Politiker im Bann ihrer Deutschlehrerinnen (Friedhof der Wörter)
Warum sagt eine Ministerpräsidentin: „Es gibt viel zu tun in diesem Land?“, fragt ein Leser. Warum überhaupt sprechen unsere Politiker von „diesem Land“?
Dem Leser platzt der Kragen, wenn er’s liest. „Ich kann diese unsinnige Umschreibung von meinem Vaterland nicht mehr hören. Ich lebe in Deutschland und will, dass dieses wunderbare Land beim Namen genannt wird.“
Recht hat er – auch wenn er zu hart mit unseren Politikern ins Gericht geht. Viele Politiker haben schwache Redenschreiber – und können einfach ihre Deutschlehrerin nicht vergessen.
Schrieben sie, jung und demütig, zweimal „Deutschland“ im Klassen-Aufsatz, nahm die Lehrerin den roten Stift und verhängte einen Ausdrucks-Fehler; im Wiederholungsfall rutschte sogar die Note in den Keller. Wer so erzogen ist: „Wechsle den Ausdruck!“, dem geht „Deutschland“ nur noch einmal über die Lippen.
Erfunden hat „dieses Land“ Ex-Kanzler Kohl, der sich im Überschwang der nationalen Gefühle bisweilen zu „in diesem unseren Land“ aufschwang. In der letzten Sitzung des Bundestags in Bonn sprach er lang, sprach oft von „unserem Land“, aber auch zwei Dutzend Mal von „Deutschland“.
Warum er auf das dritte Dutzend „Deutschland“ verzichtet hat? Das Stirnrunzeln seiner Deutschlehrerin vergisst auch ein Kanzler nicht; und so suchte er verzweifelt nach „sinnverwandten Wörtern“.
Plagen heute immer noch die Deutschlehrerinnen ihre Schüler mit „Wechsle den Ausdruck!“?
„Niederlagen stählen nur, wenn es nicht zu viele werden“
Der Satz liest sich wie ein Kommentar zum ewigen Zweiten, zu Bayern München. Er ist aber von Willy Brandt, dem Namensgeber des neuen Berliner Flughafens. Die Berliner Zeitung hatte zu dem Debakel der um Monate verschobenen Eröffnung einige Zitate von Willy Brandt gesammelt:
Willy Brandt erklärt die Welt:
Wer nur vier oder fünf Flaschen Wein im Keller hat, hat relativ wenig, wer aber vier oder fünf Flaschen im Kabinett hat, hat relativ viel.
Niederlagen stählen, aber nur, wenn es nicht zu viele werden.
Man kann nie so kompliziert denken, wie es plötzlich kommt.
Berliner Zeitung, 12. Mai 2012
Deutsche Lokaljournalistenpreise: Glückwunsch nach Bonn, Dortmund und Regensburg!
Die Deutschen Lokaljournalistenpreise sind die Oscars der Zeitungsbranche. Sie werden für große Projekte, Konzepte und Serien vergeben – wie für das Konzept der Familienzeitung, mit dem Chefredakteur Andreas Tyrock den ersten Preis für den Bonner Generalanzeiger holt.
Nach Regensburg und zur Mittelbayrischen Zeitung, die erstmals auf das Treppchen steigt, geht der zweite Preis für das Konzept der Themenwochen.
Der zweite Preis wird geteilt und geht auch an die Westfälische Rundschau in Dortmund und somit vor allem an Frank Fligge, den stellvertretenden Chefredakteur und Vater der großflächigen Themenpräsentation im Lokalen.
In den einzelnen Kategorien gehen die Preise an:
- Augsburger Allgemeine (Kategorie Geschichte)
- Badische Zeitung (Service)
- DeWeZet (Alltag)
- Rhein-Zeitung (Reportage „Lobo, der Wolf vom Zentralplatz“)
- Süderländer Tageblatt (Wirtschaft)
- Saarbrücker Zeitung (Integration)
- Stuttgarter Zeitung (Alltag)
- Thüringer Allgemeine (Zeitgeschichte)
- Weser Kurier (Verbraucher)
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
Kriminelle bedrohen Lokalredaktionen – etwa in Uelzen
In der Lausitz bedrohten Neonazis die Rundschau-Lokalredaktion in Spremberg, um Berichte zu verhindern. Im niedersächsischen Uelzen verfolgten die Familienangehörigen einer fünfköpfigen Jugendbande die Lokalredaktion der „Allgemeinen Zeitung“ – etwa mit der Drohung „Das war dein letzter Artikel“. So sollten Berichte über den Gerichtsprozess verhindert werden.
Der DJV in Niedersachsen verlieh der Uelzener Redaktion „für ihr Standhalten“ den „Preis für journalistische Courage“. Für die Braunschweiger Zeitung führte Cornelia Steiner ein Interview mit Chefredakteur Andreas Becker (BZ 8. Mai 2012):
Herr Becker, wenn von Journalisten-Verfolgung die Rede ist, denkt man an Diktaturen, aber nicht an Uelzen mit seinen 34000 Einwohnern.
Wir Lokaljournalisten sind in Deutschland täglich versuchter Einflussnahme etwa durch politische Entscheidungsträger ausgesetzt. Aber dass Leib und Leben bedroht werden, ist wirklich außergewöhnlich.Was genau ist geschehen?
Die Mitglieder der Douglas-Bande haben versucht, Schutzgelder zu erpressen. Sie haben nachts und am Wochenende randaliert und Passanten in der Innenstadt belästigt. Im vergangenen Jahr kulminierte das mit versuchtem Totschlag und räuberischer Erpressung. Im Verlauf der beiden Prozesse haben Familienangehörige der Angeklagten versucht, auf Zeugen, Polizei und Presse Druck auszuüben.Wie äußerte sich das bei Ihnen?
In der Redaktion sind Drohfaxe und Drohanrufe angekommen. Redakteure wurden vor Gericht demonstrativ fotografiert, sie wurden bis zum Parkplatz des Gerichts verfolgt und verbal attackiert: „Wir wissen, wo du wohnst. Das war dein letzter Artikel. Wir stechen dich ab, du Schwein.“Wie sind Sie und Ihre Kollegen damit umgegangen?
Das war eine große Belastung, aber uns war klar, dass wir keinen Millimeter davon abrücken, unserer Chronistenpflicht nachzukommen und über den Prozess zu berichten. Wir haben Kontakt mit der Polizei aufgenommen, es gab in der Redaktion eine Sicherheitsschulung und wir haben bestimmte Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt: Für unseren Spätdienst haben wir zum Beispiel spezielle Parkplätze nah an der Redaktion eingerichtet, der Weg dorthin wurde beleuchtet.Außerdem wurden die Klingelschilder an den Wohnungen beziehungsweise Häusern der Redakteure abmontiert, weil zu befürchten war, dass sich die Angriffe auf das private Umfeld ausdehnen. Wir haben auch dafür gesorgt, dass die Adressen der Kollegen nicht beim Einwohnermeldeamt in Erfahrung zu bringen waren. Schließlich haben wir die Berichterstattung auf meinen Stellvertreter und mich reduziert.
Die Urteile gegen die Angeklagten sind vor wenigen Tagen gefallen: Sie wurden zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Herrscht jetzt Ruhe?
Ja, wir blicken nach vorn. Das Gericht hat versucht, die beiden Prozesse schnell und geräuschlos abzuwickeln, um die Stimmung nicht weiter aufzuheizen. Immerhin lastete ein immenser politischer Druck auf den Verfahren; das Innen- und das Justizministerium waren eingeschaltet. Für die Verurteilten ist der Abschluss der Verfahren eine Chance, die sie nutzen sollten.Das klingt sehr versöhnlich.
Ich denke, es ist für die Familien nicht einfach gewesen. Die meisten Verurteilten sind in Deutschland geboren, stammen aber aus anderen Kulturkreisen: Die Familien kommen zum Beispiel aus dem Kosovo und dem Libanon. Es ist spannend zu hören, aus welchen schwierigen Verhältnissen sie kommen, welchen schweren Weg sie hinter sich haben. Das muss man berücksichtigen.Haben Sie sich mit den Familienangehörigen unterhalten?
Ich habe am Rande der Prozesse mit ihnen gesprochen. Ich will die Taten nicht entschuldigen, aber ich möchte verstehen, warum bestimmte Dinge geschehen. In diesem Fall haben sicher alle Seiten gelernt. Ich hoffe, dass die Stadt Stärke daraus zieht. Denn hier handelt es sich um ein Problem der Integration, das schon seit Jahrzehnten in Uelzen besteht. Jetzt geht es darum, Verständnis für beide Seiten zu wecken und weiterhin sensibel zu berichten.
Chefredakteure treffen sich in der Ukraine
Politiker diskutieren einen Boykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine. Und die Chefredakteure und Verleger? Sie treffen sich im September zum Weltkongreß in Kiew – und begründen die Wahl des Ortes so:
Mit der Ausrichtung der diesjährigen Jahreskonferenz in der Ukraine können nach Überzeugung von WAN-IFRA die Solidarität mit den unabhängigen Verlegern, Redakteuren und Journalisten des Landes gestärkt, die Aufmerksamkeit auf Pressefreiheitsthemen gelenkt und Gespräche mit den ukrainischen Behörden gefördert werden.
Jeffrey Gettleman wird über das Geschichtenerzählen, das Storytelling, referieren. Er hat als Leiter des Ostafrika-Büros der New York Times reichlich Erfahrungen mit Diktaturen wie in Somalia oder dem Kongo; in diesem Jahr bekam er den Pulitzer-Preis für Auslandsberichtserstattung.
(zu: Handbuch-Kapitel 10 „Was Journalisten von Bloggern lernen können“ (Seite 47 – New York Times hat seit den Unruhen im Iran einen Redakteur, der nur Tweets auswertet); siehe auch Sachregister „Korrespondenten“.)
Volo-Werkstatt mit Wolf Schneider: Besser schreiben!
In der aktuellen Zeit (33/2012) findet jeder Volontärsausbilder eine exzellente Grundlage für eine Sprach-Werkstatt: Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen von Wolf Schneider: „Zählen wir die Silben“ oder „Geizen wir mit Adjektiven“ oder „Mit Satzzeichen Musik machen“.
So könnte die Werkstatt über ein halbes Jahr arbeiten: In jeder Woche gilt es, eine Regel besonders zu beachten, gute und schlechte Beispiele aus der eigenen Zeitung, den eigenen Texten und anderen Blättern zu notieren. Nach dem halben Jahr wird sich die sprachliche Qualität der Texte deutlich verbessert haben.
Wer noch intensiver arbeiten will, dem sei Wolf Schneiders Taschenbuch „Deutsch fürs Leben“ empfohlen – mit 50 Regeln, die für eine Jahres-Werkstatt reichen.
Bitte: Mailen Sie mir bitte gelungene und missratene Sätze aus Zeitungen und Magazinen, die Sie in ihren Werkstätten entdecken – an:
PJ@raue.it
Nüchtern und kreativ (Friedhof der Wörter)
Die Menschen werden älter, die Jungen werden weniger, das ist die Gesellschaft von morgen. Damit wir nicht allzu sehr erschrecken, verstecken wir uns hinter einem wissenschaftlichen Begriff: „Demografischer Wandel“.
Der Wandel macht allen zu schaffen, auch den Kirchen. Was machen sie mit einem Wandel? Sie diskutieren ihn. Und wie? „Nüchtern – mutig – kreativ“, so steht es in einer Einladung der beiden großen Kirchen in Erfurt.
Dass die frommen Männer nebst Bauminister Carius dem Alkohol entsagen beim Diskutieren und Reden, hatte ihnen schon Luther, die Bibel übersetzend, empfohlen:
„Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe.“
Nüchtern reicht nicht aus, auch kreativ soll es sein. Wie schrieb Luther? „Und Gott war kreativ.“
Nein, Luther übersetzte: „Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und sah: Es war alles sehr gut.“
Wer kreativ ist, der schafft etwas – die ganze Welt, ein Gedicht oder ein Blumenbeet. Jeder Mensch, der etwas schafft, ist kreativ.
„Kreativ“ ist ein leeres Wort, ein Modewort geworden, vor allem in der Werbung. Es hat keinen Inhalt mehr. Es gehört, ganz nüchtern, auf den Friedhof der Wörter.
(Thüringer Allgemeine 14. Mai 2012)
(zu: Handbuch-Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“)
Wer ist ein guter Kritiker?
„Die Texte sind lebensnah, der Autor hat ein Herz“, so schreibt die FAZ über ihren Filmkritiker Michael Althen, der, nicht einmal 50 Jahre alt, im vergangenen Jahr gestorben ist.
Was macht den Zauber seiner Texte aus? Wer einen Film gesehen hat und die Kritik liest, sagt sich: „Woran liegt es, dass er über Erfahrungen und Empfindungen schreibt, von denen ich dachte, ich wäre mit ihnen allein?“ (FAZ vom 12. Mai)
Was wäre ein weniger guter Kritiker? Einer der „nur in den Betrieb, ins jeweilige Milieu hineingesprochen hätte“.
Selbst die Künstler mochten seine Texte. So sitzen Autoren, Regisseure und Schauspieler in der kleinen Jury, die den Althen-Preis für Kritiker vergeben wird, den die FAZ stiftet. „Es geht um Kritik, die nicht unbedingt recht haben will, um Kritik, die sich die eigenen Gefühle nicht mit wasserdichten Begriffen vom Hals hält, um Kritik, die vom Bewusstsein lebt, dass analytische Schärfe und Wahrhaftigkeit der Emotion einander nicht ausschließen.“
Um von Althen zu lernen, wäre es gut, wenn es ein Buch mit seinen besten Kritiken gäbe. Das Taschenbuch „Warte, bis es dunkel ist“ ist vergriffen. Zu lesen sind darin so schöne Sätze wie diese:
„Das Kino ist keine Wunschmaschine, sondern vor allem eine Folterbank. So lange man jung ist, lässt es uns von all jenen Wünschen träumen, die wir uns erfüllen können, wenn wir erst mal alt genug sind. Kaum ist man erwachsen, schürt es die Sehnsucht nach einer Jugend, die wir so leider nie erlebt haben. Im Kino ist man entweder zu alt oder zu jung, zu reich oder zu arm – oder zu deutsch, um etwa amerikanisch zu sein oder französisch.“
(zu: Handbuch-Kapitel 47 „Newsdesk und Ressorts (Die Kultur)“)
Online-Journalismus: Rauf und runter
Zwei Meldungen aus den vergangenen Tagen:
1. Die New York Times hat im März erstmals mehr digitale Ausgaben als gedruckte verkauft: 807.000 zu 780.000!
2. Das Titelbild von Focus am 7. Mai zeigte eine unbekleidete Frau, schwarzweiß fotografiert, und war digital mit einem schwarzen Balken verunziert, weil – so die Süddeutsche – der E-Kiosk-Betreiber Sanktionen von Apple befürchtete.
(Zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“)
Schrecken der Energiewende (Zitat der Woche)
„Schrecken der Energiewende“,
gemeint sind die Windräder, die „Kulturlandschaften zerstören, bedrohte Tierarten töten und so manche Kassen füllen“ (FAZ zu einem Beitrag des Dirigenten Ennoch zu Guttenberg, der den BUND mitgegründet hatte und nun ausgetreten ist, 12. Mai 2012)
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