Alle Artikel der Rubrik "D. Schreiben und Redigieren"

Politiker wollen nicht verstanden werden (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 7. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Ob die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag wirklich lesen, bevor sie abstimmen? Und ob sie ihn auch verstehen?

Wahrscheinlich versteht ihn nur eine Minderheit, die eine Freude daran hat, Ungetüme wie „Thesaurierungsregelegungen“ oder „Schnellreaktionsmechanismus“ genüsslich zu zerlegen und einen Sinn zu finden.

Sprachforscher der Universität Hohenheim haben den Vertrag analysiert, nein: Sie haben ihn buchstäblich auseinandergenommen – und sind entsetzt. Sprach-Professor Frank Brettschneider:

Die mangelnde Verständlichkeit des Koalitionsvertrags ist enttäuschend. Alle Parteien haben sich Transparenz und Bürgernähe auf ihre Frage geschrieben. Damit die Bürger eine begründete Bewertung vornehmen können, sollten die Koalitionspartner ihre Absichten klar und verständlich darstellen.

Und das tun sie nicht.

Selbst die für den Normalbürger kaum lesbare Doktor-Arbeit eines Politikwissenschaftlers ist im Durchschnitt verständlicher als der Vertrag. Warum? Wir lesen Schachtelsätze mit Fachchinesisch, Fremd- und Fachwörtern, meist ohne Erklärung sowie Wortungetüme und viel zu lange Sätze.

Wollen die Politiker wirklich verstanden werden? Die Wissenschaftler haben Zweifel: „Sie nutzen abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ „Taktische Unverständlichkeit“ nennt dies der Sprach-Professor.

Einige Beispiele gefällig: „Flächenneuinanspruchnahme“, „Interoperalibiliät“ – und der „Landesbasisfallwert“.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 9. Dezember 2013

Darf der Orkan mit „Stundenkilometern“ über die Küste jagen?

Geschrieben am 6. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Wer die Berichte über das Orkantief Xaver liest, findet fast überall: 140 „Stundenkilometer“. Und schon regen sich Leser auf:

Ich habe in der Schule gelernt, dass die Geschwindigkeit in Kilometer pro Stunde angegeben wird.Scheinbar ist mit der Rechtschreib- oder einer anderen Reform diese Maßeinheit auch geändert worden, denn man hört und liest in den Medien deutschlandweit immer mehr diese „Stundenkilometer“ als Geschwindigkeitsangabe.
Das ist nicht richtig!!!

In der Thüringer Allgemeine steht in der Kolumne „Leser fragen“ diese Antwort:

Sie haben Recht: Ein Physiker schreibt als Formel „km/h“, das ist in der Tat“ Kilometer pro Stunde“. Beide Bezeichnungen taugen aber wenig für die normale und schnelle Verständigung: „km/h“ ist zwar kurz, aber nicht sprechbar; „Kilometer pro Stunde“ besteht aus drei Wörtern und ist den meisten Menschen offenbar zu lang und kompliziert – zudem passt es nicht in die meisten Zeitungs-Überschriften.

Was machen die Menschen dann mit unserer Sprache? Sie nutzen den großen Vorteil des Deutschen und packen Kompliziertes in ein Hauptwort – wie beispielsweise Stundenkilometer.

Andere Weltsprachen wie das Englische oder Französische schaffen dies nicht: „Society for prevention of cruelty to animals“ ist die komplizierte englische Version des „Tierschutzvereins“.
So tauchen auch deutsche Hauptwörter in der englischen Sprache auf wie Kindergarten oder Bratwurst oder Weltschmerz.

Die „Bratwurst“ zeigt auch, wie vieldeutig zusammengesetzte Substantive im Deutschen sind: Die Bratwurst ist eine Wurst zum Braten. Und die Blutwurst? Eine Wurst zum Bluten? Oder: Das „Schweineschnitzel“ ist vom Schwein – aber das Jägerschnitzel?

Physiker und andere Experten brauchen eine eindeutige Sprache; die Alltagssprache muss verständlich sein. Und jeder weiß, was „Stundenkilometer“ bedeutet – auch wenn ihm die Schule anderes eingetrichtert hat.

Hilfreich ist die Sprachberatung der „Gesellschaft für deutsche Sprache“: „Stundenkilometer“ ist nicht nur,erlaubt‘, sondern durchaus richtig und angemessen. Pedanterie führt, von strengen terminologischer Definitionsarbeit abgesehen, zu nichts.“

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 7. Dezember 2013

Wolf Biermann, die Liebe und der wohl schönste Interview-Einstieg des Jahres

Geschrieben am 5. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Ein überraschender Einstieg in ein Biermann Interview, ein überraschend schöner, den unsere Volontärin gewählt hat:

Guten Tag, mein Name ist Lavinia Meier-Ewert…

… Lavinia – den Namen habe ich ja noch nie gehört.

Kommt aus der römischen Mythologie. Da gibt es Aeneas und Lavinia, auch ein berühmtes Liebespaar.

Das passt prima zu Pamela und mir. „Pan…“ – griechisch – ist das Ganze. Und „melos“ das Lied: das ganze Lied. Die griechischen Götter Aphrodite und Zeus sind also unsere Trauzeugen!

Quelle: Thüringer Allgemeine 15. November 2013

Keiner stirbt (Zitat der Woche)

Geschrieben am 2. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 2. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, D. Schreiben und Redigieren.

Todesanzeigen sind bisweilen der anregendste Teil des Feuilletons – vor allem die Sprüche, über dem Namen der Verstorbenen platziert. Über „Peter Kurzeck“, am 25. November 2013 verstorben, schrieb sein Verlag Stroemfeld/Roter Stern:

Keiner stirbt

Die beiden Worte beziehen sich auf das gleichnamige Buch des hessischen Schriftstellers, das der Spiegel so rezensierte:

„Keiner stirbt“ ist die Geschichte eines verlorenen Wochenendes im Oktober 1959. Fünf Männer, ein gescheiterter Geschäftsmann, ein Gelegenheitsarbeiter, Handelsvertreter die anderen, gestrandete Existenzen allesamt, sind unterwegs auf der B 3, von Gießen nach Frankfurt, auf der Flucht vor ihren Geldsorgen und Erinnerungen, unterwegs ins Paradies der weißen Ferraris und der heiligen Nutten, gleich hinter dem Bahnhof, wo sich die Zeit im Alkohol ertränken läßt, die „naßkalte lausige Gegenwart“ und die Zukunft, die es nicht mehr gibt.

Quellen: FAZ 30.11.2013 / Spiegel 46/90

Die Sprache des Koalitionsvertrags: Politikers großer Lall (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 1. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Der Vater brüllt den Sohn an: „Ich habe genug von Deinen unverschämten Reden!“ Der Sohn bleibt ruhig: „Ich wollte nur einen Dialog anstoßen!“ Der Vater wird noch zorniger: „Was soll der Blödsinn?“ Der Sohn bleibt weiter ruhig: „Das habe ich von unseren großen Vorbildern gelernt: So etwas steht im Koalitionsvertrag. Lies doch einfach mal!“

Wer einen Vorrat anlegen will an unverbindlichen Sätzen, der kann sich im Vertrag der Großen Koalition bedienen. Gleich vierzig Mal wird zum Dialog aufgefordert, an einer Stelle sogar zum „Qualitäts-Dialog“. Reden, am meisten ohne Qualität, statt Handeln! Man quatscht also ein bisschen über Dies-und-Das in den nächsten vier Jahren, tröstet sein Volk mit solchen Sätzen und wartet auf die nächste Wahl.

Das Lieblingswort der Politiker ist „sollen“: Rund 150 Mal taucht es im Vertrag auf. „Sollen“ ist nett, aber unverbindlich. So verrät die Sprache den Geist der Vereinbarung.

Aber auch das „Sollen“ kann man noch steigern: Etwas soll geprüft werden! Ein Beispiel:

Weiterhin werden wir darauf hinwirken, dass in allen künftigen EU-Gesetzgebungen geprüft wird, ob kleine und mittlere Unternehmen von bestimmten Regelungen ausgenommen werden können.

Das bedeutet: Wir tun nichts für die Unternehmen, wir prüfen auch nicht, wir regen an zu prüfen – und dann noch in Brüssel. Da wird nichts geschehen!

„Solcher Lall“ regt Heribert Prantl auf; er ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung:

Viele Allgemeinheiten, Plattheiten, Absichtserklärungen… Viel Styropor, viel Packmaterial“.

Entfernt man die Verpackung, kommt das Entscheidende zum Vorschein. Aber dafür braucht man keine 185 Seiten, dafür reichen nicht mal 10.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 2. Dezember 2013

In Halle an der Saale wird der Bürger beerdigt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. November 2013 von Paul-Josef Raue.

„Ich fall vom Pferd“, reagierte Verena Ullmann, als dieser „Friedhof“ auf Facebook erschien; „Wahnsinn“ kommentierte Daniel Bauer und „Jessas“ Thomas Mrazek. Das ist der „Friedhof“:

In Halle an der Saale, die sich als Kulturstadt rühmt, werden der Lehrer und der Trainer abgeschafft, der Chef und der Geschäftsführer, der Wähler und der Absolvent – und das Rednerpult. Diese Wörter werden im Stadtrat amtlich beerdigt.

Der Oberbürgermeister und der Amtsrat, der Bibliotheks-Direktor und Pressesprecher, so sie diese Titel überhaupt noch tragen dürfen, müssen die Sprache verändern; diese prangern Halles Volksvertreter an als „auf bestimmte Normvorstellungen fixierte Zuschreibung von Tätigkeiten und Eigenschaften an Frauen und Männern“.

Wie dieser Satz belegt: Es geht nicht darum, die Behördensprache verständlicher zu machen, „Normvorstellungen“ und „fixierte Zuschreibung“ zu beerdigen, sondern die Welt zu verändern – mit Wörtern. Die Menschen werden aus der Sprache getilgt: Aus dem Rednerpult wird das „Redepult“, aus dem Wählerverzeichnis das „Wahlverzeichnis“, aus dem Lehrer die „Lehrkraft“, aus dem Chef die „Führungskraft“ und aus dem Trainer das „Trainingspersonal“.

Auf den Bibliotheks-Direktor, ab heute: Bücher-Führungskraft, kommt viel Arbeit zu. Er muss viele Bücher korrigieren: Aus „Wanderers Nachtlied“ von Goethe wird „Wanderungs Nachtlied“, aus Kafkas „Brief an den Vater“ wird „Brief an ein Elternteil“.

Viele Bürokraten und Politiker haben kein Problem damit, sich schwer verständlich auszudrücken; in Halle dürfen sie diese Unfähigkeit als Weltverbesserung feiern. Nur – wer Sachen mehr mag als Menschen, wer aus dem Bürger die „Bürgerschaft“ macht, der macht die Sprache unmenschlich.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 25. November 2013

Eine kurze Debatte über das „Ich“ in der Reportage

Geschrieben am 22. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Ist das „Ich“ in einer Reportage erlaubt? Eine Debatte entwickelte sich über Facebook, nachdem ich in meinem Blog das „Ich“ gelobt hatte in der vorbildlichen Reportage von Judith Luig über den Verlust ihres ungeborenen Kindes.

Anton Sahlender:

Ich verkürze – hoffentlich zutreffend: Herr Blum hat sehr grundsätzlich die Ich-Form im Journalismus angeprangert. Und ich habe diese Grundsätzlichkeit in Frage gestellt. Da kam mir dieses Ich-Beispiel gerade recht, um meine Meinung im Nachhinein zu unterlegen.

Joachim Blum antwortet:

Das ist eine Version, wo das Ich sogar elementar ist. Qualität und Wirkung dieses Textes sind treffende Argumente dafür, dass das Ich eine absolute Ausnahme sein sollte.

Meine Antwort:

Ich teile Blums Aversion gegen das „Ich“. Das spricht dafür, es nur dann zu gebrauchen, wenn es notwendig ist – wie in dieser Reportage.

Joachim Blum:

Genau das wollte ich ausdrücken. Da aber jeder Redakteur meint, es sei bei ihm notwendig, würde ich das Ich beim Chefredakteur genehmigen lassen.
Herr Sahlender ist halt liberaler.

Alexander von Halem schreibt:

Und ich finde das fehlende ICH und die fehlenden Beziehungen zu den Lesern sind mit die größten Probleme des derzeitigen Journalismus. die vermeintliche Objektivität will kein MENSCH.

Joachim Blum:

Unsere Debatte hat nichts, aber auch gar nicht mit Objektivität oder Subjektivität zu tun.

Alexander von Halem:

dann besteht ja noch Hoffnung…

Eingeweide-Würmer: Alfred Brendel findet Jean Pauls beste Sprachbilder

Geschrieben am 20. November 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 20. November 2013 von Paul-Josef Raue in D. Schreiben und Redigieren.

Ihr Herz ist wie ein Großvaterstuhl ausgesessen.

Der Pianist Alfred Brendel hat in Jean Pauls „Gedanken“ gestöbert und eine Auswahl in der FAZ veröffentlicht. Hier die Auswahl der Auswahl:

Die Geschichte ist ein Pestwagen.
*
„Jeder muß seine Rolle spielen.“ Der Teufel ist der Souffleur.
*
Sich jeder Meinung hingeben und eine Seelenhure sein.
*
Wenn die Eingeweidewürmer des Ichs, Erbosung, Entzückung, Liebe und dergleichen, wieder herumkriechen und nagen und einer den anderen frisst: so seh ich vom Ich herunter ihnen zu.

FAZ 15.11.2013

Schiefe Sprachbilder: Marken knacken und Infrastruktur aufpäppeln

Geschrieben am 19. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Woche für Woche füllt Benjamin von Stuckrad-Barre sein „Lexikon des Grauens“ und entdeckt bei Politikern und Journalisten Klischees und schiefe Bilder:

> Ausbauziele eindampfen

> Details durchstechen

> Die EZB verschießt ihr letztes Pulver

> die psychologisch wichtige Marke knacken

> Maschinerie von Erzählungen, die durch nichts belegt sind

> mit einem Vorstoß vorpreschen

> Trommelfeuer der Medien

> um eine gemeinsame Linie ringen

> verblockte Altersteilzeit

> Verkehrsinfrastruktur aufpäppeln

Quelle: Welt am Sonntag und im Netz:
www.welt.de/lexikon-des-grauens

Vorbildlicher Journalismus: Judith Luigs Reportage über eine Schwangere, die ihr Kind verliert

Geschrieben am 17. November 2013 von Paul-Josef Raue.

„Mein Kind lebt nur in mir“ ist eine der bewegendsten Reportagen, die ich seit langem gelesen habe. Die Welt-Redakteurin Judith Luig erzählt von einer Mutter, die nach vier Monaten Schwangerschaft ihr Kind verliert; es ist wegen einer schweren Krankheit, Trisomie 18, nicht lebensfähig.

Das Thema verträgt keinen spektakulären ersten Satz, kein Erdbeben. Der Einstieg darf, ja muss kühl sein, sachlich:

Wir sitzen auf der Bank im Gang. Die Ärztin hält in der einen Hand die Tablette, in der anderen ein Glas Wasser. Sie hat gleich Feierabend.

Wir wissen nicht genau, wer das „wir“ ist; es dürfte die Reporterin sein, die zum „Ich“ greift, einem selbst in Reportagen seltenen Wort; Journalisten mögen das „Ich“ nicht, wenigstens nicht in Zeitungen und Magazinen.

Das Grauen schleicht sich nur langsam in die Reportage ein. Die Autorin bleibt noch in der Distanz, sie wechselt erst einmal zu einer Nebenfigur, der Ärztin:

Es war kein leichter Dienst. Aber doch Alltag. Sie hat einer Frau erklären müssen, wie das Kind, das sie erwartet, durch die Tablette, die sie schlucken soll, sterben wird. Am Tag darauf müsse die Frau wiederkommen. Dann werden durch Medikamente die Wehen ausgelöst.

Über das Sterben zu schreiben ist fast unmöglich, über das Sterben eines Kindes zu schreiben hält selbst ein Reporter kaum aus, der viel gesehen hat. Wie hält man seine eigenen Gefühle im Zaum? Die Autorin bleibt auf Distanz, lässt die Ärztin erzählen und beobachtet aus den Augenwinkeln die schwangere Frau – die blass wird, „zweimal sackte sie fast weg“.

Gut dreißig Zeilen lang beschreibt die Autorin das Gespräch zwischen der Ärztin und der Mutter. Der Leser kann noch, wenn auch mühsam, in der emotionalen Distanz bleiben. Es geht um die Abtreibung:

Dann hat die Ärztin ihr geraten, sich ihr Kind anzuschauen, wenn es auf der Welt sei. Damit sie ein bisschen besser verstehen könne, was geschehen ist. Damit sie abschließen könne mit dieser Geschichte. Die Frau nickt. Aber sie versteht nicht. Die Frau bin ich.

Mit diesen vier Worten „Die Frau bin ich“ kippt die Reportage; sie bewegt sich aus der Distanz in die Nähe und nimmt den Leser mit. Wer jetzt noch abseits bleibt, ist verloren; wer jetzt seine Gefühle noch unter Kontrolle hat, der hat keine. Der Autorin gelingt, was selten eine Reportage schafft: Der Leser liefert sich der Reporterin aus.

Eine gute Reportage gelingt allerdings nur, wenn die Sprache stimmt und wenn eine Spannung den Leser in den Bann zieht: Judith Luig, die Ich-Reporterin, hält die Spannung, indem sie ihre Geschichte im Präsens erzählt und weitgehend auf Adjektive verzichtet. Die Hauptwörter tragen die Reportage, geben ihr die emotionale Wucht.

„Kein leichter Dienst“, diese Wendung enthält eine der wenigen Adjektive des Textes. Und nur einmal verliert sich die Reporterin, nennt sie die Redensart „ein bisschen schwanger gibt es nicht“ eine „alte, blöde, deutsche Weisheit“. Man könnte einwenden: Auf diese drei Adjektive hätte sie verzichten können – nur hilft dieser Ausbruch auch dem Leser, Luft zu holen. Der Text geht eben an die Nieren.

Judith Luig beschreibt die Krankheit ihres ungeborenen Kindes, berichtet von den Diagnosen, rettet sich in Zahlen, um das Ungeheuerliche zu bannen: 2,8 Millimeter Nackenfalte, 6,5 Millimeter –

Kinder mit dem letzten Wert sterben zu 95 Prozent in den ersten Monaten der Schwangerschaft. Mein Kind hat eine Nackenfalte von 8,6 Millimetern.

Es gibt nichts Kühleres als Zahlen, deshalb sollten sie in einem Text nur sparsam verwendet werden; hier markieren die Zahlen die Grenze zwischen Leben und Tod – und zwischen den Zahlen steht: „mein Kind“.

Es folgt der Kontrast, die andere Welt, die einfache Beschreibung eines anderen Alltags:

Die Ärztin will nach Hause. Sie hat drei Töchter, die warten, dass ihre Mutter sie von der Schule abholt. Morgen ist Sonnabend. Da machen sie einen Ausflug mit der ganzen Familie. Ich weiß nicht, warum ich die Ärztin gefragt habe, was sie am Wochenende mache und ob sie selber Kinder habe. Ich wollte vielleicht nur über etwas anderes als über das reden, was sie mir sagen musste.

Auch der Leser mag die kleine Abwechslung, auch er will etwas anderes lesen, zur Ruhe kommen. Es ist bewundernswert, wie die Ich-Reporterin die Kontrolle über ihren Text behält und die Wirkung auf den Leser bedenkt. Judith Luig bleibt auf der Sachebene, berichtet vom Down-Syndrom, von Frauen, die im immer höheren Alter schwanger werden – um ein Mal, ein einziges Mal in den Zynismus zu fallen, der das schwierige Leben manchmal leichter macht. Wie denkt man über Frauen, die ihr krankes Kind abtreiben lassen?

In den Texten liest es sich so, als würden Frauen wie ich ihre Schwangerschaft einfach in der Mittagspause an der Kasse stornieren lassen, um dann wieder zu ihrer unglaublich tollen Karriere und ihrem selbstsüchtigen Leben zurückzugehen. Männer kommen in diesen Texten höchst selten vor. Höchstens mal pflichtschuldigst als Nebenbemerkung.

Es folgt die Moral, die Frage der Schuld – und die Aufforderung an den Leser: Und wie denkst Du? Sprichst Du mich auch schon schuldig?

Wir haben es geschafft, dass sich Frauen wie ich, die ein Kind verlieren, bevor es ein Kind ist, auch noch schuldig dafür fühlen. Ich bin nicht gut genug. Ich habe versagt. Wenn man mit den Frauen redet, deren Kind die Schwangerschaft nicht überlebt hat oder das zu früh geboren wurde, um zu leben, dann hört man diese Sätze immer wieder. Doch man hört sie nur dann, wenn es einem selbst geschehen ist. Denn mit nicht Betroffenen sprechen die wenigsten Frauen darüber. Manche, weil sie sich schämen. Andere, weil sie keine Worte für ihren Verlust haben. Aber viele auch deswegen, weil sie sich nicht verteidigen wollen für ihre Geschichte und für ihr Kind.

Eine gute Reportage hat einen Rhythmus und einen roten Faden. Judith Luigs Text wechselt ständig von der Erzählung in den inneren Monolog: Krankenhaus, Beerdigungsinstitut, Besuch der Freundin. Die Autorin macht es dem Leser und sich selber leicht, in dem sie der Reihe nach erzählt. Nur einmal bricht sie aus der Chronologie aus, wechselt ins Imperfekt. „Ich kann heute nicht mehr sagen, wann ich mich ergeben habe“, mit diesem Satz leitet die Autorin den langen Rückblick ein: Die Untersuchungen bei der Pränataldiagnostikerin.

Mitten in diesem Rückblick wechselt sie scheinbar ohne Grund vom Imperfekt wieder ins Präsens, eigentlich ein Fehler – aber er fiel mir erst beim zweiten, beim analytischen Lesen auf:

Ich will nichts tun, was die Schwangerschaft gefährdet, sagte ich.

Diese Schwangerschaft gefährden Sie nicht mehr, sagte die Genetikerin.

Ich glaube, da war mir immer noch nicht klar, was sie meinte… Meine größte Sorge war, dass das Kind leiden könnte. Noch zwei Wochen, so sagt die Forschung, und es würde Schmerzen empfinden.

Ich gehe raus, an die Luft, rufe den Vater des Kindes an. Ich schreie und weine, er weiß nicht, was er sagen soll. Was kann man schon sagen.

Auch bei der Fruchtwasseruntersuchung ein paar Tage später bleibt die Begriffsstutzigkeit an mir haften…

Den Ausstieg aus der Vergangenheits-Form wählt die Autorin nicht im Strom der Erzählung, sondern bei einer Unterbrechung, beim Wechsel vom inneren Monolog in die Erinnerung. Der Trick: Die Erinnerung wird ebenso chronologisch erzählt, der Leser läuft also wieder mit, hat vergessen, dass die Autorin zurückblickt; er ist im Präsens, der Gegenwart der Erinnerung.

Und wie kehrt Judith Luig von der Erinnerung in die Gegenwart zurück? Sie berichtet von einer Kollegin, die auch ihr Kind verloren hat, verwebt so Gegenwart und Vergangenheit:

Mit anderen Menschen zu reden, die Ähnliches erlebt haben, tröstet. Eine Kollegin hat ihr Kind noch zu DDR-Zeiten verloren. Damals nahmen einen die Schwestern im Krankenhaus noch nicht so ernst wie heute. Auch heute noch, 25 Jahre später, denkt diese Kollegin an das Kind. Für niemanden sonst hat es dieses Kind gegeben, sagt sie, aber für mich schon.

Ich finde nicht zurück ins Leben. Ich will auch gar nicht. Wochenlang bleibe ich zu Hause. Überfordert selbst von den kleinsten Aufgaben. Kaffeekochen. Milch einkaufen. Rechtzeitig schlafen gehen…

Mit „Ich finde nicht zurück ins Leben“ beginnt der Schlussteil der Reportage, die in den beiden letzten Sätzen mit dem Zurückfinden ins Leben schließt. So kühl die Reportage im ersten Satz begann, so euphorisch endet sie:

Ich habe ein Kind erwartet, das nicht leben konnte. Aber dass es dieses Kind, wenn auch nur diese kurze Zeit, gegeben hat, das war ein großes Glück.

zur Reporterin (nach Reporterforum.de):
Judith Luig begann ihre Karriere als Reporterin über Schützenkönige, Karnevalsprinzessinnen und Goldene Hochzeiten 1998 bei der Bonner Rundschau. Von 2001 bis 2009 war sie Redakteurin im Magazin der taz, später Ressortleiterin von tazzwei und berichtete dort vor allem über Frauen, Männer und Paralleluniversen. Seit November 2009 ist sie Redakteurin bei der Welt/Welt am Sonntag/ Berliner Morgenpost im Ressort Magazin/Reportage/Vermischtes.

Zur Reportage:
Erschienen in Die Welt vom 16.11.13: „Mein Kind lebt nur in mir“

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