Alle Artikel der Rubrik "Lügenpresse"

Bürger misstrauen Journalisten schon immer: Die Krise ist nicht neu (Serie „Journalismus der Zukunft“)

Geschrieben am 24. März 2016 von Paul-Josef Raue.
Paul-Josef Raue (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Paul-Josef Raue (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Haben die Deutschen ihr Vertrauen in die Medien verloren? Ja, aber dies ist schon seit Jahrzehnten so, und es ist typisch für den skeptischen Bürger in einer Demokratie. Um die von den Medien selbst hochgespielte Vertrauenskrise geht es im siebten Teil meiner Kress-Serie Journalismus der Zukunft“. Der Münchner Kommunikations-Professor Carsten Reinemann meint, Journalisten könnten nicht mit Zahlen umgehen, und stellt nach seinen Recherchen fest:

Zumindest bis Ende 2014 hat sich das Medienvertrauen großer Teile der Bevölkerung gar nicht dramatisch verändert. Auch die im Jahr 2015 erhobenen Daten lassen diesen Schluss nicht zu.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Professor Kim Otto und Andreas Köhler von der Universität Würzburg, die Umfragen des Eurobarometers auswerten, die von der EU jährlich in Auftrag gegeben werden:

Von einer neuen generellen Vertrauenskrise in die Medien in Deutschland kann angesichts der Langzeitdaten nicht gesprochen werden. Insofern kann die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion über die Arbeit der Journalisten schon fast als hysterisch bezeichnet werden, und es wäre ratsam, Dampf aus der Debatte zu nehmen.

Wer sich in der politischen Mitte verortet, vertraut den Medien im Gegensatz zu denen, die sich politisch extrem einstufen, also weit rechts oder links. „Dass dieser Personenkreis von ,Lügenpresse‘ spricht, ist ein weit bekanntes Muster“, meinen die Wissenschaftlicher.

Umfragen zeigen, dass mehr als jeder fünfte befragte Pegida-Anhänger deutliche Kritik an der Arbeit von Journalisten übt. Dabei steht insbesondere der Vorwurf der Tendenzberichterstattung im Raume.

Auch wer seine wirtschaftliche Lage als schlecht einstuft, misstraut eher den Massenmedien. So fehlt der Mehrheit der Ostdeutschen das Vertrauen im Gegensatz zu den Westdeutschen: 58 Prozent misstrauen im Osten, nur 47 Prozent im Westen. Professor Otto:

Die Menschen in Ostdeutschland sind bekanntlich mit dem Funktionieren der Demokratie grundsätzlich unzufriedener als die Menschen in Westdeutschland. Auch das Institutionenvertrauen ist geringer.

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Die Links:

http://kress.de/news/detail/beitrag/134417-zahlen-und-fakten-zur-vertrauenskrise-der-medien-was-kommt-nach-der-luegenpresse.html

http://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/medienvertrauen-auf-dem-tiefpunkt

 

Sloterdijks Journalistenschelte in München: Sie brauchen einen Deutschkurs!

Geschrieben am 5. März 2016 von Paul-Josef Raue.

Der Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnet sich ironisch als „linkskonservativ“. Als er im  Münchener Literaturhaus las, erntete er rasch Beifall, als er sich in Medienkritik übte; so berichtet Michael Stallknecht in der Süddeutschen Zeitung. Sloterdijk weiter:

Ebenso dringend wie die Flüchtlinge brauchen die Journalisten einen Deutschkurs. Nichts haben sie gelesen von all den Büchern, die die aktuellen Umbrüche seit Langem voraussagen.

„Unverantwortliche Journalisten“ entdeckt Sloterdijk, weil sie die Migration von Milliarden Menschen ignorierten – „weil sie origineller sein wollen als die klügsten Köpfe dieses Landes.“

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Quelle: SZ,  5. März 2016, Seite 17 „Deutschkurs“

Leser-Debatte in der Flüchtlingskrise: „Die Glocke“ schaltet ab

Geschrieben am 11. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

„Die Glocke“ ist eine Regionalzeitung in Ostwestfalen mit einer Auflage von 54.000 inklusive 4.000 E-Paper (nach Verlagsangaben). Sie schließt ihr Meinungsforum im Internet, so dass Leser keine Möglichkeit mehr besitzen, Artikel zu kommentieren. Die Redaktion sieht „aus rechtlicher Verpflichtung“ keine andere Möglichkeit und schreibt:

Dieser Schritt ist unumgänglich, da das Meinungsforum in den vergangenen Wochen vor allem vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdiskussion leider auch zu einem Medium für extreme Hetzer geworden ist.Unter dem Deckmantel der Anonymität (auf eine Klarnamenpflicht und Registrierung hatte die Redaktion bislang verzichtet) verfassten Nutzer zunehmend menschenverachtende Beiträge, die in den vergangenen Tagen sogar Mordaufrufe gegen Asylbewerber enthielten.

Regional- und Lokalzeitungen leiden seit Monaten unter den Wut- und Hassmails. Wie können Sie darauf reagieren?

  • Sie moderieren, also geben eine Lesermail erst frei, wenn sie ein Redakteur gelesen hat. Das ist aufwändig, selbst wenn man die Kommentarfunktion nachts abschaltet (wie es einige überregionale Medien tun). Die zwei, drei Redakteure fehlen als Reporter und Rechercheure.
  • Sie verpflichten Kommenatoren, sich registrieren zu lassen und ihren Klarnamen zu nennen. Das vermindert, aber verhindert keine Hassmails.
  • Sie lassen die Netzgemeinde entscheiden und richten einen Warn-Knopf ein: Jeder Leser kann ihn drücken und auf Prüfung und Entfernung bestehen. Dann steht der Hass-Post aber minuten- oder stundenlang erst einmal im Netz.
  • Sie schalten die Kommentare komplett ab und bestrafen damit die ehrlichen Leser.
  • Sie lassen alles durch und riskieren, dass die Leser an der Seriosität der Zeitung zweifeln – und der Staatsanwalt anklopft.

„Hausbesuch“ bei Wut-Lesern: Ein SZ-Reporter reist nach Dresden und München

Geschrieben am 10. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

Wer mit Lesern spricht, die Wut-Briefe schreiben und Pegida loben, der ist überrascht, wie wenige dem Klischee des Neonazis entsprechen. Aber sie mögen die Medien nicht, weil sie mit den Mächtigen unter einer Decke mauscheln, weil sie nicht die Wahrheit schreiben, sagen sie.

Mich erstaunt immer wieder, wie viele von denen, die wütende Briefe schreiben, die Zeitung lesen – trotzdem. Wir sollten mit ihnen sprechen. Dirk Lübke, der Chefredakteur des Mannheimer Morgen, hat nach dem Petry-Schießbefehl-Interview viele Wut-Briefe bekommen: Sie sind nicht objektiv! Er schreibt sie alle an und lädt sie ein zum Gespräch. Kommt jemand? Oder einige? viele?

Wahrscheinlich kommt keiner: Die Redaktion ist fremdes, vielleicht sogar feindliches Terrain. Wahrscheinlich ist es sinnvoller, zu den Leser zu gehen – Hausbesuche.

So hat es die Süddeutsche Zeitung getan, einige von den Wütenden besucht, in München und Dresden. Sie haben den Redakteur eingeladen: Bernd Kastner, der Reporter, reiste an, in Dresden kamen vier Freunde hinzu, es gab Sächsische Eierschecke.

Ein Finanzdienstler hatte aus seiner Firma gemailt:

Ihr Knallchargen von der vierten Gewalt, die Ihr noch nie den Koran gelesen habt! Ich persönlich würde sogar bewaffnete Gewalt gegen den Münchner Moscheeneubau begrüßen.

Er hat tatsächlich „Ihr“ groß geschrieben, aber bei Anruf legte er auf.

„Pegida ist eine Gedankenwelt“, schreibt Kastner. Aber zuerst ist sie eine wirkliche Welt. In München freut sich eine 79-jährige: Jederzeit – nur am Montag und Donnerstag gehe es nicht „Da gebe ich Migranten Deutschunterricht.“

 In Dresden stehen Tucholsky und Kisch im Bücherregal, auf dem Boden liegt ein Stapel der Sächsischen Zeitung. Ihren Namen wollen die Dresdner nicht lesen, sie bekommen ein Pseudonym. „Man wisse ja nie bei der Presse.“ Der 44jährige ist promovierter Diplom-Ingenieur, ein anderer Besitzer einer Autowerkstatt im Erzgebirge.

 Man debattiert, der Reporter stellt klar, was an den Gerüchten nicht stimmt. Fast alles stimmt nicht:

  • Die vier Frauen eines Muslims bekommen alle eine Rente, wenn er gestorben ist? Ja, aber jede nur ein Viertel.
  • Der Staat zahlt den Flüchtlingen die Handy-Gebühr? Jeder bekommt ein Taschengeld, so wie es das Gesetz bestimmt, und damit kann er machen, was er will.
  • In München kann man abends nicht mehr mit der U-Bahn fahren? München ist die sicherste Großstadt, obwohl hier mehr Migranten leben als in Berlin.

Dem Reporter fällt Karl Valentin ein: „Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.“

Jutta Wölk in München will kein Pseudonym, sie lässt sich fotografieren und erzählt, dass sie jeden Tag stundenlang liest, die Welt, die Jüdische Allgemeine, die Süddeutsche.Der Reporter notiert:

„Die SZ sei auch Teil des Schweigekartells, das Anweisungen der Politik befolge. Wie, Frau Wölk, stellen Sie sich das vor? „Da ruft der Seehofer an, die Frau Merkel, und sagt: Das wird nicht gedruckt. So einfach.“ So einfach? „Ich bin überzeugt, dass es so läuft.“ Tatsächlich? „Wie soll ich Ihnen das erklären? Natürlich rufen die nicht selbst an, sie lassen anrufen.“ Woher wissen Sie das? „Natürlich habe ich keinen Beleg dafür.“ Warum dann dieser Vorwurf? „Mir gefällt einfach die Haltung der SZ zur Flüchtlingspolitik nicht.“

Frau Wölks Lippen beginnen zu zittern. „Parallelgesellschaft“, ruft sie, „warum kann man das nicht einfach schreiben?“ Warum sind auf den Fotos in den Medien so oft Flüchtlingsfamilien, so oft Kinder? Es seien doch viel mehr alleinstehende Männer gekommen. Jetzt beben die Lippen.

Frau Wölk hat Angst, sie sagt, fremdenfeindlich sei sie nicht, nur skeptisch; sie beklagt, dass die Medien pauschalieren, pauschaliert selber und sagt: „Gefühle lassen sich nicht so einfach beseitigen.“ Und als der Reporter sie beim Herausgehen fragt, ob sie die Süddeutsche abonniert habe, wundert sich Frau Wölk: „Selbstverständlich.“

Wie wohl die Leser in Dresden und in München die Seite-Drei-Reportage des Reporters beurteilen? Objektiv? Herablassend? Belehrend? Wir könnten von ihnen lernen, wenn wir es wüssten.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar, Seite 3, „Hausbesuch“

Ein neues Verb: „lügenpressen“

Geschrieben am 7. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung in Koblenz, prägt ein neues Verb: „lügenpressen“ – also ich lügenpresse dich, du lügenpresst mich usw.. So geschehen in einem Tweet, nachdem Frauke Petry, die AfD-Vorsitzende, während der Autorisierung  den Schießbefehl gegen  Flüchtlinge nicht mehr erwähnte. Lindner machte dies öffentlich und twittert nun:

Für die AfD ist es also „übelste Verleumdung“, wenn transparent wird, wie Frauke Petry lügenpressen wollte…

Petry und der Schießbefehl: Ein Plädoyer für die Autorisierung von Interviews

Geschrieben am 3. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

Frauke Petry sei Dank: Sie macht uns Journalisten klar, welche Errungenschaft das Autorisieren von Interviews ist! Das war auch in Deutschland ins Gerede gekommen, als Jill Abramson, die Chefredakteurin der New York Times, 2012 erklärt hatte –  angelsächsischer Tradition folgend: Wir schreiben, was gesagt ist! Wir lassen keine Zitate mehr autorisieren!

Frauke Petry, die Vorsitzende der AfD, hat dem Mannheimer Morgen ein Interview gegeben, die Druckfassung autorisiert und darin einen Schießbefehl auf illegal einreisende Flüchtlinge gefordert. Als die Kritik zu heftig wurde, auch in der eigenen Partei, besann sich Petry auf ihren bewährten Slogan „Lügenpresse“ und sagte dem MDR:

Wir erleben in den Medien das, was so häufig passiert: Dass der Kontext dessen, was gesagt wird, sträflich missachtet wird und dass sich dann die politische Konkurrenz auf verkürzte Zitate wirft.

Laut dpa erklärte Petry: „Man wollte die Schlagzeile produzieren, dass die AfD auf Flüchtlinge schießen will.“ Das halte sie „für journalistisch total inakzeptabel“. Das Interview sei im „Stil eines Verhörs“ geführt worden.

Dirk Lübke, Chefredakteur des Mannheimer Morgen, erklärte Bülend Ürük von Kress:

Was ist daran nötigend, wenn Frauke Petry uns selber das Interview angeboten hat, sie und ihr Sprecher jedes Wort zur Autorisierung vorgelegt bekommen haben, jedes Wort und jeden Satz mehrmals gelesen und schließlich zur Veröffentlichung freigegeben haben?

Hätte Lübke auf eine Autorisierung verzichtet, stünde Aussage gegen Aussage und Pegida hätte ein neues Beispiel für die „Lügenpresse“.

 

Die Kölner Silvesternacht, die Medien und das Verschweigen: Die Wahrheit ist politisch korrekt

Geschrieben am 19. Januar 2016 von Paul-Josef Raue.

Was für ein Satz: „Die Wahrheit ist politisch korrekt“! Er beendet einen Kommentar von Chefredakteur Jost Lübben, am 7. Januar 2016 in der Westfalenpost veröffentlicht. Lübben antwortet einem Leser, der die Zeitung nach den Misshandlungen von Frauen in der Silvesternacht kritisiert: „zu spät, viel zu wenig und keine Hinweise auf die Täter“.

Jost Lübben antwortet in seiner Zeitung:

Es geht ums Grundsätzliche. Werden Journalisten gesteuert?Ich bin seit 30 Jahren in diesem Beruf, und in dieser langen Zeit hat noch kein Politiker oder Verleger ernsthaft versucht, mich von einer Berichterstattung abzuhalten oder zu einer bestimmten Tendenz zu drängen. Unser Produkt wird jeden Tag oder jeden Monat von Menschen bezahlt, denen unsere Arbeit etwas wert ist.Das schafft Unabhängigkeit, bringt aber auch Verantwortung mit sich. Von der Gefahr, Fehler zu machen, befreit es nicht. Einen solchen Fehler haben wir am Montag gemacht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Die ganze Dimension der Ereignisse rund um die Kölner Domplatte war größer als zunächst eingeschätzt. In der gestrigen und der heutigen Ausgabe nimmt das Thema großen Raum ein und es wurde keineswegs verschwiegen, dass die mutmaßlichen Täter vor allem dem nordafrikanischen oder arabischen Raum zuzuordnen sind. Niemand hält uns davon ab.

Gerade aber, wenn viele Umstände ungeklärt sind, muss Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. Nur ein Beispiel: Ging es im Kern um sexuelle Übergriffe auf Frauen oder um widerliche Ablenkungsmanöver für dreiste Diebstähle von organisierten Banden? Die Antwort auf diese Frage ist für das künftige Handeln des Staates bedeutsam.
Die Wahrheit bleibt auf jeden Fall politisch korrekt.

Kriminelle Ausländer: Presserat wirft mehr Fragen auf, als Hilfe zu geben

Geschrieben am 8. Januar 2016 von Paul-Josef Raue.

Dürfen Journalisten erwähnen, dass Nordafrikaner und Araber wahrscheinlich an den Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht beteiligt waren? Der Deutsche Presserat, die moralische Instanz der Zeitungen und Magazine, sagt: „Noch akzeptabel“.

Was bedeutet „noch“? Eigentlich darf man – siehe Richtlinie 12 – die Herkunft von Verdächtigen nicht nennen. Aber es gibt Ausnahmen, so Presserats-Pressesprecherin Edda Eick im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd):

  • Es handelt sich um ein Massenverbrechen, das in dieser Dimension so noch nicht stattgefunden hat.
  • Möglicherweise steckt eine größere kriminelle Struktur hinter der Tat und die Polizei fahndet mit Täterbeschreibungen.

Nicht erlaubt seien „bloße Spekulation darüber, ob das Motiv für die Taten mit der religiösen Zugehörigkeit etwas zu tun haben könnte; hierfür müsse es konkrete Anhaltspunkte geben“.

Fragen bleiben:

  •  Dürfen Journalisten bei einer Tat und einem Täter, der eine Frau vergewaltigt, keine Nationalität angeben?
  • Oder erst bei der Fahndung?
  • Gilt der Polizeibericht, wenn er eine Nationalität erwähnt, als Erlaubnis, diese zu erwähnen?
  • Wann wird ein Verbrechen ein Massenverbrechen? Bei fünf, bei fünfzig oder erst bei mehreren hundert Tätern wie in Köln?
  • Was sind konkrete Anhaltspunkte für eine religiöse Zugehörigkeit? Wird sie erst konkret, wenn der Täter  „Allah ist groß“ gerufen hat oder ein Bekennerschreiben verbreitet?
  • Wenn, so Eick, der Pressekodex mit seinem Verbot, die Nationalität zu nennen, die „Belange aller gesellschaftlichen Gruppen, die sich als Opfer tiefverwurzelter Vorurteile fühlen“ berücksichtigt: Wie unterscheidet man zwischen Vorurteilen und Urteilen? Selbst aufgeklärte Muslims beklagen das tief verwurzelte Frauenbild des Islam: Ist das ein Urteil oder Vorurteil oder „Stereotyp“?

Das Sowohl-Als-auch des Presserats macht die Arbeit in den Redaktionen nicht einfacher:  „Journalisten dürfen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, Informationen zu verschweigen“, rät der Presserat; andererseits „können auch mit kleinen Meldungen schon starke Ressentiments gegen Minderheiten geschürt werden“.

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Quelle: epd von Mittwoch, 6. Januar 2016; Gespräch mit Referentin für Beschwerdeführung beim Deutschen Presserat, Edda Eick.

In meinem Blog am 7. Januar hatte ich – ohne Kenntnis des epd-Berichts – vermerkt, es gebe keine Reaktion des Presserats. Auf seiner Homepage schweigt der Presserat auch am 8. Januar noch. In der Rubrik „Aktuelles“ stammt die letzte Meldung vom 3. Dezember 2015.

 

Lügenpresse (9) Meine Chronik des Jahres: Wie Regionalzeitungen reagieren

Geschrieben am 31. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.
Das posteten Leser zum Thema „Lügenpresse“ auf unserer Facebook-Seite.

Thomas Bärsch reagierte mit fünf Punkten in der Zeitung:

1. Unser oberster Anspruch heißt Wahrhaftigkeit

Wer jemanden der Lüge bezichtigt, der beschuldigt ihn, vorsätzlich wahrheitswidrig zu reden oder zu schreiben. Er nimmt zugleich für sich in Anspruch zu wissen, was die Wahrheit ist.Wir Journalisten erheben diesen Anspruch für uns nicht – vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass es die eine objektive und unveränderliche Wahrheit oft nicht gibt. Stattdessen haben wir uns die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Aufgabe gemacht.Wahrhaftigkeit heißt, nach der Wahrheit zu streben. Es heißt nicht, in ihrem vollständigen Besitz zu sein oder dies von sich zu behaupten. Wenn wir berichten, dann im Ergebnis von Recherchen, von Informationen aus verschiedenen Quellen und oft auch auf der Grundlage unserer Beobachtungen – zum Beispiel bei Demonstrationen.

2. Wir reklamieren für uns keine Vollständigkeit

Es gehört zur journalistischen Sorgfalt, dass wir unsere Leser erkennen lassen, was recherchierte Fakten, was Aussagen Dritter und was unsere eigenen Beobachtungen sind. Dabei vermeiden wir es, den Eindruck zu erwecken, der von uns gelieferte Bericht, das von uns gezeichnete Bild spiegele die Wirklichkeit bis ins letzte Detail wider. Vielmehr wählen wir oft aus einer Vielzahl von Fakten und Aussagen aus, die es den Lesern ermöglichen, sich ein möglichst ausgewogenes und umfassendes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu entwickeln.Wichtig ist dabei für uns vor allem, dass wir keine Fakten weglassen, die entscheidend für das Verständnis eines Sachverhalts sind oder diesen sogar konterkarieren.

3. Weglassen ist keine Fälschung und keine Lüge

Immer wieder sehen wir uns mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden die Wirklichkeit verfälschen, indem wir Fakten oder auch einzelne Meinungsäußerungen nicht veröffentlichen. Dann ist das Wort „Lügenpresse“ schnell gesagt.Tatsache ist, dass wir Fakten und Aussagen nach ihrer Relevanz für die Beurteilung eines Sachverhalts wichten. Darüber, ob unsere jeweilige Entscheidung richtig ist, wird vor allem in der aktuellen Flüchtlingsdebatte oft gestritten – übrigens auch während der Entscheidungsfindung innerhalb der Redaktion.Entscheidend ist für uns, ob Informationen nachprüfbar oder glaubhaft sind. Wenn es etwa  einen Polizeieinsatz in Flüchtlingsheimen gibt, berichten wir darüber.

4. Facebook & Co. sind nicht die Wirklichkeit

Wir berichten nicht über alles, was wir hören oder lesen. Das gilt vor allem dann, wenn es auf Gerüchten beruht, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Für uns gilt: dass eine Behauptung oft wiederholt wird, macht sie nicht wahr.Leider beobachten wir eine gewisse Neigung mancher Menschen, Gerüchten und Mutmaßungen zu glauben, dagegen aber von Journalisten recherchierte oder hinterfragte Informationen als Lüge abzustempeln. Stammen diese Informationen gar aus offiziellen Quellen – also zum Beispiel von Behörden –, lässt der Vorwurf der Staatsnähe meist nicht lange auf sich warten.

5. Meinungs- und Pressefreiheit sind zwei Dinge

Gern wird jetzt von diesen beiden Freiheiten gesprochen. Die erste ist ein Grundrecht, das den Bürgern garantiert, ihre Meinung frei und offen zu äußern – auch gegen den Staat. Der AfD-Fraktionschef Björn Höcke nutzt dieses Recht, wenn er etwa auf Demonstrationen spricht.Die Pressefreiheit dagegen ist das Recht der Presse auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit – ohne staatliche Zensur oder jedwede andere Form der Einmischung von außen. Zu dieser Freiheit gehört für uns, dass wir selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang wir von der Aktuellen Stunde und der Demonstration am Mittwoch berichten. Schon jetzt können wir versprechen, dass wir dies ausführlich tun werden. Nicht versprechen können wir dagegen, dass unsere Berichterstattung allen passen wird.

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Zum guten Schluss für alle Chefredakteure, die 2015 wenig zu lachen hatten. Thomas Bärsch ist amtierender Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, der das Schmunzeln nicht verlernt hat; er schrieb am 13. Dezember diesen Tweet

Ist das laute Abspielen von Heino eigentlich noch Ruhestörung oder schon Landfriedensbruch?

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Im Dezember ist dieser Blog zum Tausender geworden: Über tausend Blog sind  seit der Gründung 2012 von 160.000 Besuchern gelesen worden. Es ist ein kleiner Blog geblieben, bewusst auf eine kleine feine Leserschaft von Journalisten konzentriert und auf Leser, die  Journalismus als Garanten der Demokratie verstehen.

Ich wünsche allen Lesern, Kommentatoren und Kritikern meines Blogs ein gutes Jahr 2016, in dem sie das Lachen und Lächeln nicht verlernen sollten.

Wer ist Uwe Vetterick – der Chefredakteur des Jahres 2015?

Geschrieben am 22. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

Bei der Wahl der „Journalisten des Jahres“ werden die beachtet, die aus dem Fernsehen bekannt sind wie Anja Reschke oder Oliver Welke. Sie haben die Auszeichnung zu Recht erhalten – ebenso wie Hans Leyendecker von der Süddeutschen, der bescheidene Star unter den investigativen Rechercheuren, für sein Lebenswerk. Aber da ist auch noch Uwe Vetterick, Sächsische Zeitung, der Chefredakteur des Jahres bei den regionalen Tageszeitungen. Diese Ehrung wird überregional  wohl wieder untergehen:

Wer ist Uwe Vetterick? In der Tat wohl der beste deutsche Chefredakteur, dessen Laufbahn so faszinierend ist wie die Zeitung, die er macht und die dank seiner Strategien und Ideen zu einer großen wurde – nicht nur im Osten Deutschlands.

Uwe Vetterick ist Ostdeutscher und begann seine Karriere als Zwanzigjähriger in der Wende: Eine beneidenswerte Startposition!

Ich bin Journalist geworden, weil mich ein Verleger und ein Chefredakteur im Frühjahr 1990 zu einem Praktikum überredet haben

schreibt er, in der ihm eigenen Bescheidenheit, im Online-Portal der Sächsischen Zeitung

Er begann bei dem in der Wende neu gegründeten Greifswälder Tageblatt, für das Unternehmer aus dem Oldenburger Münsterland ihr Geld gegeben hatten. Es war eine phantastische Wende-Zeitung, die 1990 als erste ostdeutsche den Deutschen Lokaljournalismus-Preis bekam – in dem Jahr, als Vetterick als Volontär begonnen hat.

Der Preis begleitete Vetterick: Als Chefredakteur der Sächsischen Zeitung holte er ihn 2013 nach Dresden für den „SZ-Famlienkompass“, für eine  Serie mit 400 Artikeln: Wie glücklich sind die Familien in den sächsischen Städten? Was ist gut? Was fehlt?

Vetterick wird wohl ein Abonnent dieses Preises werden. Seine erste Zeitung überlebte den Preis und die ersten Jahre nicht: Die erst gelungene, dann schreckliche Geschichte des Greifswälder Tageblatts lohnt, einmal aufgeschrieben zu werden.

Für Vetterick war sie ein guter Start, wie übrigens auch für Frank Pergande, der bei der FAZ eine beeindruckende Karriere gemacht hat.

Vetterick stieg steil auf, wurde stellvertretender Chefredakteur bei Bild und verantwortlich für den Osten (in dem Bild nie Fuß fassen konnte), ging für ein Jahr als Vize-Chefredakteur zum Tagesanzeiger in die Schweiz – als einer der ersten Deutschen; heute leitet mit Wolfgang Büchner, dem Ex-Spiegel– und dpa-Chef, ein Deutscher die Blick-Gruppe, der sich mit Michael Ludewig von dpa eine Art Super-Deskchef geholt hat.

Stellvertretende Chefredakteure von Bild werden gute Chefredakteure bei Regionalzeitungen: Es gibt einige Beispiele, die herausragenden sind Uwe Vetterick und Sven Goesmann, der die Rheinische Post wieder in Schwung gebracht hatte und nun bei dpa reüssiert, nicht nur weil er gerade drei Frauen in die Chefredaktion berufen hat.

Wie kam Vetterick aus der Schweiz zur Sächsischen Zeitung:

Ein Anruf des damaligen Geschäftsführers, zwei gemeinsame Essen (einmal Frühstück, einmal Brunch), ein ungewöhnliches Gespräch. Das war’s.

In Dresden spielt Uwe Vetterick seine entscheidende Stärke aus: Er ist Stratege, der Kopf der Redaktion, der mehr Ideen hat als der Verlag je umsetzen kann, der aber auch Ideen seiner Redakteure zulässt, der ermutigt, vorantreibt und bei Flops nicht die Peitsche schwingt, sondern gleich das nächste Projekt aus den Ruinen des alten auferstehen lässt. So nahm zwar vor wenigen Wochen der Verlag die Wochenzeitung AuSZeit nach einem Jahr vom Markt, weil nur tausend Exemplare verkauft wurden, aber Neues aus der Vetterick-Werkstatt wird sicher folgen.

Er besitzt das Vertrauen von Julia Jäckel, der Chefin von Gruner+Jahr, die weiß, dass Vetterick die SZ zu einer Zeitung gemacht hat, die man nicht mehr verkaufen will – und auch nicht verkaufen muss,  weil Erfolg das beste Argument ist.

Vetterick nutzt intensiv die eigene Leser-Forschung: „Lesewert“: Er weiß genau, was seine Leser wirklich lesen und richtet nach den Bedürfnissen der Leser seine Zeitung aus – wohl wissend, dass selbst eine kontinuierliche Leserforschung nur das messen kann, was in der Zeitung steht. Für das Neue, das Experiment, das Überraschende ist er verantwortlich. So antwortet er auch auf die Frage, was er an seinem Job mag: „Geschichten erzählen, Blattmachen, Menschen überraschen.“

Und da ein Chefredakteur kaum mehr zu eigenen Recherchen und großen Geschichten eine Zeit findet, geht die Antwort auf die Frage nach seiner besten Story in die Greifswälder Zeit zurück:

Sie ging kurz erzählt so. Ein Mann, Mitte 50, verliert durch Krankheit seine geliebte Frau. Eine Frau, Mitte 50, verliert durch Krankheit ihren geliebten Mann. Durch Zufall werden beide nebeneinander begraben. Zufällig auch treffen sich bei der Grabpflege Witwe und Witwer und verlieben sich ineinander. Die Geschichte erschien zu einem Totensonntag. Selbst aus großem Leid kann neues Glück wachsen.

Pegida ist für Dresden ein Unglück, für Vetterick bringt sie die Auszeichnung als Journalist des Jahres. Er hätte sie auch ohne Pegida verdient gehabt – aber wer schaut schon genau in die Provinz hinein?

So bezieht sich die Jury-Begründung auch auf die Pegida-Berichterstattung:

Uwe Vetterick und seine Redaktion erleben vor Ort Tag für Tag, was es heißt, wenn die Stimmung im Land kippt. Seit Ende 2014 werden jeden Montag ,Lügenpresse‘- Parolen direkt vor der Dresdner Verlagstür skandiert. Die Berichterstattung über die politische Stimmung und Spaltung ist eine permanente Gratwanderung. Er muss seine angefeindete Redaktion auf Kurs halten und motivieren. ,Rückendeckung von oben‘ ist täglich nötig und wird von Vetterick gegeben. Zugleich treibt er redaktionelle Innovationen voran (z. B. das Onlineportal Schul-Navigator). Bester Lokaljournalismus unter widrigsten Bedingungen: Das verdient hohe Anerkennung.

Auch den SZ-Reporter Ulrich Wolf ehrt die Jury:

2015 war das Jahr, in dem Dresden nicht mehr als Elbflorenz glänzte, sondern zur Pegida-Stadt wurde. Ulrich Wolf hat Recherche dagegen gesetzt – und u.a. Lutz Bachmanns kriminelle Machenschaften aufgedeckt. Und er hat sich jeden Montag aufs Neue zwischen die Demonstranten gestellt – trotz unmittelbarer Drohungen gegen ihn persönlich. Er ist der Journalist Deutschlands, der sich am längsten und intensivsten mit dem Thema Pegida beschäftigt und von dessen Recherchen viele nationale Medien profitieren.

Wer fragt, wie ein Chefredakteur das alles leisten kann, der schaue auf die Online-Seiten der SZ, wo Vetterick seinen typischen Arbeitstag beschreibt – mit gerade mal dreißig Minuten Pause zwischen 8.30 und 21 Uhr:

08.30 – 10.30 Uhr      Zeitungslektüre, Agenturen checken, Kaffee trinken
10.30 – 11.00 Uhr      Konferenz mit den newsgetriebenen Ressorts und Onlinern
11.00 – 12.00 Uhr      Verwaltungskram
12.00 – 13.00 Uhr      große Redaktionskonferenz
13.00 – 13.30 Uhr      Lunch
13.30 – 14.30 Uhr      neue Redaktionsprojekte besprechen und entwickeln
14.30 – 21.00 Uhr      Blattmachen

Herzlichen Glückwunsch, Uwe Vetterick!

 

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