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Die deutsche Sprache gehört nicht den Deutschen allein. So wählen nicht nur die Österreicher ihr eigenes Wort des Jahres, auch die Schweizer. Zu Recht, denn der „Einkaufstourist“ hätte in Deutschland keine Chance – es sei denn am östlichen Rand unserer Republik, von dem die Einkaufstouristen aus Sachsen, Brandenburg und Vorpommern nach Polen fahren, um billige Zigaretten zu kaufen und billig zu tanken. Auch aus Berlin fahren sie schon zum Haareschneiden oder preiswerten Beerdigen ins Nachbarland.
Nur – wie kommen die reichen Schweizer auf den „Einkaufstouristen“? Die Deutschen in der südwestlichen Ecke schreckten auf, als plötzlich Tausende von Schweizern im „Aldi“ die Regale leer räumten. Weil der Schweizer Franken nicht mehr an den Euro-Kurs gekoppelt war, konnten die Schweizer viel billiger einkaufen.
So begründet die Schweizer Jury ihr Wort des Jahres: „Die Aufnahmezentren für die Wirtschaftsflüchtlinge aus der Schweiz sind die Einkaufszentren von Konstanz bis Lörrach. Das Wort des Jahres 2015 ist Einkaufstourist.“
Die Schweizer leben in einem kleinen bergigen Land und bleiben gerne unter sich, aber im vergangenen Jahr drehte sich ihre Sprache um den Rest der Welt. „Asylchaos“ ist das Schweizer Unwort des Jahres. Die Schweizer sind von deutschen Verhältnissen weit entfernt, so dass die Jury auch begründete: „Dass wir in der Schweiz ein Asylchaos hätten, ist eine Behauptung, mit der im Wahljahr Ängste geschürt wurden. Denn die sogenannte Flüchtlingswelle ist ja weitgehend an der Schweiz vorbeigegangen.“
Den Satz des Jahres könnten wir uns im Weltmeister-Land Deutschland von den Schweizern borgen: „Eine WM kann man nicht kaufen“, sprach der Schweizer Sepp Blatter, als er noch Fifa-Präsident war. Die Jury konnte sich Ironie nicht verkneifen: „Beeindruckt hat uns, mit welchem Trotz Sepp Blatter allen Enthüllungen im Jahr 2015 widerspricht.“
Weil Schweiz und Geld meist in einem genannt werden, wählen die Schweizer auch ein Finanzwort des Jahres: „Frankenschock“ – womit der Schock gemeint ist, der die Schweizer als „Einkaufstouristen“ nach Deutschland trieb.
Und das deutsche Finanzwort des Jahres? Es sollte auch gewählt werden! Mein Vorschlag fürs vergangene Jahr: „VW-Abgas-Manipulation“; wahlweise kann Manipulation ausgetauscht werden mit „Abgas-Affäre“ oder „-Skandal“. „Dieselgate“ wäre kurz und heftig, aber recht unverständlich für die meisten Diesel-Fahrer.
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Thüringer Allgemeine, 25. Januar 2016, Friedhof der Wörter, Seite 12 – erweiterte und redigierte Fassung
Was für ein Plädoyer für die deutsche Sprache! Geradezu eine Liebeserklärung, die Marcel Reif zum Abschied als Fußball-Moderator bei Sky gibt. Er war, man sehe mir den hymnischen Ton nach, ein begnadeter Reporter, der in einem SZ-Interview mit Holger Gertz und Alexander Gorkow schwärmt:
Sprache ist ein Geschenk! Wir müssen sie lieben und pflegen! Und wenn wir uns fragen, was anders geworden ist im Sportjournalismus: Dann ist das bei all dem Lärm die mit diesem Lärm einhergehende Sprachlosigkeit.
Reif erzählt ein Beispiel aus den siebziger Jahren. Rainer Günzler, ZDF-Moderator, berichtet vom Tennis-Sandplatz-Turnier in Berlin. Der Moderator im Studio sieht, wie ein Zug am Rande des Tennisplatzes vorbeifährt, und beginnt mit einer mittlerweile bekannt dämlichen Frage (nur duzt er seinen Kollegen noch nicht):
„Zu unserem Reporter Rainer Günzler! Wir sehen dahinten einen Zug vorbeifahren, was können Sie uns dazu sagen?“
Günzler: „Ein Zug“ Pause
„Wir wissen nicht, woher er kommt.“ Pause
„Wir wissen nicht, wohin er fährt.“ Pause.
„Aufschlag Kreyenberg.“
Die SZ-Interviewer sagen nur: „Ein Gedicht.“ Wir sollten unsere Sprache lieben.
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Süddeutsche Zeitung, Sport, 18. Januar 2016 „Sprache ist ein Geschenk“
Ist „Gutmensch“, das Unwort des Jahres, ein gutes Unwort? Fragen wir den großen Weimarer Dichter:
Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er
Das Nützliche, Rechte.
So endet Goethes Gedicht „Das Göttliche“. Zwei Merkmale hat also der Mensch: Er hilft, er ist gut. Genauer: Er soll gut sein, soll sich darum mühen, er sei eben gut.
Gut zwei Jahrhunderte später soll sich jeder schämen, wenn er von guten Menschen spricht? Es lohnt ein Blick in die Motive der sechsköpfigen Jury, in der vier Sprachwissenschaftler in der absoluten Mehrheit sind, darunter nur eine Frau. Sie wollen das Volk belehren, wollen ihm die schlechten Wörter austreiben. Mit Wissenschaft hat das wenig zu tun.
Und dem Volk aufs Maul schauen sie auch nicht: Der „Gutmensch“ steht nur auf dem dritten Platz der Einsendungen; die folgenden Rügen – „Hausaufgaben“ und „Verschwulung“ -, tauchen unter den ersten zehn Vorschlägen überhaupt nichts auf. Überhaupt scheint sich das Volk wenig ums Unwort zu kümmern: 1640 beteiligten sich; zum Vergleich: Im kleinen Volk der Österreicher beteiligten sich am Unwort-Wettbewerb zwanzig Mal so viel!
Die Moral beurteilen die Sprachforscher, nicht die Sprache; das ginge so: Das Substantiv ist der Übeltäter, weil es aus der Verbindung vom positiv besetzten Adjektiv „gut“ und dem ebenfalls positiven „Mensch“ eine Abwertung schafft. Zusammengesetzte Substantive sind das Besondere der deutschen Sprache, sie verwandeln Wörter: Ein Gutmensch ist eben nicht der gute Mensch, vielmehr bekommt das Wort eine eigene Bedeutung.
„Mit dem Vorwurf ,Gutmensch‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm oder weltfremdes Helfersyndrom diffamiert“, schreibt die Jury, die offenbar auch aus Gutmenschen besteht, obwohl diese Bezeichnung an dieser Stelle zumindest politisch nicht korrekt ist.
Gute Menschen können anstrengend sein: Der moralinsaure Ton kann auf die Nerven gehen, auch die Attitüde, wir sind die besseren Menschen. Mit Gutmenschen bezeichnen wir vornehmlich die, deren Gut-Sein sich im Appell an den Staat oder andere erschöpft, endlich Gutes zu tun. Doch das sind keine Gutmenschen, sondern Gut-Forderer.
Wie soll man die Gutmenschen denn nennen? Mit der Rüge ist das Denken nicht verschwunden: Utopisten, Träumer, Weltverbesserer? Oder einfach: gute Menschen? Wer so spricht, dem vergeht jeder Spott.
Enden wir mit Goethe, der in einem Gedicht von Gutmann und Gutweib spricht. Es ist ein lustiges Gedicht.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 18. Januar 2016 (dieser Blog ist eine erweiterte Fassung)
Info:
Die Jury bilden die Sprachwissenschaftlern Prof. Dr. Nina Janich/TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Düsseldorf), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie der Autor Stephan Hebel. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr der Kabarettist Georg Schramm beteiligt.
Begründungen der Jury laut Pressemitteilung:
> „Gutmensch“ ist zwar bereits seit langem im Gebrauch und wurde auch 2011 schon einmal von der Jury als ein zweites Unwort gewählt, doch ist es im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema im letzten Jahr besonders prominent geworden. Als „Gutmenschen“ wurden 2015 insbesondere auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen.. Der Ausdruck „Gutmensch“ floriert dabei nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager als Kampfbegriff, sondern wird auch hier und dort auch schon von Journalisten in Leitmedien verwendet. Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindert somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten. Im gleichen Zusammenhang sind auch die ebenfalls eingesandten Wörter „Gesinnungsterror“ und „Empörungs-Industrie“ zu kritisieren. (Der Ausdruck „Gutmensch“ wurde 64-mal und damit am dritthäufigsten eingesendet.)
> „Hausaufgaben“ Das Wort „Hausaufgaben“ wurde in den Diskussionen um den Umgang mit Griechenland in der EU nicht nur, aber besonders im Jahr 2015 von Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten als breiter politischer Konsensausdruck genutzt, um Unzufriedenheit damit auszudrücken, dass die griechische Regierung die eingeforderten so genannten Reformen nicht wie verlangt umsetze: Sie habe ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht. In diesem Kontext degradiert das Wort souveräne Staaten bzw. deren demokratisch gewählte Regierungen zu unmündigen Schulkindern: Ein Europa, in dem „Lehrer“ „Hausaufgaben“ verteilen und die „Schüler“ zurechtweisen, die diese nicht „erledigen“, entspringt einer Schule der Arroganz und nicht der Gemeinschaft. Das Wort ist deshalb als gegen die Prinzipien eines demokratischen Zusammenlebens in Europa verstoßend zu kritisieren.
> Verschwulung“ Das Wort „Verschwulung“ ziert einen Buchtitel des Autors Akif Pirinçci („Die große Verschwulung“) und wurde von der Online-Zeitschrift „MÄNNER“ und ihren Lesern zum „Schwulen Unwort 2015“ gekürt. Die Jury teilt die Ansicht der Zeitschrift und ihrer Leser, dass ein solcher Ausdruck und die damit von Pirinçci gemeinte „Verweichlichung der Männer“ und „trotzige und marktschreierische Vergottung der Sexualität“ eine explizite Diffamierung Homosexueller darstellt und kritisiert den Ausdruck daher ebenfalls als ein Unwort des Jahres 2015. Auch durch die Analogie zu faschistischen Ausdrücken wie „Verjudung“ ist die Bezeichnung kritikwürdig.
Unwort-Statistik 2015: Für das Jahr 2015 wurden 669 verschiedene Wörter eingeschickt, von denen ca. 80 auch den Unwort-Kriterien der Jury entsprechen. Die Jury erhielt insgesamt 1644 Einsendungen. Die zehn häufigsten Einsendungen, die allerdings nicht sämtlich den Kriterien der Jury entsprechen, waren
- Lärmpause [165],
- Willkommenskultur [113],
- Gutmensch [64],
- besorgte Bürger [58],
- Grexit [47],
- Wir schaffen das! [46],
- Flüchtlingskrise [42],
- Wirtschaftsflüchtling [33],
- Asylgegner/-kritiker/Asylkritik [27]
- Griechenlandrettung/ Griechenlandhilfe [27].
Das FAZ-Interview mit Innenminister Thomas de Maizière zu seiner Kritik an der Polizei beginnen die Journalisten mit der Frage „Warum haben Sie das getan, Herr Minister?“ Der Minister beantwortet die Frage nicht, sondern schwadroniert: „Anschließend habe ich mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister telefoniert…“
Die Journalisten lassen dem Minister durchgehen, dass er ihre Frage ignoriert, sie fassen nicht nach, sondern gehen zum nächsten Thema über.
Die dritte Frage besteht aus drei Fragen:
Sollte in Köln etwas unter den Teppich gekehrt werden? Vieles war der Polizei schon in der Silvesternacht bekannt: sexuelle Übergriffe, Verdächtige mit Migrationshintergrund. Führen Sie das auf den Umgang mit Kriminalität zurück, sobald die Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben? Ist das die Kehrseite der Willkommenskultur?
Nur zwei beantwortet der Minister.
Die siebte Frage ist keine Frage, auf die der Minister nicht antworten kann: Also nimmt er die Einladung dankbar an und schwadroniert wieder.
In Köln ist nach außen hin aber das Gegenteil passiert: Die Polizei verbreitete am Neujahrstag eine Darstellung, die all diejenigen bestätigt, die sagen, da wird uns ein Bild präsentiert, das gar nicht der Wirklichkeit entspricht.
De Maizière: Ein Generalverdacht ist genauso wenig der richtige Weg wie das Tabuisieren der Herkunft von Kriminalität. Es darf keine Schweigespirale geben, schon gar nicht darf sie von der Polizei ausgehen.
Die neunte Frage ignoriert der Minister einfach und macht ein eigenes Thema auf:
Gewalt gegen Asylbewerberheime, Gewalt in Asylbewerberheimen, Gewalt auf öffentlichen Plätzen. Hat die Polizei noch die Kontrolle?
De Maizière: Ich will den Bogen etwas weiter spannen. Es gibt weit über die Vorfälle in und um Asyleinrichtungen hinaus eine Tendenz zur Verrohung sowohl der Sprache als auch des Verhaltens in wachsenden Teilen der Gesellschaft. Das hat ein Ausmaß angenommen, das nicht hinzunehmen ist…
Nach der 18. Frage korrigiert der Minister die Journalisten und stellt die Frage, die er für die richtige hält:
Nach den Kölner und anderen gewalttätigen Vorfällen fragt man sich außerdem: Was ist mit dem Entzug des Aufenthaltstitels?
De Maizière: Da stellt sich zunächst die Frage: Wirkt sich die Strafbarkeit auf die Erteilung von Asyl aus? Geltendes Recht ist, dass bei einer Strafe von drei Jahren eine Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist…
Was macht ein gutes Interview aus:
- Die Journalisten fassen nach, wenn die Frage nicht beantwortet wird – solange sie eine Antwort bekommen oder dem Leser klar wird, dass der Gast nicht antworten will. Ein Interview mit einer unbeantworteten Frage zu beginnen, ist zumindest unglücklich.
- Journalisten stellen immer nur eine Frage, sonst laufen sie Gefahr, dass sich der Gast die Frage aussucht, die ihm gefällt.
- Wenn sie keine Frage formulieren, sondern Fakten präsentieren oder Meinungen äußern, müssen sie darauf achten, dass ihr Gast darauf reagiert.
- Korrigiert der Gast eine Frage zu Recht, dann ändert man in der Autorisierung die eigene Frage: Nicht nur der Gast kann seine Antworten ändern, auch die Redaktion ihre Frage – vor der Autorisierung selbstverständlich. Fragen und Antworten müssen aufeinander abgestimmt sein.
Gerade wenn ein Interview autorisiert wird, lassen sich in der zum Druck vorgesehenen Fassung manche Unebenheiten des Gesprächs ausgleichen – auf beiden Seiten. Ein Interview mit einem unsicheren Minister zu einem heftig diskutierten Thema ist nicht einfach zu schreiben, zumal – so ist zu vermuten – nur wenig Zeit bestand, es von einer sperrigen Presseabteilung autorisiert zu bekommen; dennoch sollten einfache Regeln beachtet werden wie „Nachfassen“ oder „klare Fragen stellen“. Der Leser verlangt es.
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Quelle: FAZ, 9. Januar 2016, Seite 2 „Es darf keine Schweigespirale geben“
Wir haben das Wort des Jahres, das Unwort des Jahres und das Jugendwort des Jahres. Die Österreicher haben noch den Spruch des Jahres:
Frankreich wir kommen!
Den werden die meisten Deutschen nicht verstehen: „Frankreich wir kommen“ war das Motto der österreichischen Fußballer, die sich nach über einem halben Jahrhundert wieder sportlich für die Europameisterschaft qualifizieren konnten. Der Spruch macht deutlich: Die Österreicher waren weise, als sie sich von den deutschen Wörtern, Unwörtern und Jugendwörtern lösten – auch wenn sie die gleiche deutsche Sprache sprechen.
Sprache ist an einen Ort gebunden: Manches, was in Deutschland gesagt wird, interessiert in Österreich kaum jemanden – und umgedreht auch. Weise waren die Österreicher auch, als sie nicht nur vom deutschen Wort des Jahres verabschiedeten, sondern auch den Spruch des Jahres von den Bürgern wählen ließen.
In Deutschland wählt den Spruch des Jahres eine „Deutsche Akademie für Fussballkultur“ – ja wirklich: „Fußballkultur“, wobei wohl nicht nur an den Kulturbeutel beim Duschen gedacht ist.
Sind drei Sätze mit 18 Wörtern noch ein Spruch? In der Fußballkultur offenbar:
München ist wie ein Zahnarztbesuch. Muss jeder mal hin. Kann ziemlich weh tun. Kann aber auch glimpflich ausgehen,
sprach Sebastian Prödl , ein Österreicher, vor dem Spiel bei den Bayern.
Zur Wahl stand auch ein 18-Wörter-Spruch von Bruno Labbadia, als er Trainer in Hamburg werden sollte:
„Ich habe meine Frau vor die Wahl gestellt: Mallorca oder HSV? Aber ich habe sie nicht ausreden lassen.“
Der Spruch könnte der Macho-Spruch des Jahres sein.
Den Unspruch des Jahres wählen die Österreicher auch – und die fünf Wörter haben es in sich: „Ich bin kein Rassist, aber …“ In der Regel folgt ein rassistischer Spruch, tausendfach in den unsozialen Netzwerken zu lesen.
Und welcher Spruch wäre der bundesdeutsche des Jahres? Drei Wörter, die man nicht gut finden muss, die aber jeder kennt, jeder zuordnen kann: „Wir schaffen das“.
Die drei Wörter sprach die Kanzlerin in einem größeren Zusammenhang auf einer Pressekonferenz Ende August in Berlin, aber nur drei Wörter blieben haften:
„Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Kein normales Frauenmagazin
steht auf der Titelseite direkt unter dem Magazin-Namen „Barbara“: Barbara ist die neue Frauenzeitschrift von Gruner+Jahr mit einer Auflage von 350.000 Exemplaren. Barbara ist die Zeitschrift von Barbara Schöneberger, die einer der schönsten, prominentesten und gefragtesten Moderatorinnen ist, auch Sängerin und bald Wachsfigur im Berliner Kabinett von Madame Tussaud.
Und was ist das Frauenmagazin – außer dass es unnormal ist? Keine Antwort auf der Titelseite, nur noch eine Nicht-Nachricht:
Ohne Botox, Detox und Sex-Tipps
Profis werden kaum diese Titelzeilen erfunden, gar geduldet haben. Nehmen wir einfach an, Barbara habe selbst Hand angelegt und muss Journalismus noch erkunden (und nimmt dabei gleich ihre Fans als Leserinnen mit).
Nicht-Nachrichten sind selten eine Nachricht: Heute kein Wasserrohr-Bruch! Heute kein Brandanschlag! Heute keine Höcke-Rede!
Leser wollen wissen, was ist; sie wollen nicht wissen, was nicht ist. Wolf Schneider zitiert in „Deutsch für Kenner“ eine Studie von „Psychologie today“: Menschen brauchen 48 Prozent mehr Zeit, eine verneinende Aussage zu verstehen als eine bejahende. Von seltenen Ausnahmen abgesehen gilt der Rat für jeden, der seine Leser ernst nimmt: Meide die Verneinung!
Also statt „Keine Waffenruhe mehr in der Ukraine“: „Wieder Krieg in der Ukraine“ (oder wem „Krieg“ zu weit geht: Wieder Kämpfe in der Ukraine); da muss keiner überlegen, was ihm der Redakteur sagen will.
Also Frau Schöneberger: Nur Mut! Sage Deiner Leserin, was sie ohne Sex erwartet!
Die Österreicher sprechen deutsch, aber sie trauen den Deutschen nicht mehr, wenn es um das „Wort des Jahres“ geht. Sie wählen ein eigenes und haben 2015 die bessere Wahl getroffen: „Begrüßungskultur“. Man mag „Seid nett zu den Fremden!“ gut oder schlecht finden, aber das Wort beherrschte die Debatte des Jahres, drang erst in die Schlagzeilen der Zeitungen vor, dann in den Wortschatz der Politiker und schließlich in unsere Alltagssprache.
Schwer zu entdecken ist, wer das Wort erfunden hat, zumal es aus zwei lange gebräuchlichen Wörtern zusammengesetzt ist. Seitdem die Kultur schon mit dem Beutel vermählt wurde, muss sie für alles Mögliche ihren Namen hingeben. Hundert und mehr Zusammensetzungen sind bekannt von der Pop-Kultur über die Mono-, Nackt-, Primitiv- bis zur Urnenfelder-Kultur.
Zu Flüchtlingen, dem Thema des Jahres auch in Österreich, passt dort auch das Unwort des Jahres: „Besondere bauliche Maßnahmen“, von denen die Innenministerin sprach, um nicht vom Grenz-Zaun sprechen zu müssen an der Grenze zu Slowenien.
Warum sind die Österreicher klüger bei der Wahl zu den Wörtern des Jahres? Nicht ausschließlich Wissenschaftler und Experten, die dem Alltag vielleicht schon entrückt sind, wählen wie in Deutschland, sondern die Bürger selber. 34.000 gaben ihre Stimme ab: Das ist zwar keine Massenbewegung, ist ein halbes Prozent der Bevölkerung, aber entspräche gut 350.000 in Deutschland – die wohl kaum für „Flüchtling“ gestimmt hätten.
Die „Lügenpresse“ ist von Dresden auch nach Wien geschwappt, so dass die Österreicher dem Wort die Silbermedaille umhängen im Wettstreit um das Unwort des Jahres. Bronze gibt es für ein besonders perfides Wort, das Manager erfunden haben, um nicht mehr von massenhaften Kündigungen sprechen zu müssen oder der Schließung von Unternehmen: „Kostendämpfungspfad“.
Das Wort führt in die Irre, meint die Jury der „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“. Sprache allerdings soll die Menschen verbinden, statt in die Irre zu führen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 4. Januar 2016
„Flüchtling“ soll das Wort des Jahres sein. Es ist das Thema des Jahres und wird das Thema des nächsten sein. Aber was ist ungewöhnlich an dem Wort, das ihm eine Jury zu Ruhm und Ehre verhilft?
Maria und Josef waren Flüchtlinge, als sie mit ihrem Baby nach Ägypten flohen: So alt ist die Geschichte der Flüchtlinge – und noch viel älter. So lange gibt es das Wort oder ähnliche in anderen Sprachen. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg nennt „Flüchtling“ ein altes Wort und meint: Es ist so alt, dass keiner sein wirkliches Alter kennt.
Die Sprach-Experten vom „Wort des Jahres“ hängen dem „Flüchtling“ ein dunkles Gewand um: „Es klingt für sprachsensible Ohre tendenziell abschätzig“ – wegen der Endung „ling“, auf die auch Wörter wie Eindringling enden, Emporkömmling oder, was Journalisten besonders bedrückt, Schreiberling.
Auch wer nicht besonders sprachsensibel ist, kennt nette „ling“-Wörter. Sollen wir, wegen seiner ling-Tendenz, den Frühling abschaffen? Oder den Liebling, den Säugling und Zwilling, den Pfifferling und Saibling, den Häuptling und Schmetterling?
Aber das Abschätzige, das Experten vermuten, liegt an einer Eigenheit des Flüchtlings: Das Wort ist männlich und sonst nichts. Die „Flüchtlingin“ ist unmöglich in der deutschen Sprache. Das hat Gründe, komplizierte, die Wissenschaftler erklären können, aber sie alle kommen zu dem Schluss: Es kann keine „Flüchtlingin“ geben.
Das werden selbst die Grünen einsehen müssen und sonstige Gender-Aktivisten; aber sie greifen schon zu einem neuen Wort: Die oder der Geflüchtete. Aber bedeutet das neue Wort dasselbe wie der „Flüchtling“?
Nein, sagt der Sprachwissenschaftler Eisenberg:
„Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.“
Übrigens: Das Wörterbuch der Brüder Grimm findet einen Beleg für die „Flüchtlingin“ – ein „J.P.“ schrieb vom „vom Busen einer schönen Flüchtlingin“. Das passt.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Dezember 2015
Quelle für Eisenberg: FAZ, 16. Dezember 2015, Aufmacher Feuilleton „Hier endet das Gendern. Flüchtlinge haben ein Geschlecht, aber das Wort braucht keines“
Mit Kolumnisten, noch dazu außerordentlichen, legt man sich nicht ohne Grund an.
So schreibt Hermann Unterstöger, selbst ein außerordentlicher Kolumnist, in seiner SZ-Kolumne „Sprachlabor“. Willkommen beim Wochenende der Kolumnisten auf dem Glatteis: Auch Bülend Ürük in Kress-Online hadert mit einer Kolumnistin bei der SZ, diesmal der SZ aus Stuttgart. Da hat ein Muslime-Nazi-Vergleich der Kolumnistin offenbar Leser so verärgert, dass eine Sprecherin der Zeitung (!) auch meint, herausheben zu müssen, dass man sich mit Kolumnisten nicht anlegen will:
Generell gilt in der Stuttgarter Zeitung die redaktionelle Linie, dass wir den Kolumnisten – zu denen auch Frau Krause-Burger gehört – einen weiten bis sehr weiten Meinungskorridor einräumen.
Der Kolumnisten-Kritiker Unterstöger aus München bleibt in seiner Kolumne charmant und nennt weder die Kolumne noch den Namen der Kolumnistin, er pflegt also einen inner-redaktionellen Datenschutz . Zudem wartete er fast einen Monat, ehe er die Kolumnistin tadelte – weil sie recht umgangssprachlich „mit was“ und „zu was“ formulierte statt die Adverbien „womit“ und „wozu“ zu nutzen. Da mag der Unterstöger wieder gedacht haben: Besser gut gemeint als gut geschrieben, das reicht den Kolumnisten, die unentwegt die Welt retten.
Unterstöger rettet nur die deutsche Sprache.
Sibylle Krause-Burger will mehr retten und richtet über den „Fremdenfrust“ der Ostdeutschen. Bülend Ürük und einigen Lesern der Stuttgarter Zeitung stieß dieser Satz der Kolumnistin auf, der offenbar nicht nur sprachlich mißlungen ist:
Und so begeistert, wie die Väter und Großväter einst den Mordaufrufen der Nazis folgten und für ihren Vernichtungswillen die gerade mal 500 000 völlig integrierten deutschen Juden ins Feld führten, so begeistert gehört es sich 70 Jahre später, Hunderttausenden von geflüchteten Muslimen ein freundliches Gesicht zu zeigen.
Sibylle Krause-Burger greift zu einem Nazi-Vergleich, und kress-online zitiert mich dazu:
Paul-Josef Raue warnt Journalisten davor, Nazi-Vergleiche zu ziehen: „Sie werden eigentlich meist falsch verstanden“, so der erfahrene Journalist. „Wer Nazi-Vergleiche bemüht, nutzt die schärfste moralische Waffe, die wir in Deutschland haben; wer solche Nazi-Hiebe austeilt, will Debatten verhindern, will Recht behalten, will als guter Mensch strahlen und verehrt werden“.
Noch ärgerlicher ist allerdings die Respektlosigkeit der Kolumnistin gegenüber den Ostdeutschen, den Deutschen „drüben“, übrigens ein Begriff aus dem Kalten Krieg: „Hier Willkommenslust, drüben Fremdenfrust“. Diese Respektlosigkeit verärgert die Menschen im Osten, diese Respektlosigkeit ist einer der Gründe, warum Pegida nicht implodiert.
Offenbar wächst mit dem Abstand zur ehemaligen innerdeutschen Grenze die Bereitschaft, den Osten zu stigmatisieren und ihn nicht verstehen zu wollen (oder nur nach eigenen Massstäben). Da baut man lieber wieder eine Mauer auf, nennt die Landsleute im Westen die „lieben Landsleute“ und die im Osten „Landsleute aus der ehemaligen Zone“. Sybille Krause-Burger versteht die Menschen im Osten nicht, dabei stehen mittlerweile, so fand sie heraus, „in ihren Wohnungen Trockner, Wasch- und Spülmaschinen“.
Gab es in der DDR keine Waschmaschine? Haben die Frauen in Dresden und Erfurt vor der Revolution noch am Waschbrett gestanden, geschrubbt und dabei Arbeiter-Lieder gesungen? Wahr ist: Die Waschmaschinen in der DDR waren nicht so gut wie die im Westen, weil die guten ostdeutschen Waschmaschinen in den Westen verkauft wurden.
Wer die Menschen im Osten verstehen will und respektieren, der sollte auf Küchenpsychologie verzichten nach dem Muster: Schwere Kindheit, Schattenseite des Lebens und nun auch noch Arbeitslosigkeit. Zu den Fakten: Die Arbeitslosigkeit in Thüringen und Sachsen ist mittlerweile niedriger als in Nordrhein-Westfalen oder Bremen. Und die Revolution war eine der Ostdeutschen, nicht der „lieben Landsleute im Westen“ auf der Sonnenseite.
Der Papst in Rom öffnet eine Pforte und der Bischof in Erfurt; im Kloster auf dem Eichsfelder Hülfensberg kann auch jeder, der durch die Pforte schreitet, einen Ablass gewinnen, so als hätte es Luther nie gegeben.
Das Heilige Jahr hat begonnen. Der Kurienkardinal Mauro Piacenza ist ein moderner Gottesmann und bemüht einen sonderbaren Vergleich:
Der Ablass nimmt als Staubsauger Gottes die Krümel der Sünde weg.
Doch ist der Ablass, der dem reuigen Sünder die Strafe erlässt, nur eine Nebensache. Das Hauptwort des Jahres ist: Barmherzigkeit.
Da hat sich der Papst etwas einfallen lassen: Wer kennt noch „Barmherzigkeit“? Wer spricht es? Es ist ein schwieriges Wort, das eine seltsame Geschichte hinter sich hat. Das „Herz“ verstehen wir noch – aber das „barmen“?
Die Brüder Grimm schauen in ihrem Wörterbuch zur Sprachgeschichte Thüringens: „Sie barmt schrecklich, tut ganz kläglich“, so sprachen unsere Altvorderen; und sie meinten mit „Barmen“ das Lamentieren. Schon sind wir nahe am Erbärmlichen.
So schlingert das Wort vom positiven Klang des Mitleids zum negativen des Jämmerlichen. Schon die Brüder Grimm wunderten sich, wie sich ein Wort so drehen konnte: Erst Herz, dann Elend.
Luther allerdings schwärmte von der Barmherzigkeit: „Nun weiß aber jeder Mann wohl, was barmherzig heißt: Ein Mensch, der gegen seinen Nächsten ein freundlich, gütig Herz trägt und Mitleid mit ihm hat..“
Dann aber drechselt Goethe in einem Gedicht wieder am „erbärmlich“ herum, erfindet „bärmlig“, vielleicht um des Reimes willen, und erhebt den Schwank zum Gegenpol des Erbärmlichen:
Wenn andre bärmlich sich beklagen,
Sollst schwankweis deine Sach vortragen.
Es ist schon ein Kreuz mit den Werken der Barmherzigkeit, meint auch der deutsche Kardinal Walter Kasper. Das schwierigste sei, unangenehme Menschen zu ertragen: „Dann muss man sich anstrengen, nachgiebig und gütig zu sein.“
Ich wünsche allen Lesern meiner Kolumne: Barmherzige Weihnacht!
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Thüringer Allgemeine, 21. Dezember 2015, Friedhof der Wörter