Alle Artikel der Rubrik "D. Schreiben und Redigieren"

Geschliffenes Deutsch: Journalisten und ihr Sprachgefühl (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Was ist richtig: Das Dorf an der Grenze wurde geschleift? Oder: Das Dorf wurde geschliffen? Fügen wir diese Frage einem Test hinzu, den man sinnvoll zum Trauer-Jubiläum der Rechtschreibreform veröffentlichen könnte.

Leser beschweren sich gerne über Schludrigkeiten in unserer Zeitung, die in der Eile des journalistischen Geschäfts geschehen und die auch der Gegenleser in der Fülle der Wörter überliest. Freuen wir uns über jeden Leser, der wirklich schwere Fehler entdeckt – wie den Weimarer Professor Siegfried Freitag. Er fragt in einem Brief an die Thüringer Allgemeine: „Ist hier Sprachgefühl ein wenig verloren gegangen?“, und meint schwere Fehler  in meiner Serie „Die Grenze“.

Dort habe ich Dörfer „geschliffen“ statt „geschleift“. Aber richtig ist: Diamant werden geschliffen, Dörfer werden geschleift. Selbst der Duden achtet noch auf den Unterschied, obwohl er sich bei anderen Wörtern schon beugt wie bei „gewinkt“ (richtig) und „gewunken“.

Dörfer, die geschliffen wurden, wären nicht vom Boden der DDR verschwunden, sondern hätten den Wettbewerb zum schönsten Dorf gewonnen: Solch feinen, aber gewichtigen Unterschied nennt Professor Freitag zu Recht „Sprachgefühl“.

Brigitte Grunert schreibt die Sprach-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“. Sie entdeckte, wie die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Wahlkampf auch übers Schleifen stolperte – und das Gegenteil von dem sagte, was sie sagen wollte. Als sie sich über den Plan der FDP aufregte, Steuern zu senken, meinte sie:

„Wenn es eine Entlastung der Besserverdienenden geben soll, dann kann das nur heißen, dass der Sozialstaat geschliffen werden soll.“

Das bedeutete: Der Sozialstaat wird leuchten wie ein geschliffener Diamant, wenn Politiker die Steuern senken. Das Gegenteil wollte sie sagen.

Wahrscheinlich werden ihre Anhänger „geschleift“ verstanden haben. Gleichwohl stimmt, was die Berliner Sprachexpertin Grunert schreibt: „Ach, geschliffenes Deutsch ist rar, aber es lohnt sich, die Bemühungen darum nicht schleifen zu lassen.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 24. August 2015

Wörterbuch der innerdeutschen Grenze (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Spezialisten neigen dazu, eine eigene Sprache zu erfinde: Wissenschaftler und Ingenieure, Geheimdienstler und Gottesdiener. Auch DDR-Bürger, die an der Grenze arbeiteten, waren Spezialisten.

Sie fanden neue Wörter wie den „Provokationspunkt“, mit dem sie die Stelle bezeichneten, an der ein West-Bürger unerlaubt die Grenze überschritt. Überschreiten war bisweilen ungenau, manchmal schlitterten sie ins Hoheitsgebiet: An der Sprungschanzen in Braunlage, den Brocken in Sichtweite, lag der Auslauf direkt an der Grenze. Hatte der Springer nur einen Weite-Rekord im Sinn, aber nicht die Grenze zur DDR, schlitterte er mit seinen Skiern in einen anderen Staat – auch wenn der von seiner Regierung nicht anerkannt war.

Auf dem Brocken hieß die weithin sichtbare Kuppen des Brockenhauses „Stasi-Moschee“: Da verbanden Sprachschöpfer Witz und Wissen. In der Tat stocherte die Stasi im Leben anderer an einem Ort, der einer arabischen Moschee glich.

„Pansen-Express“ nannte der Grenz-Jargon die Soldaten, die den Hunden ihr Fressen brachten. Widersprüchlich sind die Aussagen, ob die Hunde bewusst wenig zu fressen bekamen, um besonders schnell und hungrig Flüchtlinge erwischen zu können.

Die Grenzer gaben bekannten Wörtern auch neue Bedeutung: „Kairo“ war nicht nur eine Hauptstadt, sondern die Aufschrift einer Ablage bei der Grenzkontrolle. Darin kamen die Pässe von Ex-Flüchtlingen, Journalisten, Politikern, Pfarrer und anderen möglich Subversiven.

An der Grenze fühlte keiner eine Gemütlichkeit wie im heimischen Wohnzimmer, doch gab es einen Teppich, den „Spuren-Teppich“ – wie der mit einer Egge gezeichnete Streifen hieß, in dem Flüchtlinge und Rehe ihre Spuren hinterließen.

„Feindwärts Spuren“ nannte eine Bäuerin an der Elbe die Spuren hinterm Zaun, nahe dem Fluss. Allerdings hockte der Feind der Flüchtlinge eher „freundwärts“.

Hinter dem letzten Zaun begann das „vorgelagertes Hoheitsgebiet“, ein tückischer Streifen für Flüchtlinge wie für West-Besucher, oft fälschlich „Niemandsland“ genannt – aber in Wirklichkeit noch der letzte Streifen DDR.

Sternstunden der deutschen Sprache: Schreib und sprich, dass dich die Menschen verstehen!

Geschrieben am 10. August 2015 von Paul-Josef Raue.

„Faruuazzit“ heißt verflucht, „tuncli“ die Dunkelheit, „samftmoat“ sanftmütig und „friuntscaffi“ die Freundschaft. So steht es im ersten Wörterbuch der deutschen Sprache mit dem Titel „Abrogans“. Das lateinische Wort für „demütig“ ist das erste Wort im Buch und gab ihm den Titel.

Wir verstehen kaum die ersten deutschen Wörter, die wir althochdeutsch nennen, aber sie haben einen Wert bis in unsere Zeit hinein: Sie übersetzen eine Sprache, die nur wenige verstehen, in eine Sprache, die alle verstehen. Das Lateinische war im achten Jahrhundert, als Mönche aus Freising das Wörterbuch schrieben, die Sprache der Mächtigen und der Priester.

Was Mönchen vor vielen Jahrhunderten gelang, ist auch heute – erst recht in unserer Demokratie – eine Aufgabe von Wert: Schreib so und sprich so, dass dich die Menschen verstehen! Nicht die Kirche ist noch der Verursacher der Unverständlichkeit, sondern alle, die ihren Jargon sprechen, um ihre Absichten zu verschleiern oder sich abzugrenzen oder einfach – wie die Liebhaber der Anglizismen – modern zu wirken.

„Abrogans“ zählt zu den Sternstunden deutscher Sprache, ist eine von 107, die in dem Buch „Edelsteine“ beschrieben werden: Von den Merseburger Zaubersprüchen über Luthers Übersetzung der Bibel und Bachs „Matthäus-Passion“ zu Kants „Was ist Aufklärung?“ und Goethes „Faust“.

Wie oft ist die Gegenwart zu nah, um schon ein klares Urteil zu fassen. Dennoch ist die Auswahl der „Sternstunden“ zeitgenössischer Texte sinnvoll: Das Grundgesetz beispielsweise oder Erwin Strittmatters „Notstandsliebe aus der Zeit der Bomben“, die Micky-Maus-Übersetzungen von Erika Fuchs („dem Ingenör ist nichts zu schwör“), aber auch die Herbert Zimmermanns Reportage vom WM-Endspiel in Bern 1954 – auch oder gerade weil der Kommentator in den letzten Minuten komplett die Fassung verlor: „Logik, Grammatik und Aussprache gingen ganz eigene Wege, die aber genau den irrationalen Windungen folgten, in denen sich die Gefühle der Zuhörer bewegten.“ Ergänzt sei: Man muss es hören, nicht lesen.

Andere „Sternstunden“ sind historische, aber keine sprachlichen – wie  der Beipack-Zettel zur ersten Antibaby-Pille in Deutschland: Zwar „eine Revolution der Sozialgeschichte“, aber wegen der ungelenk formulierten Lüge auf dem Zettel keine Sternstunde der Sprache ebenso wenig wie der „2+4-Vertrag“; die Präambel besteht aus einem Satz mit über 400 Wörtern, „der das Verständnis mehr erschwert als fördert“.

So wird, ähnlich wie mit Gaucks Rede auf der Westerplatte 2014, der Sprachliebhaber zum Historiker: „Wie wichtig diese Worte sind“, begründet Walter Krämer die Wahl der Gauck-Rede. Aber da schreiben sie schon ein anderes Buch, das mit der Sprache nur am Rande zu tun hat.

Max Behland, Walter Krämer, Reiner Pogarell (Hg): Edelsteine – 107 Sternstunden deutscher Sprache. IFB-Verlag, 672 Seiten, 25 Euro

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter,  10. August 2015, erweiterte Fassung

Alternativlose Bullenscheiße: Der „Friedhof der Wörter“ über den Bullshit

Geschrieben am 1. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Das Wort sollten Sie sich merken, auch wenn es ein englisches ist: Bullshit. Das Wort zählt nicht zur Hochsprache und bedeutet wörtlich: Bullenscheiße. Weil Bullenscheiße einfach zu vulgär ist, bleiben wir beim Bullshit.

Die meisten Kandidaten für unseren „Friedhof der Wörter“ sind Bullshit:

  • Wenn die Kanzlerin „alternativlos“ sagt: Bullshit!
  • Wenn ein Verkäufer den Geländewagen als „umweltfreundlich“ anpreist: Bullshit!
  • Wenn „natürliches Aroma“ aus Kräuter, Blüten und Dill erzeugt wird: Bullshit!
  • Wenn ein Biomarkt „anthroposophisches Gemüse, geerntet bei Vollmond“ verkauft: Bullshit!

Es gibt sogar einen Bullshit-Philosophen: Der Amerikaner Harry Frankfurt. Er warnt: Bullshit richtet mehr Schaden an als Lügen. Er schaut sich vor allem bei Politikern und Werbetextern um, in Behörden, bei Esoterikern – und bei Journalisten.

Schon Rudolf Augstein, der Gründer des Magazins „Spiegel“, war sicher: Mindestens ein Artikel jeder Ausgabe ist unverständlich. Ob unsere Zeitung eine Ausnahme macht?

In Konferenzen versuchen Redakteure, die Augstein-Regel zu durchbrechen. Aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf: In jeder Konferenz gibt es einen, der Unsinn geschrieben hat, aber all seine Intelligenz einsetzt, ihn zu rechtfertigen. Ich bin sicher, dass dies in Unternehms-, Gewerkschafts- und Schulkonferenzen ähnlich ist, in Kabinetts-Sitzungen erst recht.

„Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben“, schreibt der Bullshit-Philosoph Frankfurt. Aber ohne Bullshit werden wir nicht auskommen, meinen Tobias Hürter und Max Rauner, die Journalisten, die ein schönes Buch geschrieben haben: „Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand“.

Sie raten: Lacht über den Bullshit! Stellt die Bullshitter bloß! Nehmt sie nicht ernst! Aber auch die Gegner des Bullshits kommen nicht ohne ihn aus – etwa bei einem netten Gespräch, einem Smalltalk. Dafür gibt es übrigens schon Computer-Programme, die automatisch Bullshit erfinden und Tiefgang vortäuschen.

In einem eigenen Kapitel gehen Hürter und Rauner auch auf  Medien und Bullshit ein: Da gibt es den Boulevard, ohne den viele Menschen nicht auskommen – auch wenn sie das, was dort geschrieben steht, nicht glauben, erst recht ihm  nicht vertrauen. Im Gegensatz zu bunten Blättern halten Hürter und Rauner die Bildzeitung für gefährlich:

Im Kern ist zumeist was Wahres dran, aber es ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Bild-Macher haben die Kunst perfektioniert, haarscharf an der Grenze vom Bullshit zur Lüge zu bleiben.

Selbst seriöse Medien geraten schnell in ein bullshitträchtiges Milieu, weil sie Nachrichten immer weiterdrehen müssen, „notfalls mit Gewalt“, weil nichts Neues zu berichten ist. Sie bedienen Sterotypen, bieten Schnipsel an statt der „ganzen Wahrheit“, befriedigen ein „tiefes menschliches Bedürfnis“: „Die Neugier. Nach der Lektüre hat man das beruhigende Gefühl, Bescheid zu wissen.“

Sie heben Rolf Dobelli hervor, den Schweizer-Bestseller-Autor, der keine Zeitungen mehr liest, diese „billigen Zuckerbonbons für den Geist“, sondern nur noch Bücher.

Man kann die Medien durchaus als Bullshit-Fabriken bezeichnen, schließen die Journalisten – und drehen sich noch einmal um die eigene Achse und zitieren den Philosophen Alain de Botton, der Bullshit preist, weil er Geschichten erzählt, „die uns mitfühlen lassen“, eben die berühmten Geschichten, die man sich seit altersher am Lagerfeuer erzählt.“Glamour ist nicht bloß lustig und albern,er ist eine wichtige Kraft des gesellschaftlichen Wandels“, sagt de Botton.

Wem dieser Medien-Bullshit zu dünn erscheint, wandere aus auf eine intellektuelle Spielwiese, die Hürter und Rauner erwähnen: Die Philosophen Mail (Philosophers‘ Mail), ein Blog, in dem Philosophen ein Jahr lang Nachrichten philosophisch erzählten (auf englisch). Den Blog haben sie beendet und beginnen einen noch aufregenderen: Das Buch des Lebens (www.thebookoflife.org) mit den sechs Kapiteln Kapitalismus, Arbeit (darin zum Beispiel: Die Leiden der Führung), Beziehungen („How to start having sex again„), Ich, Kultur und Curriculum. Lesen!

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Das Bullshit-Buch erscheint im Piper-Verlag: 304 Seiten, 16.99 Euro

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. August 2015 (hier erweiterte Fassung)

 

 

 

 

Wie doof ist Alpha-Kevin? Ein Jugendwort ist politisch nicht korrekt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Verstehen Sie die Sprache der Jugend? Wenn Sie schon im reifen Alter sind und den Kopf schütteln: Seien Sie froh!

Hinter den meist unverständlichen Wörtern verbirgt sich bisweilen so viel Beleidigung und Häme, dass es in den Balken der Moral ächzt, stöhnt und kracht. „Alpha-Kevin“ ist solch eine Schöpfung: Wer so genannt wird, gilt als doof oder gleich als Dümmster der Welt.

Die Wendung ist so beliebt, dass sie glatt die Wahl zum „Jugendwort des Jahres“ gewonnen hätte. Fast jeder Zweite stimmte im Internet für den Alpha-Kevin ab. Doch neben der Zustimmung bekam der Langenscheidt-Verlag, der die Wahl organisiert, reichlich Online-Prügel – und nahm das Wort von der Liste mit der Begründung:

„Wir haben viel von euch gehört und spüren die persönliche Betroffenheit über die Auswahl von ,Alpha-Kevin‘. Es lag uns fern, konkrete Personen zu diskriminieren.“

Haben sich die Kevins beschwert? Jene Jünglinge, denen ihre Eltern den Namen verpassten, nachdem sie „Kevin allein zu Haus“ im Kino gesehen hatten?

Also muss die Kanzlerin ausbaden, dass Kevin beleidigt ist – was, noch einmal bemerkt, Sinn des Wortes ist. Ohne Alpha-Kevin steht „merkeln“ – mit weitem Abstand – an der Spitze.

Da sage noch einer, unsere Jugend sei unpolitisch. Merkeln steht für: Probleme aussitzen und ausschweigen. Die Kanzlerin, seit zehn Jahren im Amt, hat lange gebraucht, um wie Obama, Wulff und der Freiherr von Guttenberg ein eigenes Verb zu bekommen: “Obamern“ stand für intensives Abhören, „wulffen“ für das Spiel mit der Wahrheit oder das Vollquatschen der Mailbox und „guttenbergen“ für abschreiben, anspielend auf seine Doktorarbeit, an der er zu viele Mitschreiber beteiligt hatte.

Jugend ist nicht politisch korrekt, Jugend spielt mit den Autoritäten, mit Sprache und mit sich selber. Ein aussichtsreicher Kandidat für das Jugendwort des Jahres ist auch „Smombie“ – eine Zusammensetzung aus Smartphone und Zombie.

Wenn Sie also einen Menschen auf der Straße sehen, den Blick auf sein Smartphone gesenkt – dann rufen Sie einfach: Hi, Smombie.

 

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 27. Juli 2017 (geplant)

Wer zwei Sprachen spicht, fährt besser Auto (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 19. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.
  • Lernen Kinder fremde Sprachen besser als Erwachsene? Nein.
  • Sollen Zweijährige schon Englisch lernen? Nein.
  • Sind Autofahrer, die mehrere Sprachen beherrschen, bessere Autofahrer? Ja.

Heute beerdigen wir keine Wörter, sondern Vorurteile über Sprache und über das Lernen von Fremdsprachen. Der Sprachforscher Kees de Bot hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gleich mehrere Mythen über die Sprache zerstört:

  1. Erwachsene und ältere Kinder lernen erfolgreicher fremde Sprachen als Kinder – wenn man ihnen dieselbe Zeit zum Lernen gäbe.
  2. Kinder mit zwei oder drei Jahren sind so mit dem Erlernen der Muttersprache beschäftigt, dass es sinnlos ist, ihnen noch Englisch oder eine andere Sprache beizubringen. Einen Effekt erzielt man allerdings, wenn Kinder zwei Sprachen täglich sprechen.
  3. Auch Erwachsene können eine Fremdsprache lernen, wenn sie ein gutes Ohr und gutes Gedächtnis haben. Ob Jung oder Alt: Wer eine fremde Sprache wie seine Muttersprache beherrschen will, muss sehr fleißig sein und begabt. Maximal 15 Prozent derjenigen, die das unbedingt wollen, schaffen es auch.
  4. Wer eine Sprache lernt, vergrößert sein Gehirn, zumindest den Teil des Gehirns, der für Sprache zuständig ist. Wenn wir die Sprache aber nicht mehr sprechen, schrumpft das Gehirn wieder.
  5. Wer ein größeres Gehirn hat, macht weniger Fehler als Leute mit einem kleinen. Das beweist ein Experiment: Kinder sollen Karten zuerst nach Farben, dann nach ihrer Form sortieren. Zweisprachige Kinder machen weniger Fehler als einsprachige.
  6. Wer ein großes Gehirn hat durch seine Mehrsprachigkeit, fährt besser Auto als der einsprachige. In einem Experiment ließen sich mehrsprachige Autofahrer viel weniger ablenken: Sie kamen nicht aus der Spur.
  7. Ein Dialekt ist wie eine Fremdsprache, aber auch Spezialsprachen sind wie Fremdsprachen. Der Wissenschaftler erzählt ein Beispiel: Wer mit dem Bundespräsidenten spricht, äußert sich anders, als wenn er mit seinen Freunden spricht. „Und das ähnelt dem Sprechen in einer Fremdsprache.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 20. Juli 2015

Quelle: Süddeutsche Zeitung „Dialektlernen vergrößert das Gehirn“ (Bayern-Teil, 15. Juli 2015)

 

 

 

Leser fordert: Nutzt die automatische Rechtschreibprüfung und die Zeitung wird besser! (Leser fragen)

Geschrieben am 17. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Einem Leser aus Erfurt sind selbst Fehler im Promille-Bereich zu viele Fehler: „Das entschuldigt im Zeitalter der automatischen Rechtschreibeprüfung kaum die vielen Schreibfehler in unseren Zeitungen und Zeitschriften. Oder nutzen so viele Autoren noch die gute alte mechanische Schreibmaschine?“ Er geht so auf eine Kolumne des Chefredakteurs ein, der sich gegen den Vorwurf verteidigt hatte: In der Zeitung gibt es zu viele Fehler.

Auf den Vorschlag der „automatischen Rechtschreibeprüfung“ reagiert der Chefredakteur in seiner samstäglichen Kolumne „Leser fragen“:

Unsere Redakteure nutzen keine Schreibmaschinen mehr, aber sie nutzen auch keine automatischen Rechtschreibe-Programme. Automatische Prüfung bedeutet: Eine Software vergleicht alle Wörter mit denen in einem Wörterbuch. Findet sie das Wort nicht, geht sie von einem Fehler aus und ersetzt es ein durch ein Wort, das ähnlich geschrieben wird.

Eine Zeitung aus Sachsen hatte sich einmal auf einen Automaten verlassen: Der kannte nicht den Ministerpräsidenten Georg Milbradt und verbesserte ihn in: „Georg Milzbrand“.

Der Text wurde so gedruckt, die Zeitung bat um Entschuldigung, der Regierungschef nahm’s gelassen.

Leser einer niedersächsischen Zeitung lasen von „Pennern“ als Bewohner einer Stadt: Der Automat hatte aus den Bürgern von Peine „Penner“ gemacht.

Aus unserer Landeswellen-Moderatorin Nadine Haubold wollte der Automat eine Nadine Raufbold machen. Wir haben es verhindert.

Unsere Sprache lebt, verändert sich, bekommt neue Wörter – und taugt somit nicht für einen Automaten. Wir nehmen gerne zur Kenntnis, wenn die Rechtschreib-Prüfung ein Wort nicht kennt; wir lassen es aber nicht automatisch „korrigieren“.

 

FACEBOOK von Wolfgang Molitor (Stuttgarter Nachrichten) Das Programm bietet an: Eiterpickel für Leitartikel

Grexit, Grimbo, Alexit – neue Wörter dank der Griechenland-Tragödie. Ein deutsches Kofferwort passte auch: Jein

Geschrieben am 4. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Wir lesen in diesen griechischen Tagen, die voller Tragödien sind, eine Reihe neuer Wörter – wie Grexit oder Grexident. Es sind Kofferwörter, also zwei verwandte Wörter, die in einen neuen Koffer gesteckt werden.

So werden immer wieder Wörter erfunden. Als die Deutschen überzeugt waren: Mit der Einführung des Euro wird alles teurer, packten sie „teuer“ und „Euro“ in einen Koffer und nannten ihn „Teuro“.

Der amerikanische Volkswirt Ebrahim Rahbari erfand vor drei Jahren den „Grexit“ aus Greece, dem englischen Wort für Griechenland, und dem Exit, dem Ausgang aus einem Haus oder einer U-Bahn-Station. Er hat – ungewöhnlich für einen Ökonomen – Lust am Wort-Erfinden gewonnen und ersann vor einigen Wochen für den aktuellen Schwebezustand den „Grimbo“.

Greece, also Griechenland, und Limbo, ein Tanz aus Trinidad, sind die Lieferanten für das neue Kofferwort. Der Limbo erfordert eine enorme Akrobatik: Bei karibischen Klängen schlängelt sich der Tänzer unter einer niedrigen Stange durch und erntet beim faszinierten Publikum reichlich Beifall.

Dass der Tanz in Trinidad eine Woche nach einem Begräbnis getanzt wird, gibt dem neuen Wort eine pikante Note – dürfte aber bei der Schöpfung keine Rolle gespielt haben.

Der „Grexident“ ist auch ein englisches Kunstwort, zusammengesetzt aus Greece und Accident, dem Wort für einen Unfall. So sah es auch lange aus: Europa stolpert in den Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone, der weniger politischem Kalkül folgt, sondern wie ein Unfall einfach so passiert.

Tsipras, der griechische Regierungschef, wird im Internet gern beim Vornamen genommen: Alexis. Beim neuesten Kofferwort musste nur der letzte Buchstabe seines Vornamens geändert werden: „Alexit“ – ein Kofferwort aus Alexis und „Exit“. Alexit steht für das Ende Tsipras, für den Rücktritt nach dem Ende aller Illusionen.

Das schönste und bekannteste deutsche Kofferwort ist viel älter als alle griechischen Tragödien, es hat nur eine Silbe und vier Buchstaben: „Jein“. Es würde auch auf Griechenland passen, auf Tsipras und seine Kofferträger.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 6. Juli 2015

 

Wen schändet ein „Kinderschänder“? Polemik gegen einen unsäglichen Begriff (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Screenshot_reinhold_gall_tweetDer Innenminister in Baden-Württemberg ist SPD-Mitglied und Anhänger der Vorratsdaten-Speicherung. Als seine Partei auf einem Konvent über die Vorratsdaten diskutierte, schrieb er einen Tweet:

Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.“ (Das Komma fehlt im Original)

Immer wieder gehe ich an einem parkenden Auto vorbei, das auf der Heckscheibe propagiert:

Todesstrafe für Kinderschänder

„Kinderschänder“ ist ein Wort, das Neonazis und die NPD gerne gebrauchen; sie fangen damit auch Bürger, die weder braun sind noch NPD-Wähler, aber Gewalt gegen Kinder verurteilen (und wer tut das nicht?). Was bedeutet aber der Begriff „Kinderschänder“?

Er erinnert an einen Begriff wie „Rassenschande“ aus dem Wörterbuch der Nationalsozialisten. Der „Rassenschänder“ wie der „Kinderschänder“ sind zwiespältige Begriffe: Beide bringen Schande über den Schänder – und über den Geschändeten. Wer ein Kind „schändet“, liefert es der Schande aus; es ist befleckt – womöglich gemeinsam mit der Familie. Neben dem Leid steht auch noch der Verlust des Ansehens, der soziale Abstieg.

Zudem suggeriert der Begriff: Das Opfer der Vergewaltigung hat sich nicht gewehrt, es vielleicht sogar provoziert, es ließ sich schänden und gehört somit nicht mehr zum ehrenwerten Teil der Gesellschaft. Das Opfer wird zum zweifachen, zum ewigen Opfer

Der Blogger Sascha Lobo meint: Wer den menschenfeindlichen Begriff „Kinderschänder“ benutzt, nimmt „ein Sitzbad im braunen Schlammwasser hinter dem rechten Rand“. Ein Innenminister, der den NPD-Begriff nutzt, sei „unwürdig in einer Demokratie“.
„Um wie Könige zu prahlen, schänden kleine Wütriche ihr armes Land“, schrieb der Dichter Hölderlin in einem Gedicht. Wir brauchen „schänden“ nicht, wir können von „vergewaltigen“ oder „misshandeln“ sprechen. „Kinderschänder“ sollten wir schnell und geräuschlos auf dem Friedhof der Wörter beerdigen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 29. Juni 2015 (geplant)

Das „Blabla“ der Politiker: Von Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

In guten Zeiten gehen die Menschen in den Supermarkt und bekommen alles, was sie brauchen. In schlechten Zeiten legen sich die Menschen einen Vorrat an: Das ist klug, sagen wir, und hören den Geschichten unserer Groß- und Urgroßeltern zu, wenn sie aus den Jahren nach dem Krieg erzählen.

Wenn Politiker von Vorrats-Daten sprechen, die sie speichern, meinen sie nichts Gutes: Sie greifen nach der Freiheit der Bürger und vermuten, dass alle irgendwann etwas Böses tun. Würden sie das Gesetz aber ein Anti-Freiheitsgesetz nennen, spürten die Bürger genau das Ungemach.

„Infrastrukturabgabe“ ist auch ein Nebelwort. Politiker nennen so die Maut, also eine Steuer, die wir – früher oder später – für die Benutzung der Straßen zahlen müssen, die schon mit unserem Geld gebaut worden sind.

Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe sind zwei Beispiele für die Flucht in politische Sprachspiele. Von dieser Flucht sprach schon Helmut Kohl, als er vor dreißig Jahren die Frankfurter Buchmesse eröffnete: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert.“ Diese Einsicht hinderte weder ihn noch seine Nachfolger, diese Spiele zu spielen.

Heiner Geißler, kein Freund Kohls, sondern nur ein Parteifreund, sprach vom „Blabla“ mancher Politiker – und schloss uns Journalisten gleich mit ein; er forderte: „Die Wahrheit muss deutlich gesagt werden.“

Nun ist das Gegenteil der politischen Wahrheit nicht die Lüge, sie ist selten. Wer lügt, den erwischen die Kollegen, richten einen Untersuchungsausschuss ein oder verlangen den Rücktritt. Das Gegenteil der politischen Wahrheit ist der Nebel, der uns an der freien Sicht auf die Wirklichkeit hindert.

Fordern wir also: Politiker, sprecht die Wahrheit! Ja, hören wir das Echo. Aber wenn es darauf ankommt, also bei Wahlen, Parteitagen und ähnlichen Wahrheits-Kongressen, gewinnt meist der, der im Nebel die beste Sicht hat – und Helmut Kohl folgt: „Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“

Im vergangenen Bundes-Wahlkampf war es Peer Steinbrück, der den Nebel mied, klare Positionen bezog – aber sprach, als fühle er sich im Kühlschrank wohl. Der Dresdner Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat während des vergangenen Bundes-Wahlkampfs in einer detaillierten Analyse die Reden Merkels und Steinbrücks verglichen: Steinbrück verzichtete auf den Nebel, aber auch auf Emotionen; Merkel nutzte die Emotionen und den Nebel.

Wir schimpfen also auf den Nebel und lassen uns doch gern von ihm einlullen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Juni 2015; erweiterte Fassung

 

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