Native Werbung ist Betrug am Leser (Zitat der Woche)

Geschrieben am 4. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Native will den Leser überlisten – Journalisten wollen überzeugen.

Lars Reckermann, Chefredakteur Schwäbische Post. in einem Tweet vom Verleger-Kongress in Berlin – als Reflex auf FAZ-Online-Chef und Ex-Spiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencorn, der gegen native Werbung argumentierte (also Werbung, die wie ein redaktioneller Beitrag aussieht): „Einzige Überlebenschance der Zeitung im Netz: Glaubwürdigkeit“.

Quelle BDZV Intern Ende September 2014
Fachausdruck: Native advertising

Soll man „Ossi“ und „Wessi“ verbieten? Am Anfang stand die Schlagzeile: „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen“

Geschrieben am 3. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.
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„Ossi – das ist Blödsinn“, sagt ein Leser der Thüringer Allgemeine beim „Parlament der Einheit“ auf der Wartburg. „Das Wort müssen wir aus dem Wortschatz streichen!“

„Durch das Verbieten werden viele Probleme verdeckt“, sagt ein anderer. Und einer bemerkt: „Hinter den Worten stehen Gedanken.“

Ja, es sind die Gedanken hinter den Worten, die entscheiden, ob  „Ossi“  freundlich gemeint ist oder verletzend, humoristisch oder verächtlich. Dabei entscheidet nicht nur der Sprecher, wie ein Wort trifft, sondern auch der Empfänger: 

Wenn ich den „Ossi“ nicht mag, erst recht nicht den Westdeutschen, der mich so anredet, dann ist alle Liebenswürdigkeit vergebens – die eigentlich im Nettigkeits-„i“liegt am Ende eines Wortes. „Schatzi“ und „Mutti“ und „Tschüssi“ – das „i“ am Ende ist eine Verbeugung, eine kleine Liebeserklärung.

Beim „Wessi“ läuft es ähnlich: Wenn er zum Inbegriff allen Elends wird, das nach der Einheit über den Osten kam, dann nützt das Nettigkeits-i wenig. Legendär ist eine Schlagzeile der 30-Pfennig-Zeitung  „Super“ im ersten Jahr der Einheit: „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen“. 

In der Unterzeile werden die Attribute genannt, die sich mit dem „Wessi“ verbinden: „Er protzte mit seinem BMW herum, beschimpfte seine Mitarbeiter als doofe Ossis“. 

Da rettet das „i“ am Ende nichts mehr, da hilft auch das Verbieten nichts, weder der Wörter noch der Gedanken. Wörter machen eben Leute. Oder machen die Leute die Wörter? 

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Thüringer Allgemeine 6. Oktober 2014

Volontariat der Zukunft (2): Welchen Schwerpunkt setzen?

Geschrieben am 29. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab.

Das ist der zentrale Satz im schriftlichen Interview mit der Drehscheibe, die in einer ihrer nächsten Ausgaben über Volontärsprojekte berichten will. Dies ist das Interview über das Volontariat bei der Thüringer Allgemeine:

Worauf legt der Verlag Wert  bei der Ausbildung?

Die Volontäre sollen die Fähigkeit lernen oder kräftigen, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen:

> Sie lernen zwar den Ablauf in Redaktionen kennen, aber schauen kritisch auf Routinen und Fallstricke;

> sie entwerfen Konzepte für einen noch besseren Journalismus, vor allem im Lokalen;

> sie konzipieren effektive Organisationen, vor allem im Zusammenspiel mit den Online-Medien;

> sie probieren Modelle für Beteiligungen von Lesern aus, die von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern werden;

> sie entwickeln neue Ideen und Produkte – sowohl Online wie in den traditionellen Medien -, um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu können.

So lernen sie Methoden und Umsetzung von Leserforschung kennen, Möglichkeiten und Grenzen des Marketings, optimale Strukturen sowie Selbstorganisation. Sie überschreiten die Grenzen des Zeitungs-Journalismus, arbeiten bei Zeitschriften und Nachrichtenagenturen und eigenständig in Projekten.

Auf der einen Seite lernen die Volontäre das Spektrum des Journalismus kennen wie in einem „Praktikum Universale“, auf der anderen Seite sollen die besonderen Begabungen und Fähigkeiten erkannt und gefördert werden. So können wir Nachwuchs für Führungs-Positionen entdecken oder Talente für Organisations-Aufgaben oder für tiefe Recherchen oder Online-Spezialisten oder Verliebte in Kultur, Wirtschaft oder die lokale Welt usw.

Nach dem Volontariat treffen sich die Redakteure zu Tages-Seminaren, um ihren Fortschritt zu kontrollieren, neue Ideen zu diskutieren und Schwierigkeiten anzusprechen und zu bewältigen.

Welche Schwerpunkte werden in der Ausbildung gesetzt?

Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab:
> Als Grundlage zuerst das Handwerk, das jeder beherrschen muss: Recherche, informierende und unterhaltende Information, Meinung.

> Dem Handwerk folgt die Haltung: Die Ethik des Journalismus, der Dienst am Leser und die Leidenschaft für den schönsten Beruf in einer offenen Gesellschaft.

> Auf Handwerk und Haltung folgt die Lehre der Verständlichkeit, also der Wille so zu schreiben, dass die Menschen mit Lust und Gewinn lesen.

Die gesamte Ausbildung ist multimedial. Die neuen Möglichkeiten des Journalismus – etwa Daten-Journalismus, soziale Netzwerke, Timeline – sollen erlernt und ausprobiert werden. So endete die Ausbildung mit einer Recherche-Woche, in der die Volontäre eine Multi-Media-Reportage produzierten mit Notizblock, Kamera, Video und Diktiergerät – fürs Internet und eine Sonderausgabe der Wochenend-Beilage.

Volontariat der Zukunft (1): Wie könnte die Ausbildung aussehen – am Beispiel der TA

Geschrieben am 28. September 2014 von Paul-Josef Raue.

„Der Traumberuf Journalist braucht vor allem Respekt vor den Menschen“ ist ein TA-Artikel überschrieben über die Ausbildung der Volontäre – in einer Extra-Ausgabe des „Thüringen Sonntag“, der Wochenend-Beilage. „Grenzgänger“ nennen die Volontäre ihr Gesellenstück: Zum Abschluss ihrer Ausbildung recherchieren sie eine Woche lang im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck und erzählen Geschichten von Menschen, die Grenzen überwinden – auch ihre eigenen. Am heutigen Montag (29.9.14) werden die fünf Nachwuchs-Redakteure der TA in Dresden mit einem der deutschen Lokaljournalisten-Preise ausgezeichnet.

Wer vor fünfzig Jahren Journalist werden wollte, verbrannte sich die Finger, buchstäblich. Der Lehrling, der in einer Redaktion Volontär heißt, ging an seinem ersten Tag in die Druckerei: Das, was er geschrieben hatte, wurde von Maschinen in Blei gegossen, Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, Artikel für Artikel.

So verschwand das, was ein Redakteur dachte und schrieb, nicht in unsichtbare Computer-Sphären, sondern war fassbar: Geist wurde zu Materie – was für eine wunderbare Welt! „Schau Dir an, was Du geschrieben hast!“, sagte der Mann an der Bleisetzmaschine und forderte auf: „Greif zu!“

Der Volontär griff zu und packte die in Blei gesetzten Zeilen – und ließ sie sofort auf den Boden fallen, wo der schöne Artikel heillos zerwirbelte. Das Blei war heiß, viel zu heiß, um es gleich in die Hand nehmen zu können.

Die Setzer lachten über das alte Spiel, das schon ihre Vorfahren getrieben hatten, und bestanden auf dem Einstand: Ein Kasten Bier.

Mit beweglichen Lettern, also Buchstaben aus Blei – so druckte man Zeitungen und Bücher ein halbes Jahrtausend lang, erfunden von Johannes Gutenberg in Mainz. In wenigen Jahrzehnten am Ende des vergangenen Jahrhunderts verschwanden Blei und schwere Druckplatten, die man spiegelverkehrt lesen musste: Heute ist alles digital, fast digital. Nur den Redakteur gibt es selbstverständlich noch, doch aus dem Denker und Schreiber ist auch ein Setzer geworden dank perfekter Computer-Programme.

Die Revolution der Technik spiegelt sich auch in der Ausbildung wieder: Heute verbrennt sich kein Volontär die Finger mehr, heute braucht er nur noch seinen kleinen Computer und kann schreiben und fotografieren und filmen und telefonieren, wo immer er sich auch aufhält – und Seiten bauen für die Zeitung und das Internet.

So entstand eine Sonderausgabe des „Thüringen Sonntag“ nicht in den TA-Redaktions-Räumen, sondern in einem Kloster an der polnischen Grenze – in einer Recherche-Werkstatt zum Abschluss des Volontariats.

Es ist das Gesellenstück einer neuen Redakteurs-Generation, ein Stück das gleichzeitig für das Internet, die sozialen Netze und die Zeitung produziert wird.

Schon zu Beginn ihrer Ausbildung haben die Volontäre in einer Reportage-Woche ihr Können gezeigt: Sie porträtierten Menschen und ihre Arbeit in der Landwirtschaftsgesellschaft in Bad Langensalza – und wurden dafür gleich mit zwei Preisen für Nachwuchsjournalisten geehrt.

Was ist neu an der Ausbildung? Sie ist komplett multimedial. Die Volontäre probieren die neuen Möglichkeiten des Journalismus aus, sie wühlen und schreiben in sozialen Netzen und üben sich beispielsweise im Daten-Journalismus – der mehr ist als Googeln, der im Internet schürft und in großen, allgemein zugänglichen Datenbanken.

Doch die eigentliche Revolution spielt sich nicht nur in der Technik ab, sondern in unserer Gesellschaft: Noch nie war Kommunikation so einfach, so laut, so überwältigend und so teuer wie heute.

Wer durch die Straßen flaniert, sieht nur noch Menschen, die telefonieren oder auf ihrem Smartphone die neuesten Mitteilungen studieren. Die Welt ist zum Marktplatz geworden. Noch vor einigen Jahrzehnten war es der Journalist, der Nachrichten entdeckte und weitergab und seine Meinung dazu verkündete. Heute kann es jeder. Wird der Journalist überflüssig?

Nein, im Gegenteil – er ist wichtiger denn je, aber seine Aufgaben verändern sich.

> Der Redakteur hilft den Menschen, sich nicht hilflos in der Fülle der Informationen zu verirren: Er findet das Wichtige und sortiert das Unwichtige aus; er scheidet wirkliche Nachrichten von Gerüchten, Vermutungen und nutzloser Plauderei.

> Er erklärt intensiv, was die Welt seiner Leser und die große Welt zusammenhält; er schaut noch tiefer in die Kulissen unserer aufgeregten Zeit und erzählt Geschichten aus dem Leben statt nur sachliche und oft schwer verständliche Nachrichten weiterzugeben; er entdeckt mit List und Geschick, was die Mächtigen verheimlichen wollen.

> Er weiß, dass die Leser – und nicht nur die jungen – von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern geworden sind; sie wollen ihre Meinung sichtbar machen, sie wollen – gerade im Osten – die neue Meinungsfreiheit nutzen und genießen: Wie organisiere ich eine faire und unterhaltsame Beteiligung der Menschen? Wie entdecke ich originelle, mutige, gar kostbare Ideen und Meinungen, damit sie nicht eingehen wie Wassertropfen in dem Ozean, den wir Internet nennen?

Unsere Volontäre schauen vor allem auf die lokale Welt, auf den Alltag der Menschen, für die sie schreiben, auf die Nachbarschaft, die Heimat: Wie können wir – ob in der Zeitung oder im Internet – die Bedürfnisse der Menschen und ihre Wünsche, auch die heimlichen, erfüllen? Unsere Volontäre arbeiten mit der Lese-Forschung: Wie lesen die Menschen? Was lesen sie – und wann?

Kurzum: Die Volontäre lernen die Fähigkeit, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen. Zuallererst lernen sie allerdings, was den Journalismus seit altersher ausmacht: Gescheit die Mitmenschen zu informieren, verständlich zu schreiben – und so unterhaltsam, dass sie die Lust aufs Lesen entzünden.

Ach, werden manche Leser klagen (nicht nur Studienräte und Liebhaber unserer schönen Sprache): Lernen Sie denn auch die Beherrschung unserer Sprache?

Ja, aber wir können im Volontariat nicht alle Defizite von Schule und Hochschule ausgleichen. Wir sind nicht die einzigen, die klagen: An der größten Schweizer Journalistenschule ist vor Kurzem ein neues Fach eingerichtet worden – Grammatik.

Auch wenn böse Zungen das Gegenteil beschwören: Journalist ist ein Traumberuf – und bleibt ein Traumberuf. Wer davon träumt, sollte aber mitbringen: Respekt, wenn nicht gar Liebe zu den Menschen; Lust am Schreiben und eine große Portion Können; Erfahrung als Freier in einer Redaktion oder Inhaber eines Blogs, der ständig gefüllt und kommentiert wird.

Wer sich also bewerben will, dem sei geraten: Zeige Leidenschaft für einen der schönsten Berufe der Welt! Das Handwerk kann man erlernen, das Brennen der Leidenschaft nicht.

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Thüringer Allgemeine 27. September 2014

Facebook Kommentar von Wolfgang Kretschmer (30.9.14)

Habe als Volontär selber noch zu Schreibmaschinenzeiten „Bleisatz“ gelernt. Auf dem Arbeitstisch stand ein Töpfchen mit Pinsel und Leim („Elefantensperma“, falls man im Schreibeifer Bewässerung vergaß), um Agenturnachrichten und eigene Texte,teils in der Eile mit Sauklaue geschrieben, zusammenzuschneiden und zusammenzukleben. Bis dann der „Sätzer“, ehemaliger TAZ-Jargon, mit den Druckfahnen kurz vor Redaktionsschluss erschien und einem bewies, dass man Zeilenanschläge falsch berechnet und sich überhaupt in manchen Details geirrt hatte.

Raue rückt den „Traumberuf Journalist“ in die Nähe von Hohen Priestern demokratisch gesinnter Menschenfreundlichkeit. Wenn dem nur so wäre. Volontäre (m/w) werden in der Regel über Jahre hinweg nach Gutdünken der jeweiligen Verlage miese bezahlt und lange hingehalten mit der Aussicht auf Festanstellung. Sie erleben entweder im eigenen Verlag oder sehen an anderen Blättern das fortlaufende Zeitungssterben und fühlen sich derzeit hineingeworfen in den Orkus von Print und Online. Darauf lässt sich keine Lebensplanung aufbauen, die einem freien Geist seit jeher zu produktiver journalistischer Arbeit Raum schuf.

Erinnert sei nur an Schiller, den Publizisten, ständig bemüht, neue Einkommensquellen aufzutun. Ohne die verlässliche Zulieferung von Texten freier Mitarbeiter, den eigentlichen Seitenfüllern nicht nur in Lokalzeitungen, wäre selbst deren Redaktionsleiter oder Chefredakteur verratzt. Diee eigentliche Frage wäre also, was treibt einen überhaupt an, Volontär zu werden? Heutzutage wieder eine fast brotlose Kunst wie einmal in früheren Zeiten, obwohl immer bessere Qualifikationen erwartet werden. Ich gebe zu, als Redakteur in besseren Zeiten auch gewerkschaftlich orientiert und sehr neugierig auf Menschen unterwegs gewesen zu sein.

Ist eine Redaktion mitschuldig, wenn Bergsteiger bei einer Weltrekord-Jagd im Himalaja ums Leben kommen?

Geschrieben am 27. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Zwei deutsche Bergsteiger wollen auf zwei Achttausendern im Himalaja einen neuen Weltrekord aufstellen, werden von einer Lawine verschüttet und wahrscheinlich getötet. Spiegel-Online berichtete exklusiv und ausführlich. Deshalb stellt die Redaktion, von Spiegel-Reporter Cordt Schnibben auf Twitter herausgestellt, grundlegende Fragen:

> Welche Verantwortung bringt eine so intensive Berichterstattung mit sich?
> Befeuern wir gar durch die Aufmerksamkeit einen Trend – höher, schneller, weiter, riskanter?
> Was treibt uns?
> Und haben wir die Idee mit vorangetrieben?
> Können wir noch nüchtern berichten? In Syrien oder bei der Ebola-Tragödie stellt die Redaktion die eigene Trauer zurück, analysiert und erklärt die Folgen. „Bei den vermissten Extrembergsteigern Sebastian Haag und Andrea Zambaldi fällt uns das schwer. Es fällt uns schwer, nur unserer Arbeit nachzugehen und nüchtern zu berichten.“

Die Redaktion gibt die möglichen Antworten:

> Einfach nicht mehr berichten? Doch die Grenze zur Ignoranz wäre fließend.
> Würden wir der journalistischen Verantwortung gerecht, indem wir Themen einfach ausblendeten? Extremsportler führen uns immer wieder vor Augen, wozu Menschen in der Lage sind.
> Hätten wir sie aufhalten können? Nein.

Freud und der Deppen-Apostroph (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 27. September 2014 von Paul-Josef Raue.

An diesem Häkchen scheiden sich die Sprach-Geister: Braucht die Couch von Sigmund Freud ein Häkchen? Oder ist das Häkchen überflüssig, gar falsch, wenn sich einer auf die Freud’sche Couch legt?

In der Dienstag-Ausgabe der Thüringer Allgemeine stand auf der viel gelesenen „Thema des Tages“-Seite: „Thüringer auf der Freud’schen Couch“. War das ein freudscher Verschreiber, analog dem berühmten freudschen Versprecher?

„Deppen-Apostroph“ nennen Sprach-Puristen das Häkchen, der vor zwei Jahren an dieser Stelle schon einmal das Thema war – als Beleg für die besinnungslose Übernahme der englischen Sprache. „Ingo’s Bierstube“ und „Angela’s Haarstübchen“ waren immer öfter zu sehen und galten als klassisches Beispiel für den Verfall der Sprache.

Mittlerweile sind wir milder gestimmt. Der Duden, der große Dulder, lässt den Apostroph zu, etwa in „Willi’s Würstchenbude“: „In vielen Fällen können die Schreibenden selbst entscheiden, ob sie ihn setzen wollen oder nicht.“ 

Zu Goethes Zeiten, als das Englische keine Rolle spielte, war der „Deppen-Apostroph“ schon üblich: „Goethe’s Werke“ steht auf dem Titelblatt, als Cotta sie 1827 verlegte. Und Freud? 

Nach der Regel werden Adjektive, von Namen abgeleitet – klein geschrieben: freudsche Couch und goethesche Dramen und platonische Liebe. Schreiben wir aber den Namen groß und bilden das Adjektiv mit „sch“, um an einen Großen zu erinnern, dann müssen wir das Häkchen setzen, also „Freud’sche Couch“.

Übrigens ist  „Andrea’s Haarstübchen“ nicht nur möglich, sondern die einzig korrekte Form: „Andreas Haarstübchen“ machte aus der Frau einen Mann.

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Thüringer Allgemeine 29. September 2014

Die SZ über Lothar Matthäus Ehen: Was ist eine gute Überschrift?

Geschrieben am 21. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Herr der Ringe

Die SZ auf ihrer Panorama-Seite über eine Chronik der fünf Ehen von Lothar Matthäus. Ist dies eine gute Überschrift?

Überschriften sollen nachrichtlich sein, das ist ihre wichtigste Funktion, sagt die Leseforschung. Zu Recht: Leser wollen ihre knappe Lese-Zeit nicht mit Suchen vergeuden, sondern durch Überschrift und Foto schnell entscheiden, ob sie ein Beitrag interessiert – oder ob es sinnvoller ist weiterzublättern.

Schön darf, ja soll die Überschrift auch sein, aber nicht verspielt. „Feuilletonistisch“ schwärmen gerne Redakteure, wenn sie dichten, aber den Leser nicht informieren. Das beliebteste Spiel der verkannten Dichter ist die Anspielung an Film- oder Buchtitel, die jeder kennt (eben: „Der Herr der Ringe“) oder die Alliteration (gleicher Laut oder Buchstabe bei jedem Wort-Anfang). Ein berühmtes Beispiel aus der Bildzeitung vom 8. April 2006:

Klinsi killt King Kahn

Also: Nachrichtlich und sprachlich schön – das ist die perfekte Überschrift. Im Zweifelsfall geht die Nachricht vor der Schönheit.

Und die SZ-Überschrift „Der Herr der Ringe“? Eigentlich nur schön, aber nicht nachrichtlich. Schaut man aber auf den gesamten Beitrag, ist die Überschrift perfekt: Zu sehen sind fünf Bilder von Matthäus mit seinen Frauen; die Nachricht übermitteln die Bilder.

Am Rande sei das schönste Matthäus-Zitat erwähnt (nach dem Ende der vierten Ehe):

Manchmal schaut man dann schon in den Spiegel und denkt: Was ist das für eine Welt? Was für eine schmutzige Welt!

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Quelle: SZ 20.9.2014

Vorsicht Zahlen! Prozente sind trügerisch – und machen bei Wahlen Verlierer zu Siegern (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. September 2014 von Paul-Josef Raue.
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An Wahltagen sollten wir ein Wort in die Besenkammer sperren: Prozente – auch wenn wir zu wissen glauben, dass es die Prozente sind, die über Regierungen und Karrieren entscheiden. Aber die Prozente sind trügerisch, so wie es die meisten Zahlen sind: Man muss sie richtig einordnen, sonst richten sie mehr Schaden an als Nutzen.

So war am Abend der Landtagswahl in Thüringen bisweilen zu hören und im Internet zu lesen: Die CDU ist Wahlsieger, sie hat deutlich zugelegt – über zwei Prozent. Das stimmt nicht aus drei Gründen:

> Der Anstieg von 31,2 Prozent auf 33,5 ist ein Anstieg von gut sieben Prozent. Gemeint war aber der Abstand; der beträgt nur zwei Prozent-Punkte. Nur: Wer versteht, zumal im Eifer eines nervösen Wahlabends, was „Prozentpunkte“ bedeutet?

> Schauen wir uns nicht die Prozente an, sondern die Zahl der Stimmen: Dann hat die CDU über 14.000 Wähler verloren im Vergleich zur Landtagswahl 2009. Die anderen Parteien haben übrigens, relativ gesehen, noch mehr Wähler verloren: Die Linke doppelt so viel wie die CDU, die Grünen vier Mal so viel, die SPD fast zehn Mal so viel.

> Aber auch der Vergleich der Stimmen trügt. Thüringen schrumpft, die Zahl der Wähler ist um gut fünf Prozent geringer als vor fünf Jahren. Wer noch Lust hat zu zählen, etwa im Mathematik-Unterricht, der rechne aus, ob sich überhaupt eine Partei als Sieger feiern darf – von der AfD abgesehen, die erstmals auf dem Wahlzettel stand.

Da die Zahl der Stimmen erst in der Nacht mit dem Endergebnis vorliegt, werden wir am Wahlabend wohl weiter mit den Prozenten rechnen müssen. Es ist einfach und überschaubar, aber eben trügerisch.

Übrigens: In diesem Text kommen vier Zahlen vor, als Ziffern geschrieben. Die Lese-Forschung hat herausgefunden, dass die meisten spätestens nach der vierten Zahl aufhören zu lesen. Zahlen machen Menschen eben nervös, so oder so (und ich hoffe, alles richtig gerechnet zu haben).

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Thüringer Allgemeine 22. September 2014, Friedhof der Wörter

Prozente berechnet mit Prozentrechner.net

Die Zahlen (Landtagswahl 2014 Thüringen):

CDU verliert an Stimmen 4,3 Prozent
Die Linke 8,1
Die Grünen 17,7
Die SPD 40,2

Wahlberechtigten-Zahl schrumpft um 5,1 Prozent

Wenn die Sprache Zickzack läuft: „Geistlich“ oder „geistig“?

Geschrieben am 19. September 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 19. September 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, D. Schreiben und Redigieren.

Ein Leser wunderte sich, als er am gestrigen Freitag auf der dritten Seite der Thüringer Allgemeine vom neuen Erfurter Bischof las als dem „geistigen Oberhaupt“: „Ich kam ins Grübeln über „geistige“ und „geistliche“ Oberhäupter. Ein flüchtiges Suchen im Internet brachte mir noch keine Erleuchtung, ob ich den neuen Bischof als mein geistiges oder geistliches Oberhaupt ansehen soll. Vielleicht können Sie ja tiefer in die Materie einsteigen?“

TA-Chefredakteur antwortete in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Eigentlich müsste es „geistliches Oberhaupt“ heißen. In unserem Sprachgebrauch hat „geistlich“ die Bedeutung von „religiös“; so sprechen wir auch vom Dalai Lama als dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter. Im engeren Sinne meint es bei uns „christlich“ oder „katholisch“; so nennen die Katholiken ihre Priester auch „Geistliche“.

„Geistig“ hingegen hat wenig mit der Religion zu tun: Es bedeutet in der Regel „intelligent“. Wer ein Kopfmensch ist, logisch denken kann, der ist „geistig gesund“ – im Gegensatz zu geistig behinderten oder geistig verwirrten Menschen.

Allerdings geht es auch heute, nicht nur auf der dritten TA-Seite, munter durcheinander: mal geistig, mal geistlich – wobei die Statistik das „geistliche Oberhaupt“ klar vorne sieht.

Auch in der Geschichte unserer Sprache wechselte die Bedeutung von Jahrhundert zu Jahrhundert: Mal wurden die beiden Wörter sinngleich benutzt, dann verschwand – beispielsweise vor fünfhundert Jahren – das Wort „geistig“ nahezu komplett aus unserer Sprache. Luther definierte etwa: „Das muss ja geistlich heißen, was der Geist tut und vom Geist kommt“; das nennen wir heute eben „geistig“ und nicht geistlich.

Und Goethe schrieb aus Weimar an seinen Freund Herder, als der sich in Italien herumtrieb: „Deine Frau besuche ich von Zeit zu Zeit und öfter, wenn der geistliche Arzt nötig sein will.“ Aber da meinte der Geheimrat keinen religiösen Seelentrost, sondern seinen Trost des Geistes.

Es gibt noch eine Bedeutung von „geistig“, die wir scherzhaft heute noch bei einem Glas Wein oder Bier nutzen. In einem Leipziger Lexikon von 1731 finden wir sie schon: „Einige Brauer decken den Kessel fest zu, damit das Bier geistiger und stärker bleibe.“

Vielleicht ist der neue Erfurter Bischof ja all dies zusammen: Geistlich und geistig – und ein Freund edler geistiger Getränke.

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Thüringer Allgemeine 20. September 2014

„Es gibt viele Ecken in der Redaktion, die sich vehement gegen den digitalen Wandel sträuben“ (Zitat der Woche)

Geschrieben am 19. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Auch wenn viele Chefredakteure wissen, dass ihre Teams schnell und agil sein müssen, um im wachsenden Wettbewerb mit digitalen und sozialen Medien zu bestehen, gibt es viele Ecken in den Redaktionen, die sich vehement gegen den Wandel sträuben.

Aus der Einladung der WAN-Ifra zu einer Diskussion in Amsterdam, an der zum Beispiel teilnehmen der Digitalchefredakteur bei La Stampa, und die Chefredakteurin für Digitale Innovation bei den Trinity Mirror Regionalzeitungen. Präsentiert werden bei der Expo im Oktober „die besten Beispiele, wie Chefredakteure dieser Herausforderung begegnen und ihre Redaktion mit der digitalen Welt in Einklang bringen können“.

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