechzig Stellen zu sparen, überlegt er, den Hut zu nehmen – aber gibt sich nicht der Illusion hin, unersetzlich zu sein: „Jeder Hanswurst konnte eine Zeitung machen.“ (Lebenslänglich 116)

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Der Chefredakteur zweifelt nach all den Veränderungen, die er angeordnet hat, an sich selber:

Ich habe in der letzten Zeit ein hohes Tempo vorgelegt. Rein inhaltlich haben die Veränderungen die Zeitung mehr beeinträchtigt, als ich dachte. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass wir die Seele der Zeitung verloren haben. Dass wir eine Menge Kanäle aufbauen und vergessen, wofür. (Nobels Testament 216)

Dies Zitat beendete auch meine Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Lokaljournalistenpreises 2009 an die Braunschweiger Zeitung.

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Am Ende des Romans „Nobels Testament“ verwandelt Liza Marklund den Chefredakteur in eine tragische Figur, der sich die Frage stellt, warum er nicht aufgebe – und der sich als Antwort an den Satz eines Kriegskorrespondenten erinnert:

Es ist niemals schwer, aufzustehen, wenn Krieg ist. Aber in Friedenszeiten möchte man sich einfach hinlegen und sterben.

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Als sich der Chefredakteur über „die beste Nummer in der Geschichte dieser Zeitung“ freut, barfuß auf den Newsdesk klettert, werfen sich die Angestellten peinlich berührte Blicke zu – denn „die meisten von ihnen hatten nichts mit diesem angestaubten Papierkram zu tun, sie arbeiteten für das Web, das Lokalfernsehen, das kommerzielle Radio oder für irgendeine Hochglanzbeilage. Kaum einer von ihnen las die Zeitung“.

Einer der Reporter, der die Szene mit verschränkten Armen verfolgt, fragt, ob der Chefredakteur die Gegenwart noch ganz im Griff habe.

„Ich glaube, er ahnt es“, sagte Annika. „Er muss den Journalismus wieder zum Mittelpunkt machen.“
„Du meinst, es ist wichtig, was wir sagen, nicht, auf welcher Frequenz wir es senden?“
„So ungefähr“, sagte Annika.

(Nobels Testament 379ff.)

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Die Entlassungen in der Redaktion bringen den fast sechzigjährigen Chefredakteur an den Rand seiner Nerven, wie er Annika gesteht. Dennoch:

Ich liebe diese Zeitung. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber es ist wirklich wahr. Ich weiß, dass wir Fehler machen und oft zu weit gehen, und manchmal stellen wir Leute auf eine Weise bloß, die wirklich zum Kotzen ist, aber wir erfüllen eine Funktion. Ohne uns wäre die Demokratie zerbrechlicher. Ohne uns wäre die Gesellschaft härter und brutaler.

Ich wünschte, Sie hätten recht, sagte Annika. Aber ich bin mir nicht sicher.

(Lebenslänglich 488)

31 Millionen Euro gegen die Vertwitterung des Journalismus

Geschrieben am 9. März 2013 von Paul-Josef Raue.

Schlechte Nachrichten für alle, die den Untergang der Zeitungen und die Vertwitterung des Journalismus in naher Zukunft erwarten. Am Donnerstag weihte die Braunschweiger Zeitung eine neue Zeitungsdruckerei ein, in die die Funke-Mediengruppe 31 Millionen Euro investiert hat.

Der Braunschweiger Geschäftsführer Harald Wahls stellte die modernste Zeitungsdruckerei denn auch mit leichter Ironie vor: „Wir schauen optimistischer in die Zukunft, als die allgemeine Nachrichtenlage über Zeitungen suggeriert.“ Zur Eröffnung waren denn auch alle gekommen, die wichtig sind in Braunschweig, Wolfsburg und Niedersachsen – ob Oberbürgermeister, Chef der VW-Autostadt, Verleger, Politiker und Unternehmer.

Stephan Weil, der neue Ministerpräsident, kam nach Braunschweig, wenige Tage nachdem er seinen Amtseid abgelegt hatte. Er sprach kurz, frei, und er lobte die Regionalzeitung als das am meisten vertrauenswürdige Medium. Von seiner Erziehung durch die Zeitung erzählte er: Das Lesen hat er im Sportteil der Zeitung gelernt, so wie auch seine Kinder das Lesen gelernt haben. „Ich wünsche mir, dass auch ein Enkelkind mit Hilfe des Sportteils einer Zeitung das Lesen lernen wird.“

Es waren gestandene Männer aus dem analogen Zeitalter, die das Lob der Zeitung sangen, also Menschen, die sich einen Morgen ohne das Knittern von Papier nicht vorstellen können – für die eine Zeitung mehr als die Aufnahme von Information zwecks Speicherung im Hippocampus unseres Gehirns. „Die gedruckte Zeitung ist etwas Emotionales im Vergleich zum Laptop, auf dem wir das E-Paper lesen“, sagte der Braunschweiger Oberbürgermeister Gert Hoffmann, der in der digitalen Welt auch den Verfall von Sprachkultur beklagt.

Für Christian Nienhaus, Geschäftsführer der Funke-Mediengruppe, ist Zeitung Entschleunigung. Angenommen, so sein Gedankenexperiment, statt Gutenbergs Erfindung wären wir vom Papyrus gleich zum Computer übergegangen: Wären Papier und Zeitung dann nicht eine moderne Innovation? Zudem seien nicht nur Banken systemrelevant, sondern auch Zeitungen – relevant für unser System Demokratie.

In einem Interview mit der Braunschweiger Zeitung hatte Nienhaus hingewiesen, dass die Herstellung der Zeitung in der neuen Druckerei ein vollständig digitaler Prozess sei, an dessen Ende ein anologes Produkt stehe.

Die Financial Times und die Digital-First-Strategie

Geschrieben am 22. Februar 2013 von Paul-Josef Raue.

Nach einem Besuch im Silicon Valley schrieb Lionel Barber, der Herausgeber der britischen Financial Times, an seine Mitarbeiter: Wir müssen weniger Geld für die Zeitung ausgeben und mehr für Online – „auch wenn Print immer noch eine wichtige Quelle für die Werbe-Einnahmen ist“.

Er wirbt für seine „Digital-First-Strategie“, die also vorrangig auf digitale Angebote setzt, und kündigt an, die Mitarbeiter effizienter einzusetzen, also: auf 25 Redakteure in der Zeitung verzichten und 10 fürs digitale Geschäft einstellen zu wollen. Und welche Regeln gelten Online?

Natürlich müssen wir uns an die bewährten Methoden eines guten Journalismus halten: gründliche, ursprüngliche Berichterstattung auf der Grundlage mehrerer Quellen und ein waches Auge für die Exklusivmeldung.

Neben Veränderungen, die nur die FTD betreffen wie Zusammenlegen von Ausgaben, gibt es zwei Vorgaben, die für alle Redaktionen gelten sollten:

  • Ein Ende der „vielarmigen Auftragsvergabe“ – wir brauchen weniger Auftragsvergabekanäle.
  • Wir bedienen zuerst eine digitale Plattform und an zweiter Stelle eine Zeitung.

Am gemeinsamen  Newsdesks arbeiten nicht mehr  Seitenredakteure, sondern  Content-Redakteure:

Wir müssen  nachdenken, wie, wann und in welcher Form wir unseren Content veröffentlichen, ob konventionelle Nachrichten, Blogs, Video oder Social Media.

Wir brauchen  Reporter, die bereit sind, ihre Talente für die Bearbeitung der großen FT-Artikel einzubringen, und nicht Gefahr laufen, in ein Silodenken zu verfallen.

 


Die E-Mail im Wortlaut (übersetzt von  Thomas Bertz, TBM Marketing GmbH)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

in meiner Neujahrsbotschaft habe ich erklärt, dass das Jahr 2013 zum Testlauf für unsere Entschlossenheit werden würde, weitergehende Schritte rascher zu gehen, um Journalismus der Spitzenqualität in einer im rasanten Wandel befindlichen Medienlandschaft zu unterstützen.

Ich möchte jetzt im Detail darstellen, welche Vorschläge wir für den Umbau der FT für das digitale Zeitalter machen möchten. Wir müssen in einigen Bereichen weniger und in anderen mehr tun. Wir müssen sehr viel wendiger sein und wir müssen unsere Teams umgestalten.

Heute haben wir Beratungen mit der britischen Journalistengewerkschaft National Union of Journalists (NUJ) aufgenommen, um eine erste Regelung zum freiwilligen Personalabbau auf den Weg zu bringen. Ziel ist es, die Produktionskosten der Zeitung zu senken und uns die Flexibilität zu geben, mehr in die Online-Sparte zu investieren.

Es ist unsere gemeinsame Sache, die Zukunft der FT in einem zunehmend von Wettbewerb geprägten Markt zu sichern, auf dem die alten Titel regelmäßig Erschütterungen durch neue Anbieter wie Google und LinkedIn und Twitter ausgesetzt sind. Die Marke FT, die für präzisen, zuverlässigen Journalismus steht, kann prosperieren, aber nur, wenn sie sich an die Anforderungen unserer Leser im Digital- und im Printbereich anpasst, der noch eine äußerst wichtige Quelle für Werbeeinnahmen ist.

Mein Besuch in Silicon Valley im letzten September hat mir das Tempo der Veränderung bestätigt. Unsere Wettbewerber nutzen Technologie, um das Nachrichtengeschäft durch Aggregation, Personalisierung und Social Media zu revolutionieren. Mobil allein macht jetzt z. B. 25 Prozent des gesamten digitalen Traffic der FT aus. Stillstand würde bedeuten, dass wir uns grob fahrlässig verhielten.

Natürlich müssen wir uns an die bewährten Methoden eines guten Journalismus halten: gründliche, ursprüngliche Berichterstattung auf der Grundlage mehrerer Quellen und ein waches Auge für die Exklusivmeldung. Wir müssen aber auch anerkennen, dass das Internet neue Wege und Plattformen für die umfassendere Vermittlung und Übertragung von Informationen bietet. Wir sind auf dem Weg von einem Nachrichtengeschäft zu einem vernetzten Geschäft.

Um die Beziehung zu unseren Lesern zu intensivieren, müssen wir unsere Investitionen und unsere Mitarbeiter intelligenter, ausgewogener und effizienter einsetzen. Deshalb schlagen wir vor, einige unserer Ressourcen von Nacht- auf Tagarbeit und von Print auf digital zu verlagern. Dies erfordert eine FT-weite Initiative, um unsere Journalisten so zu schulen, dass sie ihre Fähigkeiten bestmöglich nutzen. Und es erfordert entschiedene Führung.

Ich bin fest entschlossen, dass wir unser Allermöglichstes tun, um die Zukunft der FT als finanziell tragfähige Nachrichtenorganisation auf Weltniveau zu sichern. Unsere früheren Entscheidungen, Preise zu erhöhen, Gebühren für Content zu erheben und ein Abonnementsgeschäft aufzubauen, haben sich als klug und mutig erwiesen. Während viele unserer Rivalen sich abgemüht haben, ein profitables Geschäftsmodell zu finden, und deshalb schwere Arbeitsplatzverluste angekündigt haben, waren wir Industriepioniere. Dies ist nicht der Augenblick für zögerliches Handeln.

Natürlich ist Veränderung schmerzlich. Ich möchte Ihnen deshalb versichern, dass die folgenden Vorschläge genauestens überlegt und intensiv beraten wurden und dies auch weiterhin der Fall sein wird. Das gilt ebenfalls für unseren Wunsch, fair, ehrlich und transparent zu sein. Und wir treten jetzt in eine Beratung mit der National Union of Journalists und Mitarbeitern ein, um über die Zukunft der Financial Times und diese Vorschläge zu beraten, so dass wir im fairen und offenen Dialog den richtigen Weg nach vorn einschlagen können.

Zu Beginn möchte ich einige Punkte klarstellen.

Ich möchte unsere Auftragsvergabe verbessern, um selektiveren, relevanten, qualitativ hochwertigen Content zu produzieren.

Ich möchte Maßnahmen umsetzen, mit denen es der Zeitung erleichtert wird, die Arbeitsbelastung zu verringern und die für die Printausgabe aufgewendeten Ressourcen zu reduzieren. Diese umfassen:

1. Gemeinsame Anzeigenformen in allen Ausgaben – was unnütze Optimierung und Bearbeitung zwischen den einzelnen Ausgaben reduziert.

2. Eine stärker von Gemeinsamkeit geprägte internationale Ausgabe mit gemeinsamen Titelseiten und zweiten Titelseiten.

3. Mögliche Umstellung auf eine gemeinsame laufende Reihenfolge zwischen britischen und internationalen Ausgaben mit Weltnachrichten auf der Titelseite

4. Beschränkungen hinsichtlich der Anzahl der Veränderungen, die für die zweite US-Ausgabe verlangt werden.

5. Kürzung der dritten britischen Ausgabe.

6. Weitaus diszipliniertere Einhaltung der Lieferzeiten des Anzeigenmaterials und verbessere Vorausplanung

7. Ein Ende der „vielarmigen Auftragsvergabe“ – wir brauchen weniger Auftragsvergabekanäle. Ebenso müssen Nachrichtenredakteure Berichte, die Priorität haben, eindeutig kennzeichnen.

8. Straffere Kontrolle der Paginierung. Wir müssen sicherstellen, dass wir zuerst eine digitale Plattform und an zweiter Stelle eine Zeitung bedienen. Dies stellt eine große kulturelle Veränderung für die FT dar, die wahrscheinlich nur mit einer weiteren strukturellen Veränderung erreicht werden kann.

Wir müssen einen Weg finden, die Produktionsressourcen während der Nacht zu reduzieren und sie am Tag zu vergrößern; dieselben Ressourcen müssen auch zunehmend für das Web und weniger für die Zeitung aufgewendet werden.

Auf vereinigten Newsdesks müssen wir von Seitenredakteuren zu Content-Redakteuren werden. Wir müssen neu darüber nachdenken, wie, wann und in welcher Form wir unseren Content veröffentlichen, ob konventionelle Nachrichten, Blogs, Video oder Social Media.

In unserem britischen und internationalen Reporternetz müssen wir bestrebt sein, Menschen an der richtigen Stelle zu haben, die bereit sind, ihre Talente für die Bearbeitung der großen FT-Artikel einzubringen, und nicht Gefahr laufen, in ein Silodenken zu verfallen oder in bestimmten geografischen Regionen isoliert zu werden.

Pearson, die Muttergesellschaft der FT, steht fest hinter unserer Strategie und unserer geplanten Umwandlung und leistet finanzielle Unterstützung für die Umstrukturierung, die wir für das erste Quartal dieses Jahres planen.

Das geplante Programm für einen freiwilligen Stellenabbau wird uns helfen, unsere Strukturen neu zu gestalten und unsere Kosten im laufenden Jahr um 1,6 Mio. GBP zu senken. Nach unseren Schätzungen könnte dies in einer Nettoreduzierung der Mitarbeiterzahl um ca. 25 nach Einführung von 10 weiteren digitalen Jobs zum Ausdruck kommen, von denen wir einige bereits bewerben.

Mitarbeiter, die die Zeitung verlassen möchten, ermutigen wir zu diesem Schritt. Wir werden uns außerdem mit der NUJ über die weiteren Schritte beraten, die wir möglicherweise vorschlagen müssen, wenn das geplante Programm zum Stellenabbau nicht im erforderlichen Maße angenommen wird.

Schließlich werden wir 2013 online neue Produkte und Dienstleistungen einführen. Starten werden wir mit unseren „Fast FT“-Märkten und einer neuen App „Weekend FT“.

Dies wird uns allen Gelegenheit geben, intensiver über eine dynamischere und interaktivere Form des FT-Journalismus nachzudenken, die über das gedruckte Wort hinausgeht. Dies ist entscheidend, um die Beziehung zu unseren Lesern zu intensivieren und unser Abonnementsgeschäft aufzubauen.

Ich werde an Sitzungen mit Teamleitern teilnehmen, um diese Veränderungen zu erklären, mir Ihre Ideen anzuhören und Fragen zu beantworten. Inzwischen wird Redaktionsleiter James Lamont die Details des Programms zum freiwilligen Stellenabbau unterbreiten und sich umfassend mit Ihnen beraten.

Redaktionsassistenten und Teamleiter werden in groben Zügen über die Vorschläge informiert. Sie werden ihr Bestes tun, um Ihre Fragen zu beantworten und Ihnen ihre Unterstützung anzubieten. Während der gesamten Geschichte der FT haben wir großartige Fortschritte in einer im Wandel begriffenen Industrie erzielt. Sie haben eindrucksvolle Schritte unternommen, um die FT zu modernisieren, und ich bin zutiefst dankbar für Ihre Bereitschaft, sich Veränderungen anzupassen. Dies ist keine einfache Umstellung, aber wir sind gezwungen, die schwierigen Maßnahmen zu treffen, um die Zukunft der FT als eine der großartigsten Nachrichtenorganisationen der Welt zu sichern.

Und mit Ihrer Unterstützung in diesem 125. Jubiläumsjahr können wir dies erreichen und weiterhin das tun, was wir am besten machen: das Geschäft eines qualitativ hochwertigen Journalismus.

 

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