Beerdigen wir die „neuen Länder“: Sie bleiben nicht ewig jung (Friedhof der Wörter)
Sind Thüringen und Sachsen wirklich neue Länder? Die Sachsen waren ein munteres und aufsässiges Völkchen schon im dritten und vierten Jahrhundert, so dass die Sachsen ihre Jugend schon lange hinter sich haben.
Da sind die Thüringer ein wenig älter, aber mit einer anderthalb Jahrtausende währenden Geschichte auch nicht mehr wirklich jung. Im vierten oder fünften Jahrhundert taucht der Name auf, danach geht es – wie bei den Sachsen – turbulent zu: Die Grenzen verschieben sich, mal wird’s größer, mal wird’s kleiner. Erst als sich die feudalen Familien aus der Geschichte verabschieden, vereinigen sich sieben Freistaaten, aber lassen Erfurt noch draußen vor der Landestür.
Doch genug von der Geschichte des schönsten deutschen Landes, über die man Wälzer geschrieben hat. Über Baden-Württemberg kann man keine Wälzer schreiben. Dies Retortenland gibt es erst seit 1952.
Dicker werden auch nicht die Geschichtsbücher von Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Licht der Geschichte traten.
Welches sind also die neuen Länder? Nicht die, die wir gerne als die „neuen Länder“ bezeichnen – als habe die deutsche Geschichte erst mit der Vereinigung 1990 begonnen. Selbst wenn wir den 3. Oktober 1990 als Beginn einer Zeitrechnung nehmen, dürften wir 23 Jahre danach das „neu“ streichen. So lange dauert „neu“ nicht.
Wer seine Liebe wechselt, den Freunden seine „neue“ Frau vorstellt, der wird sie nach 23 Jahren nicht mehr als „neu“ präsentieren. Es wäre peinlich. Nach 23 Jahren gehört sie dazu, in guten wie in schlechten Zeiten.
So sollten wir es auch mit Thüringen und Sachsen und Brandenburg und den beiden Doppel-Ländern im Osten halten: Ihre Jugend im vereinten Deutschland ist vorbei. Man bleibt nicht ewig jung.
Also beerdigen wir die „neuen Länder“ auf dem Friedhof der Wörter, die „jungen Länder“ gleich mit und nehmen wir die Himmelsrichtung: Die Länder im Osten.
THÜRINGER ALLGEMEINE, geplant für den 7. Oktober 2013
Die zynischen Mechanismen öffentlicher Empörung: Eine Redakteurin wird Oberbürgermeisterin und verzweifelt
Man wird unglücklich, wenn man erst einmal in der Mühle drin steckt. Man wacht um vier Uhr nachts auf, voller Angst, weil um halb fünf die Zeitung mit der nächsten üblen Geschichte vor der Tür liegt.
So spricht heute Susanne Gaschke (SPD), Oberbürgermeisterin in Kiel, zuvor Redakteurin bei der Zeit.
Die Süddeutsche widmet Susanne Gaschke die Seite Drei (30. September) wegen ihrer Verstrickungen in einem Skandal, in dem sie schmerzhaft spürt – diesmal auf der anderen Seite – „wie hartnäckig eine empörte Menge aus Journalisten, Opposition, Netzgemeinde sich an die Fehlersuche machen kann, wie viel Häme und Unterstellungen damit eingehen, wie zynisch die Mechanismen öffentlicher Erregung sein können.
Eine aufschlussreiches Porträt liefet Charlotte Parnack in „Von der Rolle“: So schwer ist der Rollenwechsel von der Redaktion ins Rathaus, in die Politik. Die Journalistin kannte und recherchierte Skandale – „aber sie kannte sie nur aus dem warmen Kokon der Redaktion heraus“.
„Es gibt kein Problem, die Leser zu erreichen.“ Interview mit Lars Haider, Chefredakteur Hamburger Abendblatt
Lokaljournalismus sei lange Zeit in seiner Bedeutung unterschätzt worden, glaubt Lars Haider. In einer Zeit, in der Informationen aus allen Teilen der Welt ununterbrochen auf einen einprasselten, sei die regionale Berichterstattung für viele Leser heute jedoch um so wichtiger. „Der Deutsche Lokaljournalistenpreis ist für die Motivation und das Renommee dieser Zeitung deshalb besonders wichtig, weil einerseits das Konzept und gleichzeitig die Arbeit der gesamten Redaktion auszeichnet werden“, so der Chefredakteur des Hamburger Abendblatts im Interview mit „Kas.de“, der Online-Redaktion der Konrad-Adenauer-Stiftung; dort auch ein Podcast des Interviews.
Herr Haider, herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Lokaljournalistenpreis, den Sie sich mit der Thüringer Allgemeinen teilen. Ihre Zeitung, das Hamburger Abendblatt, demonstriert mit seinem crossmedialen Stadt-Konzept modernen Lokaljournalismus in all seinen Facetten. In der Jurybegründung heißt es dazu: „Die Redaktion begegnet dem Leser auf Augenhöhe, bietet ihre guten Dienste an und agiert souverän crossmedial.“ Erklären Sie doch mal, welcher Ansatz Ihrer Arbeit zugrunde liegt.
Lars Haider: Unsere Idee ist, dass eigentlich jeder in der Redaktion, ganz egal, ob er jetzt im Kultur-, Wirtschafts- oder Sportressort arbeitet, gleichzeitig auch noch Lokaljournalist ist und mit offenen Augen durch die Stadt geht. Daher hat fast jeder Redakteur – weil wir mehr Redakteure als Stadtteile haben – die Patenschaft für einen Stadtteil übernommen, diesen Stadtteil vorgestellt, die Straßen darin begangen und gestestet und soll eigentlich auch so etwas sein wie ein Ansprechpartner, wenn in diesem Stadtteil etwas passiert.
Der Deutsche Lokaljournalistenpreis gilt als einer der renommiertesten Preise seiner Branche. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat einmal gesagt, der Preis sei einer der bedeutendsten Auszeichnungen für Regionalzeitungen im deutschsprachigen Raum. Man erhält den Preis nicht einfach so, sondern man muss sich bewerben und vor einer fachkundigen Jury um Dieter Golombek bestehen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Der Preis ist für Regionalzeitungen mit Sicherheit nicht nur einer der wichtigsten, sondern DER wichtigste Preis. Ich würde ihn zu den vier wichtigsten Preisen in Deutschland zählen und zwar auf Augenhöhe mit dem Henri-Nannen-Preis, dem Wächterpreis und dem Theodor Wolff Preis. Das Besondere an diesem Preis ist, dass er ein Konzept auszeichnet. Es gibt viele gute Reporter und Journalisten, denen richtig gute Texte gelingen und dann bekommt einer einen Preis und darüber freuen wir uns auch.
Aber mit diesem Preis wird einerseits das Konzept ausgezeichnet und andererseits die gesamte Redaktion. Das ist für die Motivation und das Renomee dieser Zeitung etwas ganz anderes. Deshalb ist mir der Deutsche Lokaljournalistenpreis mit Abstand der wichtigste Preis. Er ist ja auch einer der Preise, für den sich am meisten Zeitungen bewerben. In diesem Jahr waren es mehr als 700. Da zu gewinnen, ist einfach großartig.
Sie haben bereits 2005 mit den Elmshorner Nachrichten und 2009 mit dem Weserkurier den Lokaljournalistenpreis erhalten. Man könnte also sagen, dass Ihnen der Lokaljournalismus offenbar eine Herzensangelegenheit ist. Was treibt Sie an?
Was mich antreibt, ist etwas, das seinerzeit auch der Gründung des Deutschen Lokaljournalistenpreises zugrunde lag, nämlich das Problem, dass Lokaljournalismus lange Zeit belächelt wurde. Politik- und Wirtschafts- und Kulturredakteure waren die tollen Journalisten und bei den Lokaljournalisten hieß es immer, das sind die, die zum Kaninchenzüchterberein gehen. In meiner zwanzigjährigen Zeit als Journalist habe ich noch nie eine Geschichte über Kaninchenzüchtervereine geschrieben und auch noch nie eine Geschichte darüber gelesen in einer Regionalzeitung, für die ich gearbeitet habe.
Mein Ziel ist es, den Lokaljournalismus auf die gleiche Stufe zu stellen und seine Qualität ständig zu verbessern. Das treibt mich an und es ist vielleicht auch die schönste Aufgabe im ganzen Journalismus.
In Zeiten von Globalisierung und weltweiter Mobilität erlebt Heimatverbundenheit eine Art Renaissance. Die Lokalzeitungen stellen sich mit unterschiedlichem Erfolg auf das Bedürfnis nach noch mehr Berichterstattung über lokale Ereignisse ein. Ist diese Entwicklung eine Gegenreaktion auf die Vielfalt und damit verbundene Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt?
Sie sagen es. Es wird immer schwieriger, die Welt zu verstehen, weil man immer mehr Informationen aus Teilen der Welt bekommt, von deren Existenz man vor fünf Jahren noch gar nichts wusste. Man kann alles erfahren und das wird sehr unübersichtlicht. Auch habe ich manchmal das Gefühl, man weiß mehr über Dinge, die in Amerika passieren, als über Vorkommnisse bei mir in der Nachbarschaft.
Ich glaube, dass die Leute sich heute einerseits für die großen, globalen Zusammenhänge interessieren – viel stärker als früher und natürlich auch viel mehr Quellen haben, weil man alle Informationen heute überall und kostenlos bekommt – andererseits gibt es aber ein zunehmendes Interesse daran, was im direkten Umfeld passiert.
Das Problem für Regionalzeitungen ist die Ebene dazwischen. Nehmen wir das Beispiel Hamburg. Ich wohne in einem Stadtteil, der Alsterdorf heißt. Der ist gar nicht so weit vom Stadtteil Winterhude entfernt, aber ganz ehrlich interessieren sich die Leser aus Alsterdorf in erster Linie dafür, was in Altsterdorf passiert, auch wenn Winterhude nur drei Kilometer entfernt liegt. Es zu schaffen, den Menschen einer Großstadt wie Hamburg, immer möglichst viele Informationen aus ihrem direkten Umfeld zu bieten, ist die große Herausforderung.
Immer wieder wird den Zeitungen vorgeworfen, nicht genügend neue Ideen für kreative Geschäftsmodelle zu haben. In dieser Diskussion kommt auch immer wieder das Thema Leistungsschutzrecht der Presseverlage zur Sprache. Was sind Ihrer Meinung nach geeignete Rezepte in einer Zeit, in der die Auflagen massiv einbrechen und Internet, Smartphones und Tablet-PCs zunehmend die klassische Zeitungslektüre ablösen?
Die Auflagen der Zeitungen gehen zurück und wir erreichen auf Papier deutlich weniger Leser als früher. Dafür hatten wir andererseits aber früher null Leser auf anderen Kanälen. Wir haben beim Hamburger Abendblatt im Monat heute mehr als zwei Millionen Menschen, die eines unserer Mobilangebote nutzen, zwischen 60.000 und 100.000 Leser allein auf Smartphones. Es gibt also kein Problem, die Leser zu erreichen.
Es stellt sich aber die Frage nach der Wirtschaftlichkeit einer Redaktion und des Journalismus allgemein. Jedoch darf es aus meiner Sicht nicht Aufgabe von Journalisten sein, kreative Ideen zu entwickeln, um Geld zu verdienen.
Unsere Aufgabe muss es sein, hochseriösen, unterhaltsamen und gut verständlichen Journalismus zu machen. Wie sich der dann vermarkten lässt, kann per se nicht unsere Aufgabe sein, denn dann würden wir in die eine oder andere Form Dinge tun, die mit dem Journalismus, wie ich ihn möchte, nichts zu tun haben. Wir würden dann zum Beispiel über bestimmte Anzeigenkunden besonders positiv schreiben. Oder wir würden uns Umfelder überlegen, die sich besonders gut vermarkten lassen. Das darf nicht passieren. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir tun und lernen, auch darauf stolz zu sein. Journalismus ist keine Ware, sondern am Ende die Voraussetzung für Demokratie und Freiheit.
Vor einiger Zeit wurde bekannt, dass sich die Axel Springer AG von einigen Zeitungen, darunter auch dem Hamburger Abendblatt, trennen wird. Manchem Kommentatoren galt dieser Schritt von einem der größten Medienhäuser Europas als Zeichen des Abgesangs auf die klassische Zeitung. Welche Auswirkungen wird der Wechsel in die Funke Mediengruppe ab 2014 für Ihre Arbeit haben?
Ich sehe im Moment und mittelfristig überhaupt keine Veränderung, denn letztendlich wechselt nur der Eigentümer. In der Berichterstattung sind auch einige Dinge komplett durcheinander gebracht worden. Man kann sich diesen Deal aus verschiedenen Blickwinkeln anschauen. Man kann sagen, Axel Springer hat das Abendblatt und andere Zeitungen verkauft. Man kann aber auch sagen, die Funke Mediengruppe hat das Abendblatt gekauft. Wir beim Abendblatt haben lächelnd zur Kenntnis genommen, dass das Hamburger Abendblatt mehr wert ist als die Washington Post. Das ist für Regionalzeitungen in Deutschland kein schlechtes Signal.
Blicken wir zum Abschluss kurz gemeinsam auf den großen Tag. Am 30. September erhalten Sie in einem Festakt die Urkunde für den Deutschen Lokaljournalistenpreis. Wissen Sie schon, wo diese Urkunde einen festen Platz bekommen wird?
Gute Frage. Wir sind Hanseaten und der Hanseat neigt dazu, solche Dinge einfach in einen Schrank zu stellen. Da liegen auch schon relativ viele Preise, die das Abendblatt in den vergangenen fünf bis zehn Jahren gewonnen hat. Ich glaube, wir müssen eine geeignete Fläche dafür in unserem Newsroom schaffen. Da gibt es eine schöne Wand, wo man diese ganzen schönen Preise vielleicht in ein gläsernes Regal stellt könnte. Denn bei aller hanseatischen Zurückhaltung ist es eigentlich eine Schande, dass alles in einem kleinen Safe bei mir liegt. Es muss ja auch irgendwie zu sehen sein.
Meistgeklickt: Golombek-Interview und die Brand-Gegenrede einer Retterin
Die guten Lokalteile werden immer besser, die schwächeren bewegen sich auf das Niveau von Anzeigenblättern zu – das ist die zentrale Aussage im großen Interview mit Dieter Golombek, dem Nestor des deutschen Lokaljournalismus, zur Verleihung des Deutschen Lokaljournalismus auf der Wartburg.
Das sind die fünf meistgeklickten Blogs in der letzten Septemberwoche:
2. “Ihr habt nur den großen Mund!” – Wie eine Retterin auf eine Facebook-Diskussion reagiert“
Eine Familie stirbt bei einem gräßlichen Unfall, nur ein Kind überlebt und ringt mit dem Tod. Eine Retterin reagiert entsetzt auf die Reaktionen im Internet – und setzt zu einer beeindruckenden Gegenrede an.
Die Thüringer Allgemeine gewinnt, zusammen mit dem Hamburger Abendblatt, den Deutschen Lokaljournalistenpreis. Die Online-Redaktion der Konrad-Adenauer-Stiftung führt das Interview zum Preis mit dem TA-Chefredakteur
4. „Ist man zum Lokalreporter geboren?“ (Dieter-Golombek-Interview, Teil 2)
5. „Was die Leser immer wieder stört: Das Elend der Fremdwörter“
Selbst Feuilleton-Leser schütteln den Kopf, wenn Redakteure ihre Texte so schreiben, dass sie nur mit Hilfe eines Fremdwörterbuchs zu verstehen sind.
„Wo eine gute Lokalredaktion ist, verändert sich die Politik einer Stadt“ – Interview, Deutscher Lokaljournalistenpreis
Für die Serie „Die Treuhand“, einer Geschichte über die friedliche Revolution auf dem Arbeitsmarkt, wird die Thüringer Allgemeine neben dem Hamburger Abendblatt in diesem Jahr mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Vor der Preisverleihung am 30. September auf der Wartburg hat der Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, Paul-Josef Raue, im Interview mit der Online-Redaktion der KAS das Konzept hinter der Serie vorgestellt und sich über die wachsende Bedeutung des Lokalen geäußert.(Podcast auf kas.de)
Herr Raue, herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Lokaljournalistenpreis, den Sie sich mit dem Hamburger Abendblatt teilen. Sie erhalten den Preis für die Serie „Treuhand in Thüringen“, die vorbildlich zeigt, wie ein brisantes politisches Thema lokal und regional umgesetzt und damit eine lebendige Debatte entfacht wird. In einem Leserbrief an die Thüringer Allgemeine heißt es: „Die Serie ‚Treuhand in Thüringen’ ist sehr interessant, bringt sie doch zum Ausdruck, was in der Zeit des Umbruches so gelaufen ist oder auch nicht’.“ Bitte schildern Sie uns, welches Konzept hinter der Serie steckt.
Raue: „Die Treuhand“ ist im Grunde die Geschichte der friedlichen Revolution auf dem Arbeitsmarkt. Da die DDR-Wirtschaft völlig zusammengebrochen ist, waren mit einem Schlag Millionen von Menschen arbeitslos. Man musste also zusehen, dass man die Unternehmen aus der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft bekommt, den Menschen möglichst viele Arbeitsplätze anbietet und viele Firmen in die neue Zeit hinein retten kann.
Wenn man allein das schon sieht, ahnt man, wie viele Millionen menschliche Schicksale sich dahinter verbergen. Es gab kein historisches Vorbild. Es gab eine friedliche Revolution, dann ist ein System zusammengebrochen und es musste ein neues Wirtschaftssystem etabliert werden – das hat vorher keiner geschafft und es war vorher auch noch keiner in dieser Lage.
Diese Zeit hat sehr viel Elend über die Menschen gebracht, aber auf der anderen Seite ist eine Wirtschaft entstanden, die sich mittlerweile mit den meisten Volkswirtschaften in Europa messen kann. Thüringen ist das wirtschaftlich stärkste der fünf neuen Bundesländer.
Aber die drei, vier Jahre nach der Wende sind seltsamerweise aus dem Bewusstsein der Menschen ausgeklammert. Man kann sogar sagen, es ist ein Tabu geworden. Die am lautesten ihre Kritik äußern, sagen, alles was schlecht an der Wiedervereinigung war, ist Treuhand. Auf politischer Ebene wird dies von den Linken als Beweis dafür genommen, dass der Westen den Osten bis heute nicht ernst nehmen würde.
Zwischen diesen beiden Positionen schwanken die Meinungen. Die Menschen sehen diese Zeit rückblickend als nicht besonders positiv. Wir wollten das Thema aus der Tabu-Zone holen und haben nachgeforscht – was bisher keiner getan hat – wir wollten wissen, was wirklich in der Zeit passiert ist.
Welche Abläufe gab es? Stimmen die Vorurteile? Müssen wir die Vorurteile revidieren? Wer hat was getan? Wir haben gemerkt, dass wir dazu mit den Menschen reden und in die Archive gehen müssen. Und schlussendlich auch aufschreiben müssen. Das hat uns etwa anderthalb Jahre gekostet.
Daraus ist eine 60-teilige Serie entstanden, die weitergeführt wird und ein Buch, dass sich auch im Westen sehr gut verkauft. Hinzu kommt noch der Preis, über den wir uns sehr gefreut haben.
Der Deutsche Lokaljournalistenpreis gilt als einer der renommiertesten Preise seiner Branche. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat einmal gesagt, der Preis sei einer der bedeutendsten Auszeichnung für Regionalzeitungen im deutschsprachigen Raum. Den Preis erhält man nicht einfach so, sondern man muss sich bewerben und vor einer fachkundigen Jury um Dieter Golombek bestehen. Was war für Sie initiativ, um sich für den Preis zu bewerben?
Es ist das dritte Jahr, in dem wir uns mit einer historischen Serie beworben haben. „Treuhand“ ist Teil einer Trilogie. Wir wollten die Zeit der Revolution und der davor aufarbeiten und für die Menschen lebendig machen. Wichtig ist dabei, sie nicht Historikern zu überlassen, sondern Menschen zu Wort kommen zu lassen.
Der erste Teil hieß „Meine Wende“ und hatte auch einen Spezialpreis beim Lokaljournalistenpreis vor zwei Jahren erhalten. Darin haben Menschen geschildert, wie sie seelisch die Wende – wobei ich das Wort nicht mag – diesen Umschwung mitbekommen haben. Es war nicht die Frage, wann ich in Eschwege das erste Mal einkaufen war, sondern was ist mit mir seelisch passiert. Ein höchst bewegendes und auch widersprüchliches Buch.
Der zweite Teil der Trilogie war die Grenzwanderung. Wir sind den größten Teil der alten Grenze von Thüringen abgewandert. Meter für Meter sind wir wochenlang gelaufen und haben geschildert, wie es den Menschen heute und zur Zeit der Wende ging und natürlich auch das geschildert, was vorher passiert ist. Wir haben die Geschichte der Grenze beschrieben, worüber kurioserweise zuvor keiner geschrieben hatte.
Der dritte Teil behandelt das Tabuthema Wirtschaft. In der Serie wird die friedliche Revolution noch einmal in der Erfahrung der Menschen gespiegelt, die ihre Arbeit verloren oder wiedergewonnen haben. Was man in dem Zusammenhang nicht vergessen darf, ist, dass sehr viele sich selbständig gemacht haben. Thüringen ist ein Musterbeispiel für mittelständische Industrie und sogar Weltmarktführer in einigen Nischenprodukten.
In der Serie haben wir die Frage gestellt: Wie ist das entstanden und was hat es mit den Menschen gemacht? Weil wir die Trilogie damit abgeschlossen haben, haben wir uns damit beworben und auf einen der kleineren Preise gehofft. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir den ersten Platz beim Deutschen Lokaljournalistenpreis erhalten.
Was bedeutet Ihnen persönlich diese Auszeichnung und was bedeutet Ihrer Redaktion dieser Preis?
Ich habe nicht zum ersten Mal diesen Preis gewonnen, aber es war der, über den ich mich am meisten gefreut habe. Es war auch der, der am schwersten erarbeitet worden ist. Als ich nach Erfurt kam, folgte ich einem Chefredakteur, der fast 20 Jahre die Redaktion geleitet hat. Hinzu kam, dass ich der erste Westdeutsche in leitender Position war. Da hat die Redaktion auch mit sich und dem Chefredakteur gerungen und es gab Auseinandersetzungen, die zum Teil auch öffentlich waren.
Ich will es so sagen: Es hat der Redaktion gut getan, denn sie hat gemerkt, dass diese Kämpfe nicht nur innere oder Abwehrkämpfe waren, sondern die Redaktion hat auch gezeigt, welche Kraft in ihr steckt – was sie an Recherche schafft, an journalistischer Potenz und Professionalität besitzt. Dieser Preis ist für die Redaktion enorm wichtig.
Wir merken gerade jetzt, dass wir im Vergleich zu anderen Lokalzeitungen die intensivste und durchdachteste Berichterstattung vom NSU-Prozess haben. Wir sind jeden Tag mit mindestens einem Redakteur im Gerichtssaal dabei und sehr stark online. Dieser Preis unterstreicht die Professionalität der Redaktion und er hat Kräfte freigesetzt, die die Thüringer Allgemeine zu einer der großen Zeitungen machen wird.
In Zeiten von Globalisierung und weltweiter Mobilität erlebt Heimatverbundenheit eine Renaissance. Die Lokalzeitungen stellen sich mit unterschiedlichem Erfolg auf das Bedürfnis nach noch mehr Berichterstattung über lokale Ereignisse ein. Ist diese Entwicklung eine Gegenreaktion auf die Vielfalt und Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt?
So wird es immer dargestellt. Man muss sich mal die Geschichte dieses Preises anschauen. Vor gut 30 Jahren hat man angefangen dem Lokaljournalismus die Bedeutung in Deutschland zu geben, die er verdient. Damals wusste man noch gar nicht, dass irgendwann das Internet kommt. Lokaljournalismus ist für eine Demokratie extrem wichtig, weil so die Menschen verstehen, wie ein Gemeinwesen tickt, wie es funktioniert – und dass man sich engagieren kann. Dafür braucht es aber einen funktionierenden Journalismus und eine Zeitungslandschaft.
Damals war es der Sprecher der Jury, Dieter Golombek, der das Lokaljournalistenprogramm aufgesetzt hat. Ich glaube, in den vier Jahrzehnten hat sich der Lokaljournalismus von einer Honoratioren-Berichterstattung hin zu einer wirklich ernstzunehmenden Professionalität entwickelt.
Wenn Sie sich die Entwicklung des Preises anschauen, sehen Sie das ziemlich gut. Ich denke, dass die Entwicklung unserer Demokratie sehr viel damit zu tun hat, und der Lokaljournalismus sehr viel stärker geworden ist. Er ist kritischer in den Städten geworden.
Ich bin davon überzeugt, wo eine gute Lokalredaktion ist, verändert sich auch eine Politik in einer Stadt. Wenn ich einiges nicht mehr in meinem Hinterstübchen machen kann und damit rechnen muss, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, mache ich eine andere Politik. Erstmal hat das mit dem Internet relativ wenig zutun.
Aber es hat damit zutun, dass Menschen sich für ihre Nachbarschaft und ihre unmittelbare Umgebung interessieren, denn da können sie etwas bewirken.
In Brüssel oder in New York bei der Uno etwas zu bewirken – da muss man schon sehr euphorisch sein. Aber in seiner eigenen Stadt oder Dorf etwas zu bewegen, dafür muss man nicht euphorisch sein, das kann man lernen und dazu braucht es die Lokalzeitungen, um seine Chancen zu erkennen.
Dieter Golombek sagte einmal in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen: „Es reicht für die Zeitungen nicht mehr aus, die Leser mit Neuigkeiten zu versorgen.“ Wie sieht für Sie die Zukunft des Lokaljournalismus’ aus?
Das ist richtig. Aktualität spielt allerdings auch noch im Lokalen eine Rolle. Man sollte das nicht unterschätzen. Die Zeitungen haben das Privileg des aktuellsten Mediums endgültig an das Internet und Fernsehen abgegeben. In der Stadt ist es noch ein bisschen anders. Zumal es auch Zeitungen sind, die das Neue erst herausbekommen und recherchieren müssen. Sie glauben gar nicht, was hinter alten Rathausmauern alles passiert und was alles keiner mitbekommen soll. Das ist das eine.
Das zweite ist, den Menschen zu erklären, was dort passiert. Nehmen Sie die Serie „Treuhand“. Es muss jemand Zeit, Geduld und das Können besitzen, um in 30.000 Dokumenten zu suchen und zu schauen, was damals passiert ist. Einen Großteil dieser Dokumente sollten wir eigentlich gar nicht erhalten. Die liegen noch irgendwo verschlossen. Darum geht es: Du musst den Menschen das Fundament des Gemeinwesens zeigen, in dem wir leben und das unsere Heimat ist.
Dies ist die Hauptaufgabe von Lokalzeitungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Ob dies auf Papier oder im Internet geschieht, wird sich zeigen. Ich denke aber, dass das Papier im Lokalen noch sehr wichtig sein wird. Weil, wenn man länger und intensiver lesen möchte, ist das Papier das bessere Trägermedium.
Immer wieder wird den Zeitungen insgesamt vorgeworfen, nicht genügend neue Ideen für kreative Geschäftsmodelle zu haben. Stimmt das? Wenn ja: Was sind die Gründe? Gibt es Geschäftsmodelle mit denen der Lokaljournalismus überleben kann? Zum Beispiel aktuell das Leistungsschutzrecht für Presseverlage?
Ich denke, das Leistungsschutzrecht zeigt den Weg an, in den das Ganze gehen muss. Das wir unsere Inhalte verschenken, ist unsinnig, denn jemand muss unseren Journalismus bezahlen. Guter Journalismus ist sehr teuer. Das funktioniert im Augenblick noch, indem quer subventionieren. Aber die Diskussion scheint mir beendet zu sein. Wir wissen, dass wir unsere Inhalte im Print- und Onlinebereich verkaufen müssen.
Die entscheidende Frage, die nun kommen wird, ist: Sind es dieselben Formate, mit denen wir Zeitungsleser und Onlineleser gewinnen können? Dazu kann ich ein Beispiel aus der vergangenen Woche geben. In Erfurt gibt es ein großes Festival namens „Domstufenfestspiele“. Wir haben zum ersten Mal einen Liveticker von einer Opernpremiere gemacht. Das war eine Mischung aus Erlebnisschilderungen, Bildern und Videos. Die Menschen vor Ort haben sich dazu eingeschaltet, und es gab einen Dialog mit den Lesern. Das sind Formate, mit denen wir experimentieren müssen.
Was sich dann schlussendlich in Geld verwandeln lässt, wird sich zeigen. Der Lokaljournalismus war in den vergangenen Jahren sehr innovativ, und wir werden auch in der Onlinewelt viel Neues entdecken. Die Treuhand-Serie ist mittlerweile ein großes Archiv, in dem viele Firmen zu finden sind. Die Serie werden wir sicherlich irgendwann bezahlbar machen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Wir haben den Preis zusammen mit dem Hamburger Abendblatt gewonnen. Die Kollegen haben den Preis für die Vermessung Hamburgs bekommen. Auch wir haben zurzeit eine Serie laufen, die heißt „Thüringen vermessen“, aber sie unterscheidet sich ein wenig von den Hamburgern.
Sie werden sämtliche Orte Thüringens dort wiederfinden. Das wird natürlich ein Angebot für jemanden, der nach Thüringen zieht oder geschäftliche Beziehungen knüpfen will, sein. Er kann es dann nutzen und bezahlt dafür.
Am 30. September erhalten Sie in einem Festakt die Urkunde für den Deutschen Lokaljournalistenpreis. Wissen Sie schon, wo die Urkunde einen festen Platz bekommen wird?
Die Redaktion ist in einem Loft mit Blick auf den Thüringer Wald untergebracht, dort haben wir eine große Wand. An dieser wird sie dann als dritte Auszeichnung der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgehängt. Doch der diesjährige Preis ist uns der liebste, weil er der erste Preis ist. Darauf sind wir sehr stolz.
„Ihr habt nur den großen Mund!“ – Wie eine Retterin auf eine Facebook-Diskussion reagiert
Bei einem Auto-Unfall kommt in einer Nacht eine Familie ums Leben, nur das Kind überlebt, aber ringt mit dem Tod. Auf die Online-Meldung der Thüringer Allgemeine und der Facebook-Debatte zur Schuld antwortet eine Helferin auch auf Facebook. Es ist einfach ein bewegendes Dokument (leicht gekürzt und redigiert):
Mein Beileid an die Familie und meinen Kameraden aus Gräfentonna und umliegenden Orten, viel Kraft zum Verarbeiten des Ganzen. Da denkt auch immer keiner von den Schimpfern hier dran, dass sowas Schreckliches nicht nur die direkt am Unfall beteiligten Personen betrifft, sondern auch die Retter.
Ihr habt das ja zum Glück noch nie erlebt, wie sich das anfühlt, wenn man an sone Einsatzstelle kommt und so ein Massaker sieht. Wenn man betet, dass die Leute da drin noch halbwegs ganz sind.
Ihr habt noch nie die Schreie gehört, bei denen ihr denkt, es ist ein Kind. Ihr sucht verzweifelt nach nem Kind – und der, der schreit, ist ein erwachsener Mann. Ihr habt noch nie die zertrümmerten Gesichter von den Unfallopfern gesehen und später erfahren, dass ihr den kennt.
Ihr kennt nicht das Geräusch, wenn man mit schwerem Gerät ein völlig zerstörtes Auto so schnell wie möglich aufzuschneiden versucht, um die Leute, die alle Hoffnung in einen setzen, da raus zu holen. Ihr kennt nicht die Frustration, wenn sie es dann doch nicht schaffen.
Ihr habt nur den großen Mund. Ihr solltet mal dabei sein. Da ist euch das völlig egal, ob und wer Schuld hat. Und die Jungs und Mädels machen das freiwillig. Für nichts! Einfach so! Weil sie Menschen sind.
Was die Leser immer wieder stört: Das Elend der Fremdwörter
Die Leser klagen, die Leser zürnen, die Leser wenden sich ab – wie Silke Müller aus Erfurt, die seit 29 Jahren die Thüringer Allgemeine liest und sich immer wieder über die Fremdwörter ärgert. In einem Leserbrief schreibt sie:
In einer Kolumne habe ich bei „Allochthonen“ das große Fremdwörterbuch bemüht, heute bin ich in der Publikumskritik(!) zu „Don Carlo“ über „evoziert“ und „inauguriert“ gestolpert. Muss denn so etwas sein?
Ich habe nach dem Abitur studiert, kenne also etliche Fremdwörter. Aber die hier genannten Fremdwörter finde ich nicht mehr lustig, sondern nur noch ärgerlich und völlig fehl am Platz. Ich habe keine Lust, in der Zukunft ständig das Fremdwörterbuch oder „Google“ in der Nähe haben zu müssen, wenn ich Ihre Zeitung lese.
In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue:
Die Kenner der Schriften von Karl Marx werden die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ von 1864 gelesen haben, die mit dem Satz beginnt: „Es ist Tatsache, dass das Elend der arbeitenden Massen nicht abgenommen hat.“
Die meisten werden die Schrift weder gelesen noch von ihr gehört haben. So unbekannt wie diese Schrift von Marx ist auch das Wort: Inaugural meint schlicht „Einführung“; inauguriert meint „eingeführt“ oder „angekündigt“.
Sie haben Recht, verehrte Frau Müller, es ist ein Elend mit den Fremdwörtern. Sie gehören nicht in eine Zeitung, die von allen verstanden werden will – und nicht nur von Bildungsbürgern mit Abitur, die beim „Allochthonen“ auch nur noch den Kopf schütteln.
Es gibt Zeitgenossen, besonders zahlreich in der Kultur, die wollen nicht verstanden werden: Sie wollen sich abheben vom einfachen Volk, sie sind stolz auf ihre Bildung und freuen sich, wenn nicht jeder sie versteht. Wir Redakteure denken anders – aber schreiben nicht immer so, leider.
Bisweilen scheut man sich, etwa „Ausländer“ zu sagen, und flüchtet in Begriffe wie „Allochthonen“, mit denen Sozialwissenschaftler Ausländer bezeichnen, die in Deutschland leben.
Wer „evoziert“, der beschwört oder ruft hervor. Es gibt also gute und verständliche deutsche Wörter statt der fremden. Wir müssen nur den Mut haben, uns der deutschen Sprache zu bedienen.
Thüringer Allgemeine, 28. September 2013
Manche Lokalteile bewegen sich auf das Niveau von Anzeigenblättern zu (Dieter Golombek im Interview)
Wie gut sind die Lokalteile der deutschen Zeitungen? Welchen Wert haben Serien in der Zeitung? Wieviel Geschichte gehört in den Lokalteil?
Diese und andere Fragen stellte Hanno Müller von der Thüringer Allgemeine Dieter Golombek, dem Chef der Jury des Deutschen-Lokaljournalistenpreises; der Preis wird am Montag auf der Wartburg verliehen. Dieses Jahr gibt es zwei Sieger: Das Hamburger Abendblatt für die Serie „Die Vermessung Hamburgs“ und die Thüringer Allgemeine für eine lange Serie über „Die Treuhand in Thüringen“.
Am Montag werden auf der Wartburg in Eisenach die Gewinner des Lokaljournalistenpreises 2012 geehrt. Wie beurteilen Sie den aktuellen Preisträger-Jahrgang?
Sehr positiv. Auch positiv, dass unter den 711 Bewerbungen weitere 40 Kandidaten vertreten waren, die die Jury ebenfalls mit gutem Gewissen mit einem Preis hätte auszeichnen können.
Gibt es einen Trend im aktuellen Lokaljournalismus?
Die Guten werden immer besser. Die weniger Guten geraten immer mehr in die Gefahr, sich auf das Niveau von Anzeigenblättern hinzubewegen.
Die Thüringer Allgemeine konnte mit dem Thema Treuhand gewinnen – wieso ist das ausschließlich ein Ostthema?
Die Menschen im Westen sind davon nicht existenziell betroffen. Im Osten hingen daran Millionen von Arbeitsplätzen. Die Treuhand entschied über das Schicksal vieler Menschen. Alle Themen, die Menschen bewegen, sind auch Themen für die Zeitung. Wenn sie die nicht annimmt, wird sie ihrem Auftrag nicht gerecht, sie schadet sich selbst.
Worin besteht Ihrer Meinung nach der lokaljournalistische Wert dieser Beschäftigung mit der Treuhand?
Die Zeitung greift ein verdrängtes Thema auf. Verdrängungen sind im privaten Leben nicht gut, mindestens genauso problematisch sind sie bei Themen, die viele Menschen betreffen. Für mich ist es das große Verdienst der Serie „Treuhand in Thüringen“, dass sie dieses verdrängte Thema öffentlich gemacht hat. Nicht mit dem großen Zeigefinger, sondern mit der Möglichkeit, dass sich die Menschen aussprechen und ihre Beobachtungen und Erfahrungen austauschen. Wichtig dabei: Die Serie differenziert, sie vermittelt die Erkenntnis, dass es die einfache Wahrheit nicht gibt.
Diese Art von Rückschau ist nicht unumstritten. Die Thüringer Allgemeine bringt es nach „Meine Wende“ und der „Grenzwanderung“ mit der Treuhand-Serie sogar auf eine Art Trilogie. Wie viel Geschichte vertragen Lokalzeitungen?
In den genannten Fällen ist es eine Aufarbeitung von Themen, die noch wehtun. Es ist die Aufgabe von Zeitungen, solche Themen aufzugreifen. Eine historische Serie über Erfurt im 18. Jahrhundert wäre sicher nett, kratzt aber an keinem Lack. Mit Wende, Grenze und Treuhand werden aber Themen aufgearbeitet, zu denen viele Zeitzeugen noch etwas zu sagen haben. Sie sollen es sagen und Diskussionen auslösen. Die Zeitung liefert dafür das Forum, eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Sie macht so das Selbstgespräch der Gesellschaft möglich.
Manche Leser sagen: Ja, das interessiert uns, auch weil wir dabei waren und mitreden können. Andere wollen nichts mehr davon hören und fragen, ob die Zeitung nicht wichtigere und aktuellere Themen zu beackern hätte. Nach wem soll sich eine Redaktion richten?
Es wird immer Leute geben, die einen Schlussstrich ziehen wollen. Das haben wir ähnlich auch bei der Verarbeitung der Geschichte der Nazi-Zeit erlebt. Meiner Meinung nach darf man diesen Schlussstrich nicht leichtfertig ziehen, zumindest so lange nicht, wie Menschen leben, die damals gelebt haben.
Kann es ein Zuviel an Geschichte für eine Lokalzeitung geben?
Eindeutig ja. Es gibt Journalisten, die sich in ihre historischen Themen verlieben. Es wird vor allem dann zu viel, wenn der moralische Zeigefinger zu groß wird. Journalisten sind keine Wissenschaftler, sie sollen also immer auch an die Dosierung denken. Sie sollen auch bei historischen Themen nicht langweilen und nicht selbstverliebt sein. Sie müssen auch der Selbstverliebtheit von Zeitzeugen Grenzen setzen und ihnen nicht jede Geschichte abnehmen. Auch Zeitzeugen können irren.
Die Jury des Lokaljournalistenpreises besteht aus Ost- und West-Mitgliedern. Wie leicht oder schwer sind die bei der Urteilsbildung unter einen Hut zu bringen – zumal es ja offenbar weiter Ost- und West-Themen gibt?
Die Unterschiede sind nicht mehr so dramatisch wie noch vor 15 oder 20 Jahren. Die „Treuhand“ ist seit Langem mal wieder ein richtiges Ost-Thema, das wir ausgezeichnet haben. Ansonsten haben sich Themen wie Problemlagen sehr angenähert.
Die Jury wurde übrigens unmittelbar nach der Wiedervereinigung um ostdeutsche Kollegen erweitert. Ihre Stimmen haben verständlicherweise mehr Gewicht, wenn es um Ost-Themen geht.
Müssen sich Ost und West gelegentlich zusammenraufen?
Die Jury muss sich generell immer zusammenraufen. Zusammengesetzt ist sie aus Journalisten, Verlegern und Kommunalpolitikern, da treffen sehr unterschiedliche Erfahrungen aufeinander. Bei den beiden ersten Preisen in diesem Jahr gab es allerdings absoluten Konsens, was bei weitem nicht immer der Fall ist.
Die Serie als journalistisches Mittel bietet die Möglichkeit, tief in ein Thema einzusteigen. Sie birgt aber auch die Gefahr der Übersättigung und wachsenden Desinteresses – gibt es da einen Königsweg?
Die richtige Mitte finden: Schreiben, was geschrieben werden muss, damit das Thema rund wird, aber nicht Überdruss und Langeweile erzeugen. Es darf nicht so sein, dass nur noch die unmittelbar Beteiligten und Betroffenen die Serienteile lesen.
Thüringer Allgemeine, 28. September 2013 (in der Beilage zum Deutschen-Lokaljournalistenpreis)
Harald Klipp via Facebook:
Ein aufschlussreiches Interview zum Selbstverständnis von Lokaljournalisten. Schade, dass das Thema Weiterbildung ausgespart bleibt, das ich für sehr wichtig halte. Denn: Wissen ist Voraussetzung für profesionelles Arbeiten.
Antwort: Das war ein Interview für Leser einer Zeitung.
Reich-Ranicki: Was mich am Tod schreckt… (Zitat der Woche)
Was mich am Tod vor allem schreckt, ist die Gewissheit, nicht mehr die Zeitungen des nächsten Tages lesen zu können.
Marcel Reich-Ranicki im Herbst 2012 im Interview mit „Focus“-Redakteur Uwe Wittstock, entdeckt im Newsletter der deutschen Zeitungsverleger
Präsenz – ein einfältiges, unbrauchbares Wort (Friedhof der Wörter)
Das hat Reich-Ranicki nicht verdient! „Seine Präsenz“ überschreibt TV-Weggefährte Hellmuth Karasek einen Nachruf in der Literarischen Welt. Präsenz ist ein Allerweltsbegriff wie Bereich oder Massnahme, bedeutet alles und nichts und verweist nur auf die Denkfaulheit des Autors, sich genau auszudrücken.
Präsenz, dem Lateinischen und Französischen entlehnt, bedeutet: Anwesenheit, Gegenwart – mehr nicht. „Die Gewerkschaft fordert mehr Präsenz der Polizei auf den Straßen“, ist ein Mode-Satz in einer Pressemitteilung, gerne auch von Zeitungen übernommen; so wäre er trefflich übersetzt: Polizisten sollen mehr Streife fahren.
In einem anderen Pressetext steht:
Dieses Wissen soll dazu führen, Schnelltests zu entwickeln, mit denen die Präsenz solcher Gifte nachweisbar ist.
In diesem Satz kann man „die Präsenz“ einfach streichen, und der Satz wäre kürzer und der Sinn klarer. Denn: Was nachweisbar ist, auch auch anwesend.
Und wer sich schämt, einen Körper erotisch zu nennen, der schwadroniert so:
Die sinnliche Präsenz der Körper hat auch eine erotische Note.
Kehren wir zu Karaseks Nachruf zurück: Der Autor mag dem Redakteur die schändlich einfallslose Überschrift „Seine Präsenz“ anlasten. Allerdings steht im Text:
Reich hat eine Präsenz in der deutschen Kultur, die aus seiner Entschiedenheit, aus seiner produktiven Streitlust und aus seinen Bühnentalenten besteht…
Im Nebensatz stehen die starken Wörter: Entschiedenheit, Streitlust, Bühnentalent; im Hauptsatz das schwache Wort Präsenz. Was meint Karasek damit? Stellenwert (auch schwach), Bedeutung (noch schwach), Größe (besser), Ausstrahlung (empfiehlt der Duden). Hat Reich-Ranicki nicht Größeres verdient?
Im Duden ist auch der „Präsenzdiener“, ein österreichisches Wort, zu finden: Der Soldat, der den Grundwehrdienst leistet. Früher nannte man ihn „Schütze Arsch“ – derb, aber klar.
Thüringer Allgemeine, geplant für den 30. September
Kommentare auf Facebook:
Anton Sahlender gefällt das:
„Kann es nicht sein, dass Präsenz im Laufe der Zeit im Sprachgebrauch eine stärkere Wirkung entwickelt hat als z. B. Anwesenheit? Ich empfinde es so…“Petra Breunig: …Präsenz im Sinne von Ausstrahlung…
Paul-Josef Raue: Wörter, die immer allgemeiner gebraucht werden, dürften nicht stärker, sondern schwächer werden. Präsenz hat immer eine spezifische Bedeutung, die wir dann auch benennen sollten – etwa Ausstrahlung. Klare Bedeutung, klarer Sinn, klare Wörter. Und oft genug kannst Du Präsenz einfach ersatzlos streichen.
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