Alle Artikel der Rubrik "Lokaljournalismus"

Wer kontrolliert die Lokalpolitiker?

Geschrieben am 12. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 12. Juli 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

Was passiert, wenn nicht mehr Lokalredakteure die Kommunalpolitik kontrollieren und ihre Leser informieren? Dann müssen Politiker das selber tun – wie in Italien.

In einer Rezension des Buchs „5 Sterne“, verfasst vom Komiker Beppe Grillo und anderen, wird Beppos Partner Gianroberto Casaleggio zitiert:

„Uns interessiert nicht die Macht.“ Man wolle nur in jedem Kommunalparlament vertreten sein, um Kontrolle auszuüben und die Bürger zu informieren.

Und was passiert, wenn keiner mehr kontrolliert und informiert?

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 9.Juli – Henning Klüver über das Buch von Beppo Grillo, Gianroberto Casaleggio und Dario Fo „5 Sterne. Über Demokratie, Italien und die Zukunft Europas“.

In dem Buch spielen Grillo & Co durch, wie wir von einer repräsentativen zu einer direkten, „digitalen“ Demokratie mutieren können: „In einer direkten Demokratie brauchen wir keine Parteien mehr.“ Dann wird die Utopie wirklich: „Alle Staatsbürger sind Politiker, und alle Politiker sind Staatsbürger.“

Grillos Bewegung ist – ähnlich wie die „Piraten“ in Deutschland – schnell wieder in der Versenkung verschwunden.

Facebook-Kommentar von Manfred Günther:

Auch wenn’s den Politikern mitunter weh tut, für Journalisten muss noch immer gelten:
„Durch ein Unterlassen kann man genauso schuldig werden wie durch Handeln.“
Konrad Adenauer

Der Blog oder das Blog? Und viele Liveticker – sogar von der Kreisliga

Geschrieben am 15. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Woran erkennt man einen richtiger Blogger? Er sagt: Das Blog. Macht einer den Blog zu einem männlichen Substantiv, wird er belächelt und als digitaler Staatenloser an den Katzentisch gesetzt.

Philipp Ostrop, Lokalchef der Ruhr-Nachrichten in Dortmund, dürfte der agilste Onliner in deutschen Lokalzeitungen sein. Bei der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche tapste er in die Falle:

Der Blog, nee, das Blog, glaube ich… Sonst krieg ich wieder Ärger auf Twitter

David Schraven von der konkurrierenden WAZ stellte einige Coups des Dortmunders vor, der in seiner Redaktion Zeitung und Online zusammen organisiert an einem fünfköpfigen Desk, dem 15 Reporter zuliefern:

+ Der Live-Ticker zu einer Giraffe im Zoo, die umgefallen war (nebst Shitstorm: Seid Ihr bekloppt – so was als Liveticker);

+ Live-Ticker von einem plötzlichen Unwetter am Abend, der vor allem hundert Tweets von Lesern nutzte und auch unbestätigte mitnahm, weil die Redaktion sie als wichtig ansah: „Offenbar Wasser in der U-Bahn-Haltestelle Stadtgarten. Wir können es nicht verifizieren. Hier der Tweet von Kevin. Danke!“;

+ Liveticker von der Räumung wegen einer Fliegerbombe;

+ „Lokalredaktion London“ während des Champion-League-Finales; nach diesem Vorbild soll es in einem schwierigen Dortmunder Gebiet ab 1. Juli die „Lokalredaktion Nordstadt“ geben;

+ „Wir livetickern sogar Kreisliga“ (Ostrop).

Gute Nachrichten für Lokalzeitungen: Buffett kauft weiter

Geschrieben am 6. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Der zweitreichste Amerikaner kauft eine Lokalzeitung nach der anderen. Laut SZ besitzt er nun auch The Roanoke Times in Virginia mit einer Auflage von 76.000. Er hält mittlerweile 29 Lokal- und 40 Wochenzeitungen, hat rund 350 Millionen Dollar investiert, und ließ mitteilen, dass seine Blätter in diesem Jahr Profit bringen werden.

Zwei große Zeitungen lassen sich offenbar vom Optimismus des Milliardärs anstecken: Times Picayune in New Orleans revidiert die Entscheidung, nur noch digital zu erscheinen, und druckt täglich wieder; und der Philadelphia Inquirer druckt wieder eine Samstagsausgabe.

Quelle: SZ 5.Juni 2013

Was Diekmann lernte im Silicon Valley: Lokal, lokal! Keine Ressorts mehr, weniger Konferenzen, mehr Teams!

Geschrieben am 4. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Die digitale Zukunft der Zeitung ist lokal! „Geolokal“, sagt Bild-Chefredakteur Kai Diekmann am Ende seines Silicon-Valley-Sabbatjahrs. Das solle konkret so aussehen: Das Smartphone weiß, wo ich mich aufhalte; es liefert mir die lokalen Nachrichten, die ich in diesem Augenblick brauchen kann – inklusive lokaler Werbung.

WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz berichtet auf Der-Westen.de von einem Besuch der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bei Diekmann. Auf Deutschland übertragen könne man, so Diekmann, weder die Mentalität noch den Erfolg des Silicon Valley – zum einen wegen der deutschen Angst vorm Scheitern.

Wir müssen in Deutschland das Scheitern lernen, wenn die Zeitungen auch digital erfolgreich sein wollen! Das ist eine der Lehren, die Bild-Chefredakteur Kai Diekmann gezogen hat: Das Scheitern ist eine Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wer scheitert, der solle schnell scheitern – um schnell wieder starten zu können.

Die Erkenntnis erinnert an einen Spruch Adenauers, der sinngemäß sagte: Es ist keine Schande hinzufallen; es ist eine Schande nicht wieder aufzustehen.

Nich nur eine Kultur des Scheiterns fehlt laut Diekmann in Deutschland, sondern auch eine „Kultur des Teilens“. Im Silicon Valley helfe jeder jedem. Zudem fehle eine Universität wie Stanford mit seinen „unglaublich guten Studenten“, die nahezu alle schon eine eigene Firma gegründet hätten.

Was Diekmann noch gelernt hat?
 

  • Journalisten müssen Kümmerer sein, nicht Nachrichten-Verwalter („Die reine Nachricht ist mittlerweile wertlos.)
  • Konferenzen, wie sie zur Routine in den Redaktionen zählen, gibt es nicht mehr.
  • Die bisherige Ressort-Aufteilung verschwindet zugunsten von Teams, die tagesaktuell an einem Thema arbeiten und auf den unterschiedlichen Kanälen ausspielen.
  • In diesen Teams arbeiten neben den Journalisten auch Techniker und Entwickler fürs Digitale mit.

So umwerfend sind diese Lehren nicht: Zum einen hat sie Diekmann selber beherzigt in seinem Blatt („Bild kämpft für sie“), zum anderen sind an funktionierenden Newsdesks in Deutschland die Ressorts schon seit einiger Zeit aufgelöst zugunsten von Teams, die ad hoc Themen, aber auch Serien bearbeiten.

Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)

Geschrieben am 30. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Ich habe (einen Leser) eingeladen, sich persönlich in der Redaktion davon zu überzeugen, dass auch der Chefredakteur nur einer unter vielen Redakteuren ist und mit lauter Redakteuren zusammenarbeitet, die sich von ihm nichts sagen lassen, sondern eine eigene Meinung haben.

Joachim Braun, Chefredakteur des Nordbayerischen Kurier (Bayreuth) in seinem Blog „Angekommen in Bayreuth“, als zu einem öffentlichen Treffen mit dem Chefredakteur gerade mal zwei Leser gekommen waren.

Die „Thüringer Allgemeine“ gewinnt den Deutschen Lokaljournalistenpreis

Geschrieben am 17. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Thüringer Allgemeine hat – zusammen mit dem Hamburger Abendblatt – den Deutschen Lokaljournalistenpreis gewonnen für ihre Treuhand-Recherchen. So danken wir unseren Lesern:

Danke! Wir gratulieren unseren Lesern

Der Deutsche Lokaljournalistenpreis ist der Oscar für Zeitungsredaktionen in der Provinz. Keine Ehrung ist angesehener und bedeutender.

Damit werden Redaktionen geehrt, die Trends setzen, Neues entdecken, Konzepte für die Zukunft schreiben und Maßstäbe setzen für andere. Vor allem bekommen Redaktionen seit über dreißig Jahren diesen Preis, die den Leser schätzen, ihn ernst nehmen, sein Wissen und seine Erfahrung nutzen.

So sehr wir Redakteure uns über diese Ehrung freuen, so sehr wissen wir: Es ist vor allem ein Preis für unsere Leserinnen und Leser. Ohne die Mithilfe der Leser hätten wir die Serie nicht schreiben können.
Es waren mehrere Hundert Leser, die uns ihre Erfahrung schenkten, stundenlang mit uns sprachen, Bilder und Dokumente aus Wohnzimmerschränken und von Dachböden kramten, ihre Bewertungen abgaben. Wir haben darüber hinaus 10 000 Blatt aus dem Bundestags-Archiv gesichtet, 20 000 Seiten in Staatsarchiven und Behörden gelesen und 15 Bände Treuhand-Dokumentation nach Fakten für Thüringen durchwühlt.

Wir haben die ehemaligen Treuhand-Manager aus dem Westen eingeladen, damit sie aus ihrer Sicht das Ende der DDR-Wirtschaft und den Start des Thüringer Wirtschaftswunders schilderten. So ausführlich ist noch nie über die Treuhand geschrieben worden, so differenziert erst recht nicht.

Wir verfolgten den Ausverkauf der Planwirtschaft und fanden die ersten Spuren eines Aufschwungs, der vom Fleiß der Thüringer befördert wurde und vom Mut der Pioniere in den Unternehmen, der oft genug ein Wagemut war. Die Treuhand war schwach, die Treuhand war gut – die Treuhand war von allem etwas. Wie auch immer sie vor dem Urteil der Geschichte bestehen wird, eines ist sicher: Sie hat das Leben von Millionen Menschen in Thüringen bestimmt, ihren Alltag, ihre Zukunft, ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung.

Die Treuhand ist das Ur-Thema des Ostens: Sie steht für den Zusammenbruch wie für den Aufbau und für alles dazwischen. Wir haben die Geschichten aufgeschrieben, damit sie nicht vergessen werden – auch nicht von der neuen Generation, die neugierig ist auf die Geschichte ihrer Eltern.

Erst zum dritten Mal bekommt eine ostdeutsche Zeitung diese große Auszeichnung: Direkt nach der Wende bekam sie eine Neugründung in Greifswald, die es schon lange nicht mehr gibt; zur Jahrtausendwende erhielt die Volksstimme in Magdeburg die Ehrung – und in diesem Jahr wir.

Wir danken unseren Leserinnen und Lesern! Wir freuen uns mit Ihnen gemeinsam. Und wir sind nicht bescheiden: Wir haben diesen Preis verdient – Leser und Redaktion.

Ein großer Dank gebührt vor allem unseren Redakteuren Dietmar Grosser und Hanno Müller, die über ein Jahr an der Serie arbeiteten, unzählige Ideen hatten und nie müde wurden, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ

Geschrieben am 5. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Sehr geehrter Herr Schäffer,
verehrter Kollege (wenn Sie diese Anrede nicht als Anmaßung verstehen, denn ich schreibe nicht für eine überregionale Zeitung, sondern für eine Provinzzeitung),

Sie schreiben in der FAS zum NSU-Prozess:

Wie soll Öffentlichkeit in einem Verfahren, in dem die Grundfeste unseres Gemeinwesens verhandelt werden, anders hergestellt werden als durch eine Berichterstattung in überregionalen Tageszeitungen und Wochenzeitungen?

Sie erkennen, dass dies Hochmut ist gegenüber den Regional- und Lokalzeitungen, und sie geben dies auch zu:

Das ist kein Dünkel gegen regionale und lokale Zeitungen. Sie haben ihre Stärke und ihre Funktion. Sie bieten hohe journalistische Qualität, die unsere deutsche Zeitungskultur prägt. Aber wie der NSU-Prozess verläuft, wird auch und gerade jenseits der deutschen Grenzen beobachtet. Das Bild, das sich die Welt von Deutschland macht, wird durch die überregionalen Zeitungen bestimmt.

Das ist ein vergiftetes Lob: Provinzzeitungen sind für Provinzler da, wir schreiben für die Welt. Also stellt Euch in die Ecke, Ihr Lokalzeitungen und Provinz-Redakteure!

Mit Verlaub, geschätzter FAZ-Redakteur, dies ist ein Prozess für die Provinz,  vor allem für die ostdeutsche Provinz. Aus Jena kommen die meisten der jungen Leute, die des Terrorismus angeklagt sind; sie sind im Osten aufgewachsen und haben in Thüringen und Sachsen ihre Unterstützer gefunden.

Die Menschen in der Ex-DDR, die einer unglaublichen Revolution zum Erfolg verhalfen, sind durch die NSU in den Generalverdacht geraten: Im Osten sei der Nährboden des braunen Terrors! Im Osten lebten die Menschen, welche die Mord-Serie erst möglich machten!

Die Regional- und Lokalzeitungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben intensiv über die NSU und die Neonazis recherchiert, haben viele Details ans Licht befördert. Die Lausitzer Rundschau beispielsweise hat einen der Nannen-Preise gewonnen, weil sie sich den braunen Kämpfern entgegen stellte, sich nicht einschüchtern ließ und weiter recherchierte.

Für solch eine Recherche in der Lausitz braucht ein Lokalredakteur kein klimatisiertes Büro und keinen internationalen Vertrieb: Er braucht Mut, weil die Neonazis seine Gesundheit bedrohen, er braucht Zivilcourage, weil er auch einige seiner Leser überzeugen muss, und er braucht eine Chefredaktion, die ihm den Rücken stärkt.

Wenn die FAZ über den Osten berichtet, dann reitet sie nicht selten auf den Vorurteilen durchs Land, die wir in der Provinz überwinden wollen und auch überwunden glaubten. Ich erinnere mich an eine ganzseitige Reportage in der FAZ, in der ein türkischer Arbeiter aus Rüsselsheim durch den Osten fuhr und in der ihn Ihre Reporterin aufforderte, breit anzuprangern, wie grau, schlimm und abstoßend dieser Teil Deutschlands ist.

Mir graut davor, dass Ihr Bild vom Osten in der Welt verbreitet wird. Es sind die Regionalzeitungen aus Thüringen und Sachsen, die wohl am besten, am genauesten und am fairsten über den Prozess in München berichten können. Wir kennen die Milieus, die Eltern, Verwandten
und Freunde der Angeklagten – und wir schreiben für die Menschen, die in eine Art Kollektivschuld genommen werden.

Ja, Sie haben Recht: Es geht um die Grundfeste unseres Gemeinwesens, die aber nicht für das Ausland verhandelt werden, sondern zuerst für die Menschen in Jena und Eisenach, Zwickau und Oberweißbach und den Rest der Republik.

Die Thüringer Allgemeine wird nicht in „rund neunzig Ländern verbreitet“ wie die FAZ. Sie wird nur von knapp einer Million Menschen in Thüringen gelesen, wenn wir unsere beiden Schwesterzeitungen dazu rechnen, für die wir auch über den Prozess berichten – wie auch für ein paar Millionen Leser im Ruhrgebiet, im Sauerland und am Niederrhein, in Braunschweig und Wolfsburg und in Österreich,wo eine Reihe von Zeitungen um unsere Berichte bittet, weil wir die braunen Terroristen und ihr Umfeld kennen.

Sie, verehrter Herr Schäffer, suggerieren in Ihrem offenen Brief an den Präsidenten des Oberlandesgerichts: Nur überregionale Zeitungen und ihre „erfahrenen Berichterstatter“ können den Lesern „ein vielfältiges Bild verschaffen, können vergleichen, können ihre Schlüsse ziehen“.

Bei allem Respekt vor Ihrer Überheblichkeit: Das können wir in der Provinz auch, und wahrscheinlich in diesem Prozess besser als Sie.

Kommentar per Mail am 10. Mai von
Dr. med.Lutz Langenhan

Sehr geehrter Herr Raue, mit teils ambivalentem Interesse verfolge ich aufmerksam Ihre gelungenen Beiträge mit überregionaler Wertschätzung. Hochmut war im frühen deutschen Wortsinn eine Tugend. Herr Schäffler ist eben schlichtweg arrogant! Hoffentlich erinnern sich die Redakteure der FASZ an ihren Lateinunterricht.

Die Entdeckung der Lesernähe – und Recherche

Geschrieben am 29. April 2013 von Paul-Josef Raue.

Lesernähe wird entscheidend für die Zukunft der Zeitungen. Worauf legen Sie besonderen Wer? Und wie setzen Sie das um?

fragt Claudia Mast, Professorin der Kommunikationswissenschaft und Journalistik an der Universität Hohenheim. Meine Antwort, die kurz sein soll:

Lesernähe war immer schon entscheidend, aber gefahrlos zu ignorieren, als Zeitungen nahezu konkurrenzlos waren.

Leser wollen mitreden, aber nicht jeden Unsinn anderer lesen (wie es im Netz geschieht); sie schätzen die Moderation der Redaktion, wenn sie fair ist, offen und tolerant.

Zuvor wollen Leser verstehen, um was es geht, wollen einschätzen können, ob es für sie wichtig ist. Also, wie immer schon: Erst die Recherche, dann die Analyse und Einordnung, dann die Debatte.

Die zweite Frage der Professorin:

Welches Selbstverständnis führt die Tageszeitungen erfolgreich in die Zukunft? Worin sehen Sie im Vergleich zu anderen Medien ihr spezielles publizistisches Leistungsangebot?

Meine Antwort:

Das Selbstverständnis ist das bewährte: Wir kennen die Welt unserer Leser und lassen sie die Welt kennenlernen. Kennen wir die Welt unserer Leser nicht, werden sie uns ignorieren. So einfach ist das.

Was wir leisten müssen? Intensiver und tiefer recherchieren als bisher. Wir entdecken die Nachrichten, die andere posten; wir führen unsere Leser in den Hintergrund der Nachricht und analysieren, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Und das tun wir am besten in der Provinz, wo unsere Leser leben und arbeiten und ihre Heimat schätzen.

Das journalistische Grundgesetz des Respekts: Zehn Regeln (Respekt und Nähe, Teil 2)

Geschrieben am 21. Februar 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 21. Februar 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus, Presserecht & Ethik.

Der kategorische Imperativ im Lokalen lautet: Respektiere Deine Leser! Das bedeutet nicht, jedem nach dem Munde zu reden. Die Maxime, die Luther nachgesagt wird, ist gut auf den Respekt zu übertragen: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund!

Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.

Hier der zweite Teil meines Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012; Teil 1 befasste sich mit der Berichterstattung zum Amoklauf in Erfurt vor zehn Jahren.

Die Leser der lokalen Zeitung verlangen nach Nähe, gerade weil ihnen die Globalisierung ungeheuer ist und diffuse Ängste auslöst. Die Welt ist für die meisten unbegreiflich.

Die Nähe schließt ein, dass Lokalredakteure über die Menschen, ihre Nachbarn, berichten. Das gelingt nur mit Respekt. Wer mit seinen Lesern lange und ernsthaft spricht, wird diesen Wunsch, ja diese Forderung immer wieder hören: Behandelt uns mit Respekt!

Dieser Respekt beginnt schon beim Machen der Zeitung:
• Die Leser wollen keine verspielten Überschriften, sondern verständliche – um schnell entscheiden zu können, ob sie einen Artikel lesen wollen oder nicht. Führt sie eine Überschrift in die Irre, protestieren sie: Die Redakteure nehmen uns nicht ernst!

• Die Leser wollen eine verlässliche Ordnung in der Zeitung, um sich morgens leicht orientieren zu können. Irren sie durch die Zeitung, protestieren sie: Wir stehen eine halbe Stunde früher auf, um vor der Arbeit die Zeitung zu lesen – und nicht um in der Zeitung mühsam zu suchen, was für uns wichtig ist!

• Die Leser wollen ihren Platz in der Zeitung einnehmen, buchstäblich. Sie fordern unmissverständlich: Lasst uns mitreden! Gebt uns Raum genug, um uns artikulieren zu können – auch wenn es denen oben nicht gefällt!

Noch genauer als „Nähe“ kennzeichnet „Respekt“ die ethische Haltung
eines Lokalredakteurs. Der kategorische Imperativ im Lokalen lautet: Respektiere Deine Leser! Das bedeutet nicht, jedem nach dem Munde zu reden. Die Maxime, die Luther nachgesagt wird, ist gut auf den Respekt zu übertragen: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund!

So ist dieser Entwurf eines Grundgesetzes des Respekts zu verstehen, zu debattieren in den Lokalredaktionen und in allen Leserzirkeln:

1. Respektiere unsere Verfassung, die verlangt: Schreibt alles unverzüglich, glaubwürdig und unbeeinflusst, was die Bürger in einer Demokratie brauchen, um mitwirken zu können.

2. Respektiere unsere Demokratie, deren Fundament die Kontrolle der Macht und der Mächtigen bildet. Fürchte nicht den Unmut der Mächtigen, wenn sie in ihrem Tun genau beobachtet werden; weiche nicht zurück vor ihrem Zorn, wenn sie ertappt werden; meide aber auch die Umarmung und zu große Nähe, die verführen und korrumpieren kann. Warte nicht darauf, dass die Nachrichten kommen, sondern grabe tief nach den Nachrichten, vor allem denen, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollen.

3. Respektiere aber auch die Integrität der Mächtigen, die – wie jeder andere – Anspruch auf Fairness haben, also gründliche Recherche, das Recht zur Stellungnahme, Unterscheidung von Nachricht und Meinung sowie Achtung vor ihrem Privatleben.

4. Respektiere die professionellen Regeln – also Achtung vor der Wahrheit, Wahrung der Menschenwürde und wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit -, so wie sie im Pressekodex formuliert sind und vom Presserat kontrolliert werden.

5. Respektiere die Leser mit ihrem Anspruch, verständlich und umfassend informiert zu werden.

6. Respektiere den Wunsch der Leser, in ihrem Staat mitreden und mitwirken zu wollen. Ermutige die Bürger dazu – das ist das Gute, das jeder Journalist tun sollte. Räume den Lesern ausreichend Raum für ihre Meinungen, Anregungen und Kritik ein; verhindere keine Debatten, sondern rege sie an.

7. Respektiere den Wunsch der Leser, auch die Medien und die Redakteure kritisieren und kontrollieren zu wollen. Sei nicht der Oberlehrer, sondern der Partner und Treuhänder der Leser.

8. Respektiere die Gefühle der Leser, wenn Trauer und Leid über sie kommt. Respektiere ihre Weigerung, mit Journalisten zu sprechen und ihr Gesicht zu zeigen. Zerre nichts in die Öffentlichkeit, was ihr Leid, auch verschuldetes, noch leidvoller macht.

9. Respektiere die Ahnungslosigkeit von unerfahrenen Lesern, die oft weder die Wirkung ihrer Zitate noch die Tragweite ihres Handelns richtig einschätzen können.

10. Respektiere nicht nur die Leidenschaft der Menschen für ihre Heimat, sondern teile sie mit ihnen. Pflege eine kritische Nähe, die den Lesern zeigt: Es ist gut, hier zu leben, aber wir kritisieren, damit es noch besser wird.

 

(zu: Handbuch-Kapitel 55 Der neue Lokaljournalismus + 48-49 Ethik + 53 Was die Leser wollen)

Respekt und Nähe – am Beispiel des Amoklaufs in Erfurt

Geschrieben am 20. Februar 2013 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 20. Februar 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus, Presserecht & Ethik.

Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs (am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt), auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe.

Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.

Hier mein Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012 (1. Teil):

 

Ein 19jähriger ermordet im April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und tötet sich am Ende selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle Erfurter.

Wer einen Angehörigen verloren hat, einen Freund oder Bekannten, der ringt um Fassung, manche verlieren sie. Sie wollen nur noch schweigen angesichts des Unbegreiflichen. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht, oder jeden Film, der im Fernsehen läuft.

Die Redakteure in der Lokalredaktion können nicht schweigen – auch wenn einige überwältigt sind, weil sie Angehörige oder Freunde verloren haben. Es gibt keinen in der Redaktion, der das Gymnasium nicht kennt, sei es von der eigenen Schulzeit her, sei es von Terminen, um vom „Gutenberg“ zu berichten:

Wie sollen die Redakteure berichten?
Was sollen sie erwähnen?
Welche Sprache ist angemessen?
Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen?
Das Wort verweist auf eine spontane Tat statt auf einen lang geplanten Mord. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.

Auch wenn für die Angehörigen Schweigen die beste Lösung wäre, so wiegt schwerer der Anspruch der Bürger, zu erfahren, was wirklich geschehen ist. In einer Gesellschaft, in der unzählige Medien unaufhörlich berichten, ist das Schweigen keine Alternative.

Es ist und war immer schon Aufgabe von Journalisten. die Wahrheit herauszufinden – auch um Legenden vorzubeugen und Agitatoren die Chance zu verwehren, aufzuwiegeln und die Trauer in Hass und Wut zu verwandeln. Zur Wahrheit gibt es keine Alternative.

Die Gesellschaft, als die Gemeinschaft der Bürger, muss versuchen, eine solche Tat zu verstehen – zum einen um Vorsorge zu treffen, wie künftig solch ein Amoklauf zu verhindern ist; zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.

Die Gesellschaft muss verstehen, um handeln zu können. Aber wie sollen Redakteure berichten? Recht einfach ist die Frage zu beantworten: Wie sollen sie nicht berichten.

Reporter haben in Erfurt die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen, haben Fotos von den Opfern aus den Kränzen am Sarg gestohlen. Sie haben Menschen, die bei sich bleiben wollen, selbst bei der kirchlichen Trauerfeier in die Öffentlichkeit gezerrt – als wären es Superstars oder Prominente, die die Kameras suchen; dabei waren diese Menschen gegen ihren Willen und gegen ihren Lebensplan in ein Unglück gestürzt, das der Verstand nicht fassen kann und das die Seele verdunkelt.

Die Menschen können zwischen den Zeilen lesen: Ihnen reicht die Andeutung, die Beschreibung durch Worte, um sich selbst eine Vorstellung von der Verzweiflung machen zu machen. Worte sind kühler, glaubhafter, menschlicher als Fotos, weil sie dem Leser die Chance bieten, sich selber ein Bild malen zu können. Worte, klug gewählt, fördern das Verstehen; Fotos können das Verstehen verstellen.

Wenn die Redaktion erklärt, dass viele der Trauernden nicht sprechen wollen – und dass die Redaktion dies akzeptiert, dann akzeptieren es auch die meisten Leser. Man lässt seine Nachbarn in Ruhe trauern, das ist seit altersher eine menschliche Regung.

Die Menschen können auch hinter die Bilder schauen: Sie brauchen keine verzweifelten Gesichter; ihr Mitgefühl ist so groß, dass ihnen Andeutungen und Gesten reichen, um sich die Trauer in den Augen der Angehörigen vorstellen zu können. Sie müssen nicht Bilder von verweinten Augen sehen, um mit den Menschen zu leiden.

Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen; Erfurter haben Journalisten beschimpft, bespuckt, mit Steinen beworfen, wenn sie Jagd machten nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen.

Dass diese Kritik auch in den Medien selber diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und, man möchte hoffen, Journalisten auch lernfähig. Doch als 2009 ein 17jähriger in Winnenden fünfzehn Menschen ermordete, drehten Journalisten auf der Jagd nach der Sensation wieder durch – als hätten sie nichts gelernt aus der massiven Kritik nach dem Amoklauf in Erfurt.

Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs, auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe:

• Auch Lokaljournalisten brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von Emotionen übermannen zu lassen und um Verantwortung zu klären.

• Lokaljournalisten brauchen Nähe, um mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, um Unerklärliches doch erklären zu können und sei es bruchstückhaft.

(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

Rubriken

Letzte Kommentare

  • Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
  • Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
  • Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
  • Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
  • Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...

Meistgelesen (Monat)

Sorry. No data so far.