Erfundene und gefälschte Interviews: Kummer ohne Ende

Geschrieben am 13. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Tom Kummer bei Twitter: @tomkummer

Tom Kummer bei Twitter: @tomkummer

Wer fragt, was Journalisten unter Wahrheit verstehen, bekommt schillernde, bisweilen pseudo-philosophische  Antworten: Es kann die Wahrheit gar nicht geben; alles ist konstruiert oder manipuliert. Doch in einem sind sich Journalisten und Öffentlichkeit einig: Wer bewusst fälscht, betrügt Leser wie Redaktion.

Der Schweizer Journalist Tom Kummer, Jahrgang 1963, schrieb vor zwei Jahrzehnten als Hollywood-Reporter für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und andere einige Interviews, etwa mit Brad Pitt, die er frei erfunden hatte oder aus anderen Veröffentlichungen abgeschrieben. Roger Köppel, einer der betrogenen Chefredakteure, sagte  2011 in einem Interview:

„Kummer erzählte  gerne, dass er seine Stücke mit Wissen der Chefredaktoren als Kunstform verkaufte – das ist eine dreiste Lüge. Schliesslich verrechnete er dafür Spesen – die waren sehr real und kein artistisches Konzept.“

In dem Interview geht Köppel auch auf eine Variante des erfundenen Interviews ein:

„Vielleicht haben sich die Interviews nicht immer genau so zugetragen, aber sie wurden so autorisiert vom Interviewten. Das ist ja heute, beispielsweise beim Spiegel, auch eine legitime Praxis.“

Auch der Boulevard setzt bisweilen das erfundene, aber autorisierte Interview ein. Die Redakteure lassen sich einige Zitate einfallen, die als Schlagzeile auf der Titelseite taugen, bieten sie beispielsweise einem Politiker an und drucken sie, wenn er sie freigibt. So mancher Hinterbänkler, der den Parteivorsitzenden kritisieren soll, stimmt gerne der Erfindung zu.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fragt im Tagesspiegel nach der Enthüllung von neuen Kummer-Täuschungen: „Der Fake ist die neue Realität?“, und er forscht, warum nach dem Skandal vor 16 Jahren Tom Kummer immer wieder gedruckt wird:

Der Autor ist zur Marke geworden. Sein eigentliches Kapital aber ist der auf Entlarvung angelegte Betrug, sein Geschäftsmodell die Enttäuschung derjenigen, die an ihn glauben wollen, weil damit ihre Profession selbst in das Glamourlicht einer freien, künstlerischen, irgendwie dramatisch wirkenden Existenz getaucht wird. Und: Ist nicht alles irgendwie verhandelbar, auch diese öde, blöde Welt der Fakten?…

Tom Kummer will Medientheoretiker sein, Konzeptkünstler, praktizierender Konstruktivist. Und Wahrheit ist Lüge. Und Lüge Wahrheit. Und Betrug Philosophie. Er braucht jetzt ganz bald mal wieder eine zweite, dritte, vierte, fünfte Chance.

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Quelle: Tagesspiegel 13. Juli 2016

 

„Unwissenheit ist keine Tugend“ (Obama, Zitat der Woche)

Geschrieben am 10. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 10. Juli 2016 von Paul-Josef Raue in Lügenpresse.

In der Politik wie im Leben ist Unwissenheit keine Tugend. Es ist nicht cool, keine Ahnung zu haben, wovon man spricht.

Barack Obama, US-Präsident, vor Studenten in New Jersey, über Anti-Intellektualismus, der „den Kult des uninformierten  Gefühls als angeblich volksnah feiert“. Caroline Emcke: Auch in Europa grassiert das populistischeLob der Torheit, spielt auf Brexit und Pegida an.

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Quelle: SZ 9. Juli 2016, Emcke-Kolumne „Torheit“

„Die Welt geht doch nicht unter“: Ein Lob dem letzten Satz (Die Reportage)

Geschrieben am 10. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Süddeutsche Zeitung, 9. Juli 2016: Seite 3 mit der EM-Reportage von Holger Gertz

Süddeutsche Zeitung, 9. Juli 2016: Seite 3 mit der EM-Reportage von Holger Gertz

Der erste Satz! Wie viele Dichter und Journalisten haben Angst vor ihm, denken stunden-, gar tagelang über ihn nach, bekommen Schreibblockaden, schrumpfen innerlich zusammen, wenn der Chef sagt: Wenn sie den ersten Satz vermasseln, liest keiner mehr den Rest. Reißen Sie sich zusammen!

Aber kaum einer bekommt eine Schreibblockade, wenn er an den letzten Satz denkt, den Rausschmeißer. Zwar steht in den Reportage-Ratgebern: Er ist wichtig, bleibt im Kopf, regt zum Weiterdenken an! Aber bei den meisten Reportern ist die Luft am Ende raus, alle Sprachbilder aufgebraucht, die wirklichen Bilder erst recht. Man stiehlt sich irgendwie aus der Reportage raus, feuilletonisiert ein wenig, öffnet das Fenster einen Spalt für den Weltgeist – Ende.

Holger Gertz‘ Reportage über Frankreich bei der Europameisterschaft beweist das Gegenteil: Ein müder Einstieg, ein umwerfender Schluss, dazwischen eine starke, weil nachdenkliche Reportage, die von Terror und Fußball, dem Lebensgefühl der Franzosen und Schweinsteigers Hand im Strafraum erzählt. Allein die Zwischentitel reizen zum Lesen, einer verführerischer als der andere – und stärker als „Am Ende der Tage“, einer langweiligen Überschrift aus dem Text-Baukasten:

  • Wie viel innere Stärke muss eine Stadt haben, die nach allem, was war, wieder so offen sein kann

  • Der Fußball erdrückt sich mit seinem immer pralleren Programm gerade selbst

  • Und in der Welt passiert so viel, dass manche gar nicht wissen, warum jetzt Schweigeminute ist

  • Deutsche Effizienz? Wir packen uns die Bälle im Strafraum neuerdings mit der Hand

Und dann der letzte Absatz, der sogar mit Assoziationen an Sieg-Heil spielen kann, ohne peinlich zu wirken; der an die Isländer und ihren derb-neckischen Schlachtruf erinnert und im letzten Satz mit dem Terror und unserer Angst ironisch ins Gericht geht:

Die deutschen Fußballfans haben die furchtbarsten Lieder und Rufe, aber vor einer Bar in einer warmen Nacht in Bordeaux brüllen sie nicht „Sieg!“, sie rufen „Hu!“ Ein Fortschritt. Und ein Hinweis darauf, dass die Welt doch noch nicht untergeht.

 

 

Killer-Sprache im Sportjournalismus – nicht nur zur EM: „Instinktlos“

Geschrieben am 7. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Leserbrief in der FAZ vom 18. Juni

Leserbrief in der FAZ vom 18. Juni 2016

Bei großen Sportereignissen kennen Sportjournalisten keine Freunde mehr, zumindest in der Sprache. „Kein Killerinstinkt“ titelte die FAZ, oft für den besten Sportjournalismus ausgezeichnet, einen Bericht über die Schweizer Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft. Ein Leser empörte sich – nicht nur über den „Killerinstinkt“, sondern auch über den Tag, an dem die Überschrift in seine Zeitung kam:

Instinktlos

Wer ist nicht entsetzt über die brutalen Hooligans bei der Europameisterschaft in Frankreich, und Sie überschreiben in Ihrer Ausgabe vom 15. Juni einen Artikel über die Schweizer Fußballmannschaft dick mit „Kein Killerinstinkt“. Welch unerhörte Instinkt- und Verantwortungslosigkeit!

Schon vor der Europameisterschaft war der „Killerinstinkt“ in die Sport-Sprachmode gekommen. „Kein Killerinstinkt“ überschrieb Sport-Bild einen Online-Bericht im Februar, nachdem sich Eintracht Frankfurt und der HSV in der Bundesliga torlos verabschiedet hatten.

Auch Trainer mögen „Kein Killerinstinkt“: Jose Mourinho klagte so medienwirksam, nachdem sein FC Chelsea nur 1:1 in Istanbul gespielt hatte; wenig später wurde er entlassen.

Auch Sportler mögen den „Killerinstinkt“. Die FAZ zitierte Roger Federer im März 2014 vor einem Tennismatch mit seinem Freund Tommy Haas: „Gegen einen Freund ist der Killerinstinkt nicht so da.“ NBA-Star Stephen Curry erzählt, wie er sich verwandelt: „Wenn ich spiele, bin ich eine ganz andere Persönlichkeit. Dann bin ich konzentriert, verbissen und hungrig nach Erfolg. Diesen Killerinstinkt brauchst du, dann respektieren dich deine Mitspieler und der Gegner.“

Selbst in solch friedlicher Sportart wie Volleyball vermisst der Bundestrainer den nötigen Killerinstinkt (vor wenigen Tagen in der FAZ).

Martialische Sprachbilder waren gebräuchlich im Sportjournalismus, aber sie sind weitgehend aus dem Wortschatz verschwunden. In diesem Blog war die Sprache des Sports beim vorletzten Großereignis, der WM in Brasilien, schon mal ein Thema:

Zur Ehrenrettung der Sportreporter sei angefügt: Vor einigen Jahrzehnten waren die Bilder vom Krieg und vom Lärm der Schlachten noch übermächtig; heute verschwinden sie gemächlich aus dem Wortschatz der Sportjournalisten, in deren Reihen sich offenbar mehr Friedensfreunde tummeln als Leutnants.

Heute suchen Sportreporter ihre Sprachbilder eher in der Bibel. „Griezmann erlöst Frankreich“, schrieb die Süddeutsche Zeitung nach dem EM-Sieg gegen Irland in der Vorrunde. Nach der Erlösung kam „Im Fegefeuer“: So titelte die SZ in derselben Ausgabe einen Bericht über die italienische Mannschaft.

Buße, um nicht ins Fegefeuer zu kommen, leistete die FAZ-Redaktion vorbildlich: Sie veröffentlichte den kritischen Leserbrief, und sie veröffentlichte ihn ungewöhnlich schnell.

Journalisten, Schreibblockaden, Alkohol und die Werkstatt Gottes (Zitat der Woche)

Geschrieben am 6. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 6. Juli 2016 von Paul-Josef Raue in B. Die Journalisten, I. Die Meinung.
Post von Wagner in Bild: Lieber Thomas Müller

Post von Wagner in Bild: Lieber Thomas Müller

Franz Josef Wagner ist für seine wilden Assoziationen bekannt, die er täglich in „Post von Wagner“ auf der zweiten Seite der Bildzeitung ausbreitet. Wer käme schon vom Fußballer Thomas Müller, dem einfach kein Tor bei der EM gelingen will, über Schreibblockade von Schriftstellern und über Goethe zu Gott? Das kapitulierten selbst Streiflicht-Schreiber der SZ, die neben Wagner mit genialen Assoziationen Lesers Herz erwärmen.

Lieber Thomas Müller… Schreibblockade nennt man bei Schriftstellern das Phänomen, unter dem sie gerade leiden. Torblockade. Schriftsteller suchen meist Hilfe bei Alkohol.

Dazu kann ich Ihnen nicht raten. Aber eine Wahrheit hat der writer’s block. Man ist nicht ununterbrochen Künstler. Goethe spricht von der „geheimnisvollen Werkstatt Gottes“…

Hatte Gott eine Schreibblockade? Was weiß Goethe von Gott? Was weiß Wagner von Goethe und Gott?

Johann Peter Eckermann hat die Gespräche mit Goethe protokolliert. Am 2. August 1830 sprach Goethe über einen Streit in der französischen Akademie, er freute sich, dass „auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr sein“ werde: „Man wird Blicke in große Schöpfungsmaximen tun, in die geheimnisvolle Werkstatt Gottes!“

Die Welt, die Natur, die Schöpfung – das ist die „geheimnisvolle Werkstatt Gottes“.

Und was rät Wagner gegen Blockaden? „Schriftsteller saufen. Sie (Müller) trainieren.“ Ob es schriftstellernde Journalisten auch mit Training und solider Recherche versuchen sollten?

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Quelle: Bild 6. Juli 2016 „Post von Wagner“

Die Pressekodex-Verweigerer in Sachsen und auf der Alb und Artikel 3 des Grundgesetzes

Geschrieben am 5. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Chefredakteur Uwe Vetterick lässt in der "Sächsischen Zeitung" bei allen möglichen Straftätern die Nationalität nennen -ob Ausländer oder Deutscher (Foto: Ronald Bonß für "Sächsische Zeitung")

Chefredakteur Uwe Vetterick nennt in der „Sächsischen Zeitung“ bei  Straftätern die Nationalität – ob Ausländer oder Deutscher (Foto: Ronald Bonß für „Sächsische Zeitung“)

Der Tweet kam am Samstag kurz nach Mitternacht: „Warum die Sächsische Zeitung künftig die Nationalität von Straftätern nennt.“ Der Tweet verwies auf  „Fakten gegen Gerüchte“, einem Online- Beitrag von Oliver Reinhard, Kulturredakteur der Sächsischen Zeitung. Darin stehen die provokanten Sätze:

Wir haben nach durchaus kontroversen Diskussionen beschlossen, uns bei der Berichterstattung über Ausländerkriminalität ab heute nicht mehr an die Richtlinie des Deutschen Presserates zu halten. Stattdessen werden wir künftig die Herkunft von Straftätern oder Verdächtigen in jedem Fall angeben. Egal, ob es sich dabei um Deutsche handelt, was die Regel ist, oder um Ausländer.

Weit entfernt von der Pegida-Hochburg Dresden, am anderen Ende der Republik, hatte die Schwäbische Post schon vor einem Jahr mit der Regel gebrochen. „Wir nennen die Nationalität auch bei Ladendiebstählen“, schrieb Chefredakteur Lars Reckermann in einem Beitrag für die Drehscheibe:

„In fast jeder Polizeimeldung bei Ladendiebstählen wurden Algerier von der Polizei benannt. Anfangs haben wir den Pressekodex noch eins zu eins umgesetzt. Dann haben wir aber entschieden, dass wir damit eigentlich eine Nachricht verschweigen. Ja, es gibt das Problem mit zunehmenden Ladendiebstählen – und das hatte auch einen Grund. Wir haben neben der Polizei auch mit einigen Ladenbesitzern gesprochen und bekamen den Eindruck bestätigt. Also nennen wir die Nationalität.“

Die kress.de-Kolumne „Journalismus!“ thematisiert in dieser Woche die Pressekodex-Richtlinie 12.1.und berichtet über eine Tagung der deutschen Ombudsleute im Sauerland, die auch über die Richtlinie debattierte. Dort wunderte sich Thorsten Spiegel über die Debatte; er ist für Recht und Sicherheit im Plettenberger Rathaus zuständig und war Gast der Runde. Er verwies auf den Artikel 3 des Grundgesetzes, in dem noch schärfer und ausführlicher ein Verbot der Diskriminierung ausgesprochen wird:

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Dieser Verfassungs-Artikel binde, so Thorsten Spiegel, zwar erst einmal nur den Staat, aber: Warum sollten sich Redaktionen nicht an diese Norm halten?

RICHTLINIE 12.1 – BERICHTERSTATTUNG ÜBER STRAFTATEN
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Wahrscheinlich hatten sich auch die Autoren des Pressekodex Anfang der siebziger Jahre am Grundgesetz orientiert und die wichtigen Regeln des Staates als die Regeln der Presse übernommen.

Mehr: Wir sind keine Anti-Pegida

 

Eine Chronik als Vorbild-Reportage: Das Elfmeterschießen als Drama in 18 Akten

Geschrieben am 4. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
"Die Nacht des schwarzen Riesen" - die EM-Reportage in der FAZ vom 4. Juli 2016

„Die Nacht des schwarzen Riesen“ – die EM-Reportage in der FAZ vom 4. Juli 2016

Die Chronik passt weder zur Nachricht noch zur Reportage: Im ersten Satz fährt das Auto auf der Kreisstraße, im letzten Satz ist der Fahrer tot.

Eine Ausnahme ist nicht nur zulässig, sondern auch notwendig: Wenn die Spannung der Reportage im Ablauf liegt – wie beim Elfmeterschießen im EM-Viertelfinale zwischen Deutschland und Italien.

Die 280-Zeilen-Reportage von Michael Horeni in der FAZ ist eine vorbildliche Reportage: „Die Nacht des schwarzen Riesen. Ein Drama in 18 Akten“. Der Reporter folgt dem Ablauf des Dramas: Jeder Schuss ein Akt.

Viele haben das Elfmeterschießen gesehen – und sind trotzdem mitgerissen von Horenis Schilderung. Der Reporter schaut auf die Akteure: Wie gehen sie zum Punkt? Wie legen sie den Ball hin? Wie kehren sie zurück? Was sieht er in den Gesichtern der Torhüter, dem schwarzen Riesen und dem Mann in Rot? Der Reporter kennt die Geschichte der Spieler, er erzählt kleine Geschichten: Wie war es 1976, als Hoeneß den Ball in den Belgrader Himmel schoß? Wie beim deutschen Pokalfinale?

Ein Beispiel aus der Reportage:

Buffon tänzelt wieder wie ein Boxer, die Arme hängend wie Ali, der auf den Schlag des Gegners wartet. Müller will Buffon verladen, schießt nach rechts, nicht hart, nicht platziert. Das rote Trikot ist da, wo der Ball hinkommt. Müller irrt im Strafraum herum, einsam, mit gesenktem Kopf. Es ist nicht sein Turnier. Immer noch 1:1.

Das Elfmeterschießen läuft noch einmal wie ein Film vor dem Leser ab – mit neuen Szenen und mit Tiefenschärfe: Wir sehen etwas, was wir live nicht gesehen haben. Wir sehen mehr.

Der Reporter vertraut den Verben, fast drei Dutzend verschiedene allein in den ersten vier Akten. Es sind meist dynamische Verben: toben, schießen, anlaufen, hüpfen, (Hände) schlagen, fliegen, lahmlegen, wegdrehen, springen, hochjagen, tänzeln, herumirren. Die Substantive, meist Namen und Fußballjargon, sind die Pflicht, die Verben sind die Kür; Adjektive kommen kaum vor.

Besser kann Journalismus nicht sein: Wir sehen ein Spiel, das wir selber gesehen haben, mit anderen Augen – und wir staunen, und wir verstehen, was wirklich geschah.

 

 

 

Wie EM-Reporter die deutsche Sprache verhunzen: Ein Fall für die „medizinische Abteilung“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 4. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Die Moderatoren-Stars bei der EM 2016: Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl, ausgezeichnet mit dem Deutschen Fernsehpreis. (Foto: ARD)

Die Moderatoren-Stars bei der EM 2016: Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl, ausgezeichnet mit dem Deutschen Fernsehpreis. (Foto: ARD)

Seit drei Wochen schleichen Fußballer vom Rasen – mit „muskulären Problemen“. So näseln TV-Moderatoren, so äffen es Zeitungsreporter nach. Sogar Nachrichtenredakteure beugen sich: Mario Gomez, so schreibt die FAZ heute, war „mit muskulären Problemen vom Platz gehumpelt“.

Schleicht Euch!, möchte man den Journalisten zurufen, die solch einen Unsinn reden und schreiben. Das deutsche Wort für Adjektiv heißt „Eigenschaftswort“: Also ist „muskulär“ die Eigenschaft des Problems? Nein, das Problem hat keine Muskeln, aber die Muskeln haben ein Problem.

Problematische Muskeln wäre richtig, aber schräg. Adjektive sind die am meisten überschätzte Wortart: Auf sie in neun von zehn  Fällen zu verzichten, ehrt den Journalisten. Als Alternative bietet sich fast immer das zusammengesetzte Substantiv an – ein Vorzug der deutschen Sprache im Vergleich zu den meisten anderen.

Aber in der Begeisterung, alles, auch Unsinn, aus der englischen Sprache zu nehmen, zertrümmern wir unsere Substantive: „Muscular problems“ sagt der englische Reporter, wenn einer der Stars dahinhumpelt. „Muskelprobleme“ ist das deutsche Wort, ohne Adjektiv, dafür sofort verständlich.

Im Kuppeln von Substantiven ist die deutsche Sprache der englischen überlegen. „In Fahrtrichtung rechts“, sagt der Schaffner im Zug, damit wir die richtige Tür wählen. „In the direction of travel“, wiederholt er: Drei Wörter statt einem.

Und wer kümmert sich um die Muskelprobleme? Der Arzt? Nein, die „medizinische Abteilung“, weiß der TV-Reporter. Schleicht Euch!

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Quelle: FAZ 4. Juli 2016 („Deutschland im Halbfinale ohne Khedira“)

Was heißt „wahrhaftig“? RBB-Intendantin Patricia Schlesinger antwortet

Geschrieben am 3. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
RBB-Intendantin Patricia Schlesinger (Foto: RBB online)

RBB-Intendantin Patricia Schlesinger (Foto: RBB online)

Wahrhaftig sein heißt: alles wahrnehmen, auch wenn es nicht ins eigene Weltbild passt. Es heißt, sich zu hinterfragen, seine eigene Voreingenommenheit zu überwinden. Wahrhaftig heißt, alle Seiten zu berücksichtigen, auch jene, die mir nicht passen.

Patricia Schlesinger, vor einigen  Monaten zur RBB-Intendantin gewählt, in einem Interview mit Jens Schneider von der Süddeutschen Zeitung. Darin geht sie auch auf die Lügenpresse ein und auf die Menschen, die den Medien nicht mehr trauen:

Wir müssen die Menschen sehen, die nicht denken wie wir – und uns eingestehen, wenn wir das mal versäumt haben. Wenn wir das tun, wird der Vorwurf Lügenpresse an uns abgleiten.

Quelle: SZ 2. Juli 2016 „Niveau ohne Geldhaufen“

Deutschlands beste kleine Zeitung kommt aus Marburg (150 Jahre Oberhessische Presse)

Geschrieben am 3. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Logo für 150 Jahre OP

Logo für 150 Jahre OP

Die Oberhessische Presse dürfte die bedeutendste kleine Zeitung in der deutschen Provinz sein: Dreimal empfahl sie sich für die Ruhmeshalle der Zeitungsgeschichte:

Es begann in den achtziger Jahren, als alle Zeitungen in Deutschland Generalanzeiger waren. Eine Zeitung galt als Generalanzeiger, wenn in ihm dieselben Nachrichten standen, wie am Abend zuvor in der Tagesschau zu sehen waren; wenn der Aufmacher auf der Titelseite derselbe war wie der Aufmacher der Tagesschau, sprach man von Qualität. Den Lokalteil nahm keiner ernst.

Die Oberhessische Presse hatte in diesem Sinne keine eigene Qualität: Die Universitätsstadt kaufte den Mantel aus dem ländlichen Wetzlar, der war preiswert, aber nicht gut. Die Entscheidung des Verlegers, Mitte der achtziger Jahre in Marburg selbst den Mantel zu produzieren, war einmalig und revolutionär – aber gar nicht so teuer. Der gerade entwickelte Ganzseiten-Umbruch, ganz schlicht mit XY-Koordinaten, half der Geschäftsführung, auf einen großen Teil der technischen Vorstufe zu verzichten und in die Redaktion zu verlagern: Die Rationalisierung brachte Geld, das zum Teil in die Erweiterung der Redaktion gesteckt wurde.

Die Redaktion dachte nach, wie eine moderne Zeitung auszusehen hat, sie brach mit der Tradition des Generalanzeigers und nahm die wichtigen lokalen und regionalen Nachrichten auf die Titelseite und in das erste Buch: Ein neuer Typus von Zeitung entstand (parallel auch bei der Emder Zeitung an der Nordsee), von der Branche als das „Ende der Qualitätszeitung“ verspottet. Der Erfolg gab und gibt der Redaktion Recht: Die Auflage stieg zweistellig – und ein Vierteljahrhundert später preist die Branche das Lokale als die Rettung der Zeitung, auf Papier wie im Netz.

Den zweiten Eintrag in die Ruhmeshalle der Zeitungen schaffte die selbstbewusste und starke Redaktion mit ungewöhnlichen Themen und Serien: Sie gewann damals zweimal den Deutschen Lokaljournalistenpreis, was zuvor erst einer Redaktion in Deutschland gelungen war. Wer diesen Preis bekommt, darf sich ein Jahr lang als beste deutsche Lokalzeitung rühmen. (Bis heute hat die OP den Preis sieben Mal gewonnen.)

Guntram Dörr, heute Chefredakteur in Nordhorn, holte den ersten Preis mit einer Serie über Selbsthilfegruppen – damals ein neues Phänomen in einer Gesellschaft, die sich zunehmend auf ihre eigenen Kräfte besann, Solidarität übte und den Staat beiseite schob. Zum zweiten Mal holte die Redaktion den Preis mit der kritischen und ungewöhnlich ausführlichen Berichterstattung über Wahlen – als Hochfest der Demokratie.

Für prominente CDU-Politiker in Marburg war die Wahl-Berichterstattung zu kritisch: Sie verlangten vergeblich von der Adenauer-Stiftung, den Preis der OP abzuerkennen, und blieben aus Protest der Verleihung im Marburger Schloss fern.

Zudem gab es einige Sonderpreise, herausragend darunter Jürgen Lauterbachs Serie „Macht in Marburg“, die einmalig blieb und die Dieter Golombek, der Jury-Vorsitzende, so pries: „Dieses Projekt sprengt jeden Rahmen, es ist der gelungene Großversuch, das kunstvoll geknüpfte Netz der Macht in einer 80 000-Einwohner-Stadt zu beschreiben.“

Solch großer Journalismus in der Provinz musste über den Tag hinaus bewahrt werden: So entstand die Buch-Reihe „OP Report“, die dreizehn Mal erschien, mit Titeln wie „Selbsthilfegruppen“, „Wählen  gehen“, „Macht in Marburg“, aber auch „Die rote Uni“, „Aktuelles Arbeitsrecht“ – oder „Schüler lesen“ mit Dokumentationen des ersten Zeitungsprojekts in Deutschland, das Till Conrad gemeinsam mit der Lehrerfortbildung eines Kultusministeriums organisiert hatte.

In die deutsch-deutsche Geschichte eingeflochten ist der dritte Eintrag in die Ruhmeshalle: Die Gründung der Eisenacher Presse in Marburgs Partnerstadt  – die erste deutsch-deutsche Zeitung im Januar 1990, noch zu DDR-Zeiten, im Eisenacher „Haus der Dienste“ produziert, in Marburg gedruckt und mit 30 000 Exemplaren in wenigen Stunden verkauft. Die abenteuerliche Geschichte der Redaktion, der Zeitung und der Einheit ist mehrfach beschrieben, so im Buch „Aufbrüche und Umbrüche“ von Andreas Apelt und in meiner deutsch-deutschen Geschichte „Die unvollendete Revolution“.

Es dürfte kaum eine aufregendere kleine Zeitung in Deutschland geben: Das Beste, was die Provinz zu bieten hat, ohne provinziell zu sein. Wahrscheinlich ist auch die aktuelle Entwicklung der OP einen Eintrag wert: Statt diesen Zeitungs-Kleinod  in einem Konzern untergehen zu lassen, wie es einigen Zeitungen widerfuhr, kaufte der Verleger seine Zeitung zurück – zum Wohle Marburgs und der Region, zum Wohle der Leser und der Redakteure und zum Wohle der Demokratie, die eine kräftige Stimme gerade dort braucht, wo die Heimat der Bürger ist.

 

Die preisgekrönteste kleine Redaktion in Deutschland

  • 2014 Deutscher Lokaljournalistenpreis in der Kategorie Foto für die crossmediale Serie „Ich und Ich“.
  • 2014 „Leser-Blatt-Bindungspreis 2014“ vom Verband Deutscher Lokalzeitungen für das Jahresprojekt „Besser Esser“ (1. Platz).
  • 2013 „Leser-Blatt-Bindungspreis 2013“ vom Verband Deutscher Lokalzeitungen für die Serie „Das schaffe ich“ (2. Platz).
  • 2012 „Leser-Blatt-Bindungspreis 2012“ vom Verband Deutscher Lokalzeitungen für die Serie „100 Leute, 100 Leben“ (2. Platz).
  • 2010 Hessischer Jungjournalistenpreis für Nadine Weigel (heute Foto- und Videoredaktion) für ihren Text- und Video-Beitrag „Pomade und Petticoat“.
  • 2009 XMA Cross Media Award der WAN-IFRA für „Crossmedia-Design und -Branding“ für die Gießener Zeitung – Deutschlands erste Mitmachzeitung.
  • 2008 XMA Cross Media Award der WAN-IFRA für „Crossmediale Kampagnen” für die Oberhessische Presse.
  • 1999 Deutscher Lokaljournalistenpreis (Sonderpreis) für die Zukunftsserie „Marburg 2010“.
  • 1995 Deutscher Lokaljournalistenpreis (Sonderpreis) für Jürgen Lauterbachs Serie „Macht in Marburg“
  • 1993 Deutscher Lokaljournalistenpreis (Erster Preis) für die Berichterstattung zu den Kommunal- und Bürgermeisterdirekt-Wahlen
  • 1989 Deutscher Lokaljournalistenpreis (Dritter Preis) für die Serie „Der Fall Löser“
  • 1988 Deutscher Lokaljournalistenpreis  (Dritter Preis) für das Konzept
  • 1986 Deutscher Lokaljournalistenpreis  (Erster Preis) für die Serie „Selbsthilfegruppen“

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Der Beitrag erschien in der Oberhessischen Presse am 16. Juni 2016 zum 150-Jahr-Jubiläum; hier leicht verändert und erweitert. Der Autor war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der OP und von 1990 bis 1994 auch der Eisenacher Presse.

 

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