Zeitungen oder vom Wechseln der Räder beim fahrenden Zug (Zitat der Woche)
Wer noch Sprachbilder für seine nächsten Ansprachen an die Mitarbeiter braucht oder für die nächste Rede oder Festrede:
Vielen Branchen und Unternehmen werden gerade die Räder beim fahrenden Zug ausgewechselt. Unklar ist, ob hinterher noch alle Mitarbeiter im Zug sitzen, die Kunden gerne in den Zug einsteigen und ob aus dem Zug sogar ein ganz anderes Fahrzeug wurde.
Das Bild mit dem Zug gilt auch für die Zeitungsbranche, sagt Thomas Bertz von TBM in einem Interview mit „Netzwirtschaft.net“.
Soll man Hassbriefe ins Netz stellen? Dunja Hayali tut’s
Der anonyme Absender nennt sich Lawrence von Arabien, er kommt – wie er schreibt – aus bildungsfernen Schichten und beweist es mit einer Fülle von Fehlern: Ein übler Hassbrief, der nie das Licht der aufgeklärten Welt sehen sollte. Dunja Hayali, Moderatorin des ZDF-Morgenmagazins, hat ihn auf Facebook am 19. Mai veröffentlicht – und mit dem Rotstift korrigiert.
Gerade diese Oberlehrer-Attitude gibt den Hasspredigern Auftrieb, verstärkt sie in ihrer Märtyer-Rolle: Seht da, die Neunmalklugen meinen, Sie wären etwas Besseres, Sie können auf uns hinabschauen, auf uns, die wir nie diese Chance bekommen haben…
PS. Das Anrede-Du würde ich, als Zeichen der Höflichkeit, immer groß schreiben. Der Duden lässt aber auch das kleingeschriebene „du“ zu. Also ein paar Fehler bei Lawrence weniger – oberlehrerhaft gesehen.
Schreibe wahr! Die sechs Regeln der journalistischen Ethik (Journalismus der Zukunft – 13)
Was ist Wahrheit? Philosophen streiten seit Jahrhunderten – und Journalisten? Immer wieder flammt der Streit auf, was Wahrheit im Journalismus ist, warum der Pressekodex von Wahrhaftigkeit spricht (was ist das?) und warum wir oft die einfachen Regeln nicht beachten. Darum geht es in der 13. Folge der Kress-Serie „Der Journalismus der Zukunft“, in der auch die Wahrhaftigkeit erklärt wird.
Das sind die einfachen Regeln für einen Journalisten, der wahr informieren will:
1. Lüge nicht, also schreibe nicht das Gegenteil von dem, was Du als richtig erkannt hast.
2. Verschweige nichts, was Deine Mitbürger wissen müssen, um die Demokratie lebendig zu halten.
3. Misstraue allen, die die Wahrheit verkünden, und kontrolliere die, die wahr reden sollten.
4. Schreibe so klar, dass Du nicht missverstanden wirst.
5. Lasse Dich nie vor einen Karren spannen, ob Politik, Werbung, Wirtschaft oder Propaganda gleich welcher Art.
6. Folge dem Pressekodex, es sei denn, Du kannst eine andere Entscheidung begründen und vor Dir rechtfertigen.
Diese Regeln lassen sich in einem Satz zusammenfassen, den Hajo Friedrichs im letzten Interview vor seinem Tod gesprochen hat und der zur ersten Journalisten-Weisheit geworden ist: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken.“
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„Wagen es die Kollegen, Ponkie zu redigieren?“
Was für eine Frage! Und Wagnis? Selbstverständlich wird auch Ponkie redigiert, wollen wir antworten. Selbst Goethe würde durch Redigieren, vor allem Kürzen, besser. Ponkie ist die dienstälteste Fernsehkritikerin Deutschland. Sie wurde am Samstag (16. April 2016) neunzig und schreibt von Anfang an und immer noch in der Münchner AZ.
Und was antwortete Ponkie der Süddeutschen auf die Frage, ob die Kollegen auch Ponkie redigieren?
Redigieren gibt’s nicht. Punkt. Das ist ein Privileg, das ich in der alten Abendzeitung sehr bald hatte und auf das ich heute noch viel Wert lege. Mein Name steht schließlich unter dem Text, und damit trage ich auch die Verantwortung dafür, dass das inhaltlich in Ordnung ist… Ich liefere immer auf Zeile.
Und Ponkie sagt auch: „Kritiker zu sein, ist eine Lebensform.“ Eine unredigierbare Lebensform.
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Quelle: SZ 16. April 2016
„Du bist auf dem Holzweg“ (Friedhof der Wörter)
Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege.
So schreibt Martin Heidegger über den Holzweg als ein Sprachbild, das wir im Alltag oft gebrauchen, ohne den ursprünglichen Sinn noch zu kennen.
„Du bist auf dem Holzweg“ bedeutet: Du hast dich verlaufen, du kommst nicht weiter, du musst umkehren – denn der Weg ist gemacht, um Bäume zu schlagen und nicht, um zu einem Dorf, einem Haus oder einem anderen Weg zu kommen. Doch, so schreibt Heidegger weiter, gibt es schon Leute, die auf dem Holzweg sind und sich nicht verlaufen haben:
Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.
Juristen bedienen sich auch der Sprache der Waldarbeiter: „Totholz“ sind Bestimmungen in einer Verfassung, die wirkungslos sind – etwa der Artikel 21 über die Todesstrafe in der hessischen Verfassung. Im Artikel 102 des Grundgesetzes allerdings ist die Todesstrafe abgeschafft, und da Bundesrecht das niedrigere Landesrecht bricht, braucht auch Hessen keinen Henker mehr.
Totholz nennen die Waldarbeiter Bäume und Äste, die abgestorben sind: Stehendes Totholz für Bäume, die noch nicht gestürzt sind, und liegendes Totholz, wenn sie auf den Boden gefallen sind. So gesehen ist der Artikel 21 der hessischen Verfassung stehendes Totholz, das jedoch bald zum liegenden erklärt werden soll. Es soll gelöscht werden, was aber nicht einfach ist: Das Volk muss darüber abstimmen.
Das ist schon reichlich Aufwand für totes Holz, liegend wie stehend.
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- Quelle Totholz juristisch: FAZ 9. April 2016 „Rauschen im Verfassungswald“
- Das komplette Heidegger-Zitat:
Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören.
Sie heißen Holzwege.
Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so.
Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.
Grimme-Preis-Jury findet Synonym für Gutmenschen: Gefühlsduselige Sozialromantiker
Für „Marhaba – Ankommen in Deutschland“ bekommt der Moderator Constantin Schreiber vom Privatsender n-tv heute einen der Grimme-Preise. Schreiber erklärt in seiner Sendung jede Woche Flüchtlingen aus Arabien in ihrer Sprache fünf Minuten lang, wie die Deutschen und ihr Land ticken: Essgewohnheiten, Freizeit, Weihnachtslieder, Grundgesetz, Religionsfreiheit die Rolle der Frau und anderes mehr.
In der Begründung schreibt die Jury:
Ohne moralischen Überlegenheitssound, aber auch ohne gefühlsduselige Sozialromantik erklärt Constantin Schreiber in klarem Arabisch unsere Werte, Gesetze und Regeln des Miteinanders.
Wer Pathos und Sptach-Klischees von Jury-Begründungen kennt oder sie selber schon mal benutzt hat, dem sei die komplette Begründung der Jury empfohlen –die sich in eine ntv-Programm-Sitzung hineingedacht hat:
Jetzt stellen wir uns einmal kurz eine Sitzung bei einem deutschen Privatsender vor. Geschäftsführer und Vermarkter lassen sich vom Programm-Macher berieseln. „Hey, wir machen ein Dutzend Fünf-Minuten-Beiträge und erklären Flüchtlingen auf Arabisch unser Land. Themen sind Sex, Religion und Gleichberechtigung. Wir machen das erst lässig im Netz und später old school im Fernsehen, ach ja, und der Titel ist arabisch…“
Ein Blick des Geschäftsführers zum Werbezeitenchef. Dessen Kopf schlägt bedächtig auf die Tischplatte. Zwei Sekunden betretenes Schweigen. Dann hat sich der Geschäftsführer gefasst: „Eine dufte Idee fürs Erste oder ZDF. Haben wir nicht noch eine schöne Weltkriegsdoku? Oder was mit schweren Baumaschinen?“
Beim kleinen Sender n-tv muss es anders gelaufen sein. Der Nachrichtenanbieter hat einem jungen Team um Constantin Schreiber das Budget, die Website und später Programm-Slots für „Marhaba TV“ zur Verfügung gestellt. Schnell und pragmatisch haben die Redakteure klassisches Aufklärungsfernsehen umgesetzt.
Journalist Schreiber hat viele Jahre im arabischen Raum gelebt – ein großer Vorteil für die Umsetzung und Glaubwürdigkeit des Formats. Für die Migranten, die im vergangenen Jahr nach Deutschland kamen, war „Marhaba TV“ eine perfekte Hilfestellung – und das auch noch auf kurzweilige Art und Weise. Das Spektrum der Themen reicht von Parteiprogrammen bis hin zum putzigen Übersetzen deutscher Weihnachtsgedichte ins Arabische.
„Marhaba TV“ hat aber immer auch zu aktuellen Fragen Stellung bezogen. Die sogenannten „Ereignisse von Köln“ wurden thematisiert, ebenso der deutsche Karneval – immer schön auch auf Deutsch untertitelt. Denn auch der eine oder andere Biodeutsche könnte Neues über Demokratie und Toleranz erfahren. Klar, die üblichen Pöbeleien von besorgten Bürgern im Netz ließen nicht auf sich warten. Aber das ließ die Kölner kalt. Sie sendeten weiter und legten sogar mit einer deutsch-arabischen Talkshow nach.
Der Erfolg gab ihnen Recht. Hundertausende klickten das Angebot im Netz an. Ohne moralischen Überlegenheitssound, aber auch ohne gefühlsduselige Sozialromantik erklärt Constantin Schreiber in klarem Arabisch unsere Werte, Gesetze und Regeln des Miteinanders, während andere „wurzeldeutsche“ Moderatoren gerne schon einmal an ihrer Muttersprache scheitern.
Schreiber interviewt junge MigrantInnen, lässt ihre Sicht auf unsere Gesellschaft zu Wort kommen. Zudem stellt „Marhaba TV“ eine kluge Verbindung der Verbreitungswege dar, denn mobile Dienste sind die ersten Informationsquellen der Migranten. Fernsehen soll zudem bilden – das ist eine der Grundideen des Grimme-Instituts. Constantin Schreiber und n-tv haben es verstanden, diese Maxime modern und ohne großes Medien-Tamtam umzusetzen. Sie sind damit auch Vorbild für andere Privatsender, aber sicher nicht nur für diese.
Die Wandlung von Deutschlands First Lady: Von kritischer Journalistin zu weltfreundlicher Frau (Friedhof der Wörter)
Daniela Schadt, Lebensgefährtin unseres Bundespräsidenten, war in ihrem Leben vor dem Schloss Bellevue eine hochrangige Journalistin – die in ihren Artikeln vor Multikulti warnte. Heute geht sie damit kritisch um: „Als Politikredakteurin ist man meist mit dem beschäftigt, was falsch läuft im Land.“
Die Menschen in Deutschland, die „solidarische Gesellschaft“, haben sie verändert, sagt sie in einem Interview. „Ich bin weltfreundlicher geworden.“ Ein schönes Wort: Weltfreundlich.
Wir nennen gute Menschen „weltoffen“; wenn sie sogar den Müll trennen „umweltfreundlich“. „Weltfreundlich“ ist selten. Thomas Mann schreibt es in seinem Josephs-Romanen, in denen er seine Leser in die Götterwelt Ägyptens führt:
Die Priester, die Thomas Mann „triefäugig“ nennt, hatten ihre Probleme mit all den vielen Göttern. Den Ausweg, den das kleine Volk der Juden finden sollte, entdeckten sie noch nicht: Ein Gott statt der vielen.
Aber die wichtigsten Götter in einen Gott zu stecken, kam ihnen schon in den Sinn. So begann vor viertausend Jahren die Verehrung von Amun-Re, eine Art Komplett-Gott, aus dreien zusammengesetzt und für das Wichtigste zuständig: Die Sonne, den Wind und die Fruchtbarkeit. In ihm war alles drin, was die Bewohner im Tal des Nils für ihr Leben brauchten.
Jeder Tourist, der über den Nil kreuzfährt, besucht den größten Tempel Ägyptens, den des Amun-Re in Karnak, eine halbe Fußstunde von Luxor entfernt: Er besitzt allein zehn Pylone, also Eingänge, deren größter so hoch ist wie ein Fußballfeld lang.
Amun-Re, den König der Götter, nennt Thomas Mann in seinem Josephs-Roman „starr und streng, unhold dem Ausland und unbeweglich“, also ein Fremdenfeind. Atum allerdings, der Uralte, Amuns Vorgänger, war das Gegenteil: „So ausländisch angehaucht, beweglich und weltfreundlich-allgemein von Neigung.“
Daniela Schadt hätte sich in alter Zeit von einer Priesterin des Gottes Amun zu einer des Atum bekehrt. Weltfreundlich eben.
Der Duden sollte das Wort aufnehmen, direkt hinter „weltfremd“.
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Quellen:
- (Schadt-Interview): Rheinische Post, 26. März 2016: „Für die Queen hätte ich mich umgezogen“
- (Thomas Mann): Joseph und seine Brüder, Band 2 (Joseph in Ägypten), Kapitel „Amun blickt scheel auf Joseph“ (Taschenbuch Fischer S. 697 )
Wovon Journalisten lernen können: Der Bundespräsident als Geschichten-Erzähler
Journalisten wissen, dass ihre Leser bei den Geschichten hängenbleiben: Erzählen, erzählen, erzählen! Journalisten sollten Geschichten-Erzähler sein – aber im Vergleich mit den Literaten nur die wirklichen Geschichten erzählen, am besten die, die sie selber erlebt haben.
Bundespräsident Joachm Gauck, sonst eher fürs Belehrende und die Moral zuständig, hat ein Beispiel für die Kraft von Geschichten gegeben und sich als Geschichten-Erzähler beliebt gemacht bei seinem schwierigen Besuch in China: Ich erzähle meine Geschichte und die Geschichte meines Landes. Ein Diplomat ist, wer Geschichten und Geschichte erzählen kann statt Vorwürfe zu machen und den anderen bloß zu stellen.
Gauck erzählte seine Geschichten aus der untergegangenen DDR, in der er Pfarrer war, und erzählte die Geschichte der Vereinigung zweier ungleicher Gesellschaften, er erzählte Geschichten vom Unrecht und vom Recht, er erzählte von Menschen und ihren Erfahrungen und stellte sie neben – und nicht über – die Erfahrungen der Menschen in China.
Ich komme aus einem Land zu Ihnen, das vielerlei Erfahrungen gesammelt hat mit Neuanfang, Transformation und Anpassung. Aus einem Land, das vor mancherlei Problem gestanden hat, mit dem sich auch China auseinandersetzen muss. Deutschland hat einen besonderen, einen vor allem selbstverschuldet schwierigen Weg hinter sich. Nach zwei Gewaltherrschaften und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem es gegen die Gebote der Menschlichkeit verstoßen und schrecklichste Menschheitsverbrechen begangen hat, ist es schließlich – zuerst im Westen, 1990 dann in Gänze – zu einem anderen Land geworden. Einem Land, in dem alle staatliche Gewalt einem obersten Grundwert verpflichtet ist: der Würde des Menschen. So möchte ich Ihnen etwas von meinem Land, von seiner Geschichte und ein wenig auch von meinem Leben berichten. Diese Erfahrungen dränge ich niemandem auf – nicht Ihnen und nicht Ihren Landsleuten. Sie sind ein Angebot besser zu verstehen, was mich, aber auch die deutsche Gesellschaft leitet.
Das ist die Geste, die den anderen nicht in die Ecke stellt, sondern zum Mitdenken auffordert: Meine Erfahrungen drängen ich niemandem auf, sie sind ein Angebot – erst recht wenn ich auch von den Misserfolgen erzähle.
Nicht nur über deutsche Erfolge kann ich Ihnen berichten. Ich habe auch erlebt, was einer Gesellschaft fehlen kann. Mehr als vier Jahrzehnte lang habe ich – als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener – in der DDR gelebt, jenem Staat, dessen Propaganda ihn als den „besseren“ der beiden deutschen Staaten anpries. Doch das war er nicht. Es war ein Staat, der als Teil des kommunistischen Staatenverbundes und abhängig von der Sowjetunion sein eigenes Volk entmündigte, einsperrte und jene demütigte, die sich dem Willen der Führung widersetzen.
Dieser Staat sollte als „Diktatur des Proletariats“ den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung dienen, der Ausbeutung ein Ende setzen, der Entfremdung der Menschen wehren und so ein Zeitalter des Glücks und der Zufriedenheit eröffnen. Das Problem dieser Zeit aber war, dass die Mehrheit der Menschen weder beglückt noch befreit war. Und dem ganzen System fehlte eine tatsächliche Legitimation. Eine Wahl durch die Bevölkerung, die frei, gleich und geheim war, gab es nicht. Die Folge war ein Glaubwürdigkeitsdefizit, verbunden mit einer Kultur des Misstrauens zwischen Regierten und Regierenden.
Wer so spricht, ist kein Richter, kein arroganter Moralist: Er spricht von sich und meint den anderen. Am Ende seiner Rede vor Studenten der Shanghai-Universität kommt dann doch der Pfarrer durch, der sich nicht sicher ist, ob alle Zuhörer die Lehre aus dem Erzählten ziehen. Also doziert er für seine Gemeinde vom Nutzen der Geschichten fürs Leben:
Dass sich alle Institutionen des Staates, alle Parteien und Personen der Herrschaft des Rechts beugen, ist zu einem unverzichtbaren Leitgedanken der deutschen Demokratie geworden. Er begleitet, lenkt und begrenzt die Macht der Regierenden.
Es ist ein schöner Satz, auch für Journalisten – und nicht nur formuliert fürs Poesiealbum der Volontäre: Er fasst das, was Demokratie ist, schnörkellos in knapp drei Dutzend Wörtern zusammen. Auf den Internet-Seiten des Bundespräsidenten, die alle Reden versammeln, fehlt dieser Satz. Er stand wohl nicht im Manuskript; Constanze von Bullion hat genau zugehört und ihn für die Leser der Süddeutschen Zeitung notiert.
Constanze von Bullion nennt Gaucks Erzähl-Strategie einen Trick. Es ist Diplomatie und Respekt vor den Menschen.
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Quellen: Reden des Bundespräsidenten (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/03/160323-China-Universitaet.html – Stand 25. März, 11 Uhr) und Süddeutsche Zeitung, 24. März „Eine Rede, zwei Interpretationen“
Deutsch lernen mit Luther (5): Die und-und-und-Marotte (Friedhof der Wörter)
Luther mochte das „und“, dies unscheinbare, keinen Sinn tragende Wort. Viele Absätze, nicht nur in der Kreuzigungs-Geschichte, beginnt er mit „und“:
„Und als er zu Jerusalem einzog“; „Und als er in den Tempel kam“; „Und als er auf dem Ölberg saß – und, und, und.
Luther hatte eine „Und“-Marotte – und eine „Da“-Marotte“. Wenn er einen Absatz nicht mit „Und“ begann, nutzte er oft das „Da“, ebenso unscheinbar und sinnfrei:
„Da versammelten sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten“; „Da ging hin der Zwölfen einer mit Namen Judas“; „Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach‘s und gab’s den Jüngern“; da, da, da.
Luther war mehr als ein Übersetzer, er war ein Dichter, ein großer dazu. Dichter haben ihre Eigenarten, ihre eigene Meisterschaft, ihren eigenen Stil, der kaum zu erklären ist: Er ist, wie er ist. Wer ihn kopieren will, macht sich lächerlich.
Es gibt allerdings eine Szene in der Leidensgeschichte, in dem Luther dem „und“ eine erkennbare Funktion gibt: Es steigert die Dramatik immer weiter und weiter. Sie beginnt mit einem kurzen Satz: „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“ Auf das „laut“ hätte Luther sogar verzichten können, den „schreien“ ist immer laut. Geriet Luther der Satz, der Gottes Ende erzählt, doch zu kurz? Oder er wollte den Schrei noch lauter machen, den Schrei der Verzweiflung?
Es folgen zwei Sätze, in denen acht Mal „und“ erscheint: Was für eine Spannung, die ohne das Und-Stakkato ungleich schwächer ausfiele!
Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und stunden auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
41 Wörter in einem Satz, nimmt man den vorgeschalteten Satz hinzu sind es 58: Ein Beispiel für lange, aber gut verständliche Sätze, denen die Und-Marotte zusätzlich gut tut. Meisterhaft!
Deutsch lernen mit Luther (4): Wie das Volk seine Sprichwörter macht (Friedhof der Wörter)
Wie erfindet man neue Wörter? Der Philosoph Peter Sloterdijk schenkte der Welt viele neue Wörter wie „thymotisch“ oder „Lethargokratie“, aber die Welt besteht für ihn aus hochgebildeten Menschen und Kulturredakteuren, die die Welt zwar nicht verstehen, aber unentwegt über sie nachdenken; sie freuen sich über jedes Nebel-Wort, in denen sie endlos stochern können, aber niemals klar sehen.
Auch Martin Luther, der Anti-Sloterdijk, erfand neue Wörter, als wolle er das Wörter-Fließband erfinden. Martin Luthers Welt waren die einfachen Menschen: Seine neuen Wörter waren die Wörter, die er beim Einkaufen hörte oder beim Stammtisch in der Wirtschaft. In seinem „Sendbrief“ nennt er die eigentlichen Erfinder der neuen Wörter: „Die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt“.
Bisweilen spielte auch das Volk mit Luther, las seine Schriften und verbog sie, dass es krachte – wie in der Gerichtsszene mit Pontius Pilatus:
Pilatus will sich nicht mit Jesus abgeben, er sucht einen Ausweg. Was macht ein Politiker? Er fragt: Bin ich zuständig? Pilatus schaut ins Organigramm der Macht und findet heraus: Galiläa, im Norden des heutigen Israels gelegen, gehört in die Zuständigkeit von König Herodes.
„Sie waren einander feind“, schreibt Luther über die Beziehung von Pilatus und Herodes. Also schickt Pilatus Jesus zu Herodes, der soll ihn richten. Da aber Jesus nicht ein Wort mit Herodes spricht, schickt er ihn zurück zu Pilatus. „Auf den Tag wurden Pilatus und Herodes Freunde miteinander“, schreibt Luther.
Da wird einer von Pilatus zu Herodes geschickt, und nichts kommt dabei heraus. Was macht das Volk aus dieser Geschichte? „Da wird einer von Pontius zu Pilatus geschickt“: Dies wird sprichwörtlich und hat mit der historischen Wahrheit nichts zu tun. Es ist ein Spiel mit der Sprache, das zeigt, wie sich Sprachbilder von ihrem Ursprung lösen und verselbständigen, bis kaum mehr einer ihren Ursprung kennt.
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