Das Ulrich-Wickert-Interview: „Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält“
Herr Wickert, die meisten kennen Sie als den Moderator der Tagesthemen, als einen seriösen, freundlichen Mann. Ihr neues Buch nennen Sie „Neugier und Übermut“. Die Neugier nimmt man Ihnen leicht ab – aber den Übermut?
WICKERT Da mögen Kleinigkeiten gewesen sein – wie etwa dem Bundestagspräsidenten Hilde Knef auszuspannen, oder den übel gelaunten Bundeskanzler Helmut Schmidt zu fragen, ob er nur schnupfe oder auch spritze, oder gar einen Film über den marxistischen Philosophen Herbert Marcuse zu beginnen, obwohl die ARD dafür gar kein Geld bereit gestellt hat – und es eigentlich auch keiner wirklich sich traute.
Aber zum Ende meines Buches sage ich ja: Übermut ist gar nicht so wichtig gewesen. Es reichte schon, keine Angst zu haben. Und das ist übrigens auch wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse.
Mut kann man nicht lernen. Aber, so schreiben Sie, man kann lernen, was Mut bedeutet. Und Sie belegen es mit einer Jugend-Episode.
WICKERT Ja, in der Universität Bonn wollten mich Professoren vom Studium ausschließen, weil ich öffentlich gemacht hatte, wie die Diskussion über die Nazi-Vergangenheit des neuen Rektors unterbunden wurde. Der Dekan der philosophischen Fakultät Wolfgang Schmidt hat mich gerettet, in dem er mit seinem Rücktritt drohte, falls ich rausgeworfen würde. Da habe ich gelernt, dass man mit seiner Meinung und Haltung in der absoluten Minderheit sein kann – und trotzdem den Mut haben soll, bei seiner Haltung zu bleiben.
Wer in der DDR gelebt hat, dürfte erstaunt sein: Ein Bonner Student konnte von der Universität fliegen, weil er einen Nazi, der wieder Professor ist, einen Nazi nennt. Wie braun war die Bundesrepublik noch in ihrer Jugend?
WICKERT Bis in die achtziger Jahre hinein waren noch ehemalige Nazis in öffentlichen Ämtern. Manche hatten ihre Namen und Biographien geändert! Ich schildere ja in einem der ersten Kapitel meines Buches den Fall von Hans Fritzsche, einem ehemaligen Widerständler des 20. Juli, der nach dem Krieg in den Staatsdienst ging.
Beim Aufbau der Bundeswehr wurde er abgelehnt, weil er im Widerstand gewesen war. Und er wurde vom Verfassungsschutz als angeblicher „Bolschewik“ observiert. Frauen wurden auf ihn angesetzt, die bei ihm zu Hause nachschauen sollten, welche Bücher er las.
Da stand auch neben anerkannten Historikern wie Treitschke und Mommsen auch Karl Marx, weil er als Historiker solche Bücher las. Wer ließ ihn observieren: Die alten SS-Leute, die im Verfassungsschutz saßen! Andere Widerständler wie Erich Kordt wurden nicht mehr in den Auswärtigen Dienst aufgenommen, da sie – so Adenauer – „schon einmal ihren Chef verraten haben“.
Sie schreiben: Im Kalten Krieg war es schlimmer, Kommunist zu sein als ein Ex-Nazi. Sind Sie darüber in Ihrer Jugend zum heimlich Kommunisten geworden?
WICKERT Da muss ich doch lachen. Nein, ich bin deshalb kein heimlicher Kommunist geworden. Ich war dafür zu faul: ich habe das Kommunistische Manifest gelesen und fand darin vieles richtig. Aber vom „Kapital“ habe ich nur eine Seite gelesen. Das war mir zu anstrengend!
Ich bin humanistisch erzogen worden und war deshalb Mitglied der Humanistischen Studentenunion. Später, als Korrespondent in New York, habe ich einmal einen Film über die Hutterer gedreht. Diese religiöse Gemeinschaft hat mich tief beeindruckt. Denn dort wird ein „christlicher Kommunismus“ gelebt, der funktioniert!
Sie litten als junger Mensch darunter, dass in der Bundesrepublik vieles fehlte, was mit Freiheit zu tun hat. Wie fällt Ihr Urteil heute, Jahrzehnte später, über das vereinte Deutschland aus: Fehlt immer noch zu viel, was mit Freiheit zu tun hat?
WICKERT Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man im Rahmen der ethischen Vorgaben machen kann, was man für richtig hält. Aber in Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw.
Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!
Sie waren in einer der entscheidenden Stunden der Einheit dabei: Die beiden Außenminister Dumas aus Frankreich und Genscher aus Deutschland einigen sich, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren gegen Kohls erklärten Willen. Wie gelang es Ihnen, bei einem solch geheimen Treffen zuhören zu dürfen?
WICKERT Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen. Und der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher vertraute mir, als ich Korrespondent in Paris war, ebenso wie sein französischer Kollege, der Außenminister Roland Dumas.
Als ich nun erfahren hatte, dass Genscher sich plötzlich und ungeplant in Paris mit Dumas traf und die beiden dabei drehte, sagte mir Genscher, nachdem der Kameramann den Raum wieder verlassen hatte: „Setzen Sie sich doch zu uns.“
Es war kein Dolmetscher dabei, da Dumas deutsch spricht. So konnte ich miterleben, wie Hans-Dietrich Genscher mit harten Worten die Ablehnung von Bundeskanzler Helmut Kohl kritisierte, die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens öffentlich anzuerkennen, und mit Dumas beriet, wie der französische Präsident Francois Mitterrand Druck auf Kohl ausüben könnte.
Manche im Osten fühlen sich als besiegt, obwohl sie selber die friedliche Revolution erstritten haben. Die Frage geht an den Journalisten, der nach dem Krieg intensiv über „besiegt und befreit“ nachgedacht hat: Wer hat denn nun im Osten gesiegt?
WICKERT Im Osten hat die Bevölkerung gesiegt! Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hat das Volk sich erhoben und eine Regierung davongejagt. Ja, mehr als eine Regierung, ein ganzes politisches System. Also gibt es keine Frage: „Wir sind das Volk!“ hat gesiegt.
Dann kam allerdings: „Wir sind ein Volk!“ Und da hat die Bundesregierung in Bonn ihre ganze Macht ausgespielt, um Sieger zu sein. Es wäre politische für unsere Zukunft klug gewesen, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, wie es ja im Grundgesetz vorgesehen war. Aber die Regierung Kohl, die fürchtete im Dezember 1990 die Bundestagswahl zu verlieren, nutzte ihre Überlegenheit aus.
Sie wollten eigentlich kein Journalist werden. Hat es sich dennoch gelohnt? Und würden Sie jungen Leute heute raten, Journalist zu werden?
WICKERT Ja, ich war nie auf den Gedanken gekommen Journalist zu werden – und wer das Kapitel „Neugier als Lebensmotto“ in meinem neuen Buch liest, der wird sich biegen vor Lachen, wie dämlich ich mich in dem ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt habe. Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.
Und wenn heute ein junger Mensch diese Neigung in sich spürt, wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen.
Sie gehören,nach eigenem Bekunden, einer Generation an, die keine Angst hatte. Ist die neue Generation eine ängstliche Generation?
WICKERT Mit „Generation ohne Angst“ meine ich: Wir mussten uns keine Sorge um einen Beruf zu machen; der würde schon irgendwie kommen. Wir empfanden Vorgesetzte als Personen, die man erst einmal kritisch behandeln sollte. Vor ihnen hatten wir auch keine Angst. Die Zukunft war für uns wie ein Blick in den blauen, sonnigen Himmel.
Die heutige Generation erlebt schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?
Doch, wie ich schon eingangs sagte: Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.
Thüringer Allgemeine 17. November 2012
BUCH Ulrich Wickert: Neugier und Übermut (Hoffmann und Campe, 22.99)
(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten)
Wickert zum 70.: „Es reicht, keine Angst zu haben“
Wieviel Misstrauen braucht ein Journalist? Wenig, meint Ulrich Wickert, der heute, am 2. Dezember 2012, seinen 70. Geburtstag feiert. „Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen“, sagt Ulrich Wickert in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen.
Eigentlich wollte er kein Journalist zu werden. Dämlich habe er sich im ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt: Wer das in seinem neuen Buch „Neugier als Lebensmotto“ lese, werde sich biegen vor Lachen. „Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.“
Hans Leyendecker schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.12.2012), ein wenig resignierend über den Beruf des Journalisten: „Wickert gehört zu den Glücklichen, die einen Sinn in all dem Schaffen erkennen können.“
Was ist Wickerts Glück, Leyendecker folgend:
- Rheinischer Optimismus
- Der nie beirrte Glaube an den Sinn journalistischer Arbeit
- Der nie schwindende Glaube an die Aufklärung (der bei anderen in der Regel mit dem Alter abhanden kommt)
- Fehlender Zynismus („Zynismus wird in diesem Beruf Erfahrung genannt“)
- Realismus statt Resignation
- Weltenbummler
- Nachrichtenversessen (liest morgens Herald Tribune, Le Monde und drei weitere Zeitungen, schaut Tagesschau, Tagesthemen und Dokumentationen bei Arte)
- Charmant, sehr gelassen, erstaunlich normal (im TV-Studio wie beim Einkaufen im Gemüseladen)
Einem jungen Menschen gibt Wickert im Interview der Thüringer Allgemeine den Rat, Journalist zu werden – „wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen“.
Im Gegensatz zu seiner Generation, die eine „Generation ohne Angst“ war, erlebten die jungen Leute in ihrer Generation heute „schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?“
Sein Rat lautet: „Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.“
Kritisch geht Wickert, der die Welt kennt, mit seinem Heimatland um: „In Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw. Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!“
Das komplette TA-Interview: Freiheit ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält
(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Der Journalist)
Ude (2): Die hohe Kunst des Lokaljournalismus
Wenn Münchens Oberbürgermeister verstehen will, was seine Verwaltung schreibt, schaut er in den Lokalteil der Zeitungen: „Ich verstehe viele Vorlagen nicht. Aber seriösen Zeitungen gelingt es, den wesentlichen Inhalt zu vermitteln.“ Das eine, die Leistung der Lokaljournalisten, sei eine Kunst; das andere, die Verwaltungssprache, ein Milieu-Schaden.
So sprach Christian Ude bei der Lokaljournalismus-Konferenz des Netzwerk Recherche in München (9. November 2012). Daraus abzuleiten ist die Forderung an die Lokaljournalisten: Übersetze die Verwaltungssprache in ein verständliches Deutsch, damit es nicht nur der Oberbürgermeister verstehen kann, sondern jeder Bürger deiner Stadt!
Eine weitere Kunst, die Lokaljournalisten beherrschen, lobte Ude: Aus einer neunstündigen Sitzung das Wesentliche zu destillieren. „Wir profitieren davon!“ – und meinte mit „wir“ die Politiker. Auch daraus kann man eine Forderung formulieren.
Eine dritte Kunst hob Ude hervor: „Als Korrespondent in Südamerika ist es völlig wurscht, was sie schreiben, im Lokaljournalismus muss jede Zahl und jeder Vorname stimmen, zumindest bei einem Stadtrat. Die öffentliche und soziale Kontrolle ist nirgends so enorm wie im Lokaljournalismus.“ Daraus folgert Ude: „Das hohe Selbstwertgefühl der Lokaljournalisten ist durchaus berechtigt.“
So lassen sich die Ude-Regeln der Lokaljournalisten-Kunst formulieren:
1. Schreibe so, dass dich jeder versteht, sogar der Oberbürgermeister!
2. Hole das Wesentliche aus jeder langen Sitzung, aus jeder Versammlung heraus!
3. Recherchiere sorgfältig, weil dich jeder kontrollieren kann!
Eine vierte Regel fügte er an: Kontrolliere die Mächtigen! Sei Wächter der Demokratie! Diese Regel formulierte Ude als Kompliment: „Man muss Lokaljournalisten fürchten!“
Die Wächterfunktion sei notwendig, denn – so Ude – „alle Menschen jeglicher Couleur neigen zum Machtmissbrauch, wenn sie nicht von außerhalb kontrolliert werden.“ Zu schreiben, was verschwiegen werden soll, sei die vornehme Aufgabe der Lokaljournalisten.
Wie er selber einmal in seiner Jugend wenig sorgfältig, aber dennoch erfolgreich gewesen war, erzählte er vor hundert Gästen im Restaurant der Süddeutschen Zeitung:
Ich habe eine Musikkritik in der SZ geschrieben, ohne dabei gewesen zu sein. Ich hatte keine Lust, bin ins Textarchiv gegangen, habe mir eine entsprechende Kritik von Joachim Kaiser angesehen, die besten Passagen abgeschrieben – und mir stattdessen einen unvergesslichen Abend im Biergarten gegönnt.
Der Konzertverein hat sich bedankt: „Der Kritiker hat mit viel Herzblut geschrieben.“ Die Plattenfirma hat meine Kritik aufs nächste Plattencover gesetzt.
Die Macht des Lokaljournalisten erlebte Ude bei den großen Studenten-Demonstrationen 1968, bei denen die Schätzungen der Teilnehmer zwischen Polizei und Zeitung immer stark differierten – bis eines Tages der Polizeichef auf Ude zukam und ihn fragte: „Wären Sie mir 3000 einverstanden?“
Der Lokaljournalismus ist für Ude kein Sprungbrett nach oben, er ist schlicht der folgenreichste Journalismus, der Ernstfall, wo es auf jedes Wort ankommt. „Nirgendwo ist die publizistische Wirkung so erfolgreich.“
Ude plädierte für Seriosität und Hintergründigkeit gerade im Lokaljournalismus: „Ich wundere mich, wie viele Journalisten sich auf den Wettlauf um Aktualität einlassen, statt auf Qualität und Ausführlichkeit zu setzen. Der recherchierende Journalist wird immer wichtiger – und deswegen sage ich es auch in Anwesenheit der Geschäftsführung.“
(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 55 Der neue Lokaljournalismus + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)
„Rechtsradikal“ ist Werturteil, keine Tatsachenbehauptung
Im Zweifelsfall für eine öffentliche Debatte, auch wenn sie hart geführt wird! Und gegen das Verbot einer Debatte, in der es immer noch um das Thema geht! Wer seine Meinung öffentlich zur Diskussion stellt, muss eine Diskussion darüber auch ermöglichen – und ertragen.
So urteilte das Verfassungsgericht in Karlsruhe für einen Rechtsanwalt, der einen anderen Anwalt in einem Internet-Forum „rechtsradikal“ genannt hatte – und gegen Land- und Oberlandesgericht, die entweder eine unwahre Tatsachenbehauptung oder eine Schmähkritik entdeckt und zur Unterlassung aufgefordert hatten.
Drei Kriterien nennt das Bundesverfassungsgericht für die Abgrenzung von erlaubter Meinungsäußerung und Schmähkritik:
1. Sie darf den Kritisierten nicht in seiner Intimsphäre treffen.
2. Sie darf nicht in sein Privates eindringen (was der Fall ist, wenn die Diffamierung im Vordergrund steht und nicht mehr die Sache, über die diskutiert wird).
3. Sie dringt in seine Sozialsphäre ein – was in einer Debatte, die man angezettelt hat, erlaubt ist (nach dem Motto: Wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte nicht kochen).
(zu: Handbuch-Kapitel 50 Presserecht)
Dokumentation
Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 77/2012 vom 13. November 2012
Beschluss vom 17. September 2012
1 BvR 2979/10
Die Bezeichnung anderer als „rechtsradikal“ ist ein Werturteil
und fällt unter die Meinungsfreiheit
Eine Person in einem Internetforum in Auseinandersetzung mit deren
Beiträgen als „rechtsradikal“ zu betiteln, ist ein Werturteil und
grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dies entschied das
Bundesverfassungsgericht in einem heute veröffentlichten Beschluss vom
17. September 2012 und hob daher die angegriffenen Unterlassungsurteile
auf. Es obliegt nun den Zivilgerichten, das Grundrecht auf
Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers mit dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht der kritisierten Person abzuwägen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Der im zivilrechtlichen Ausgangsverfahren auf Unterlassung klagende
Rechtsanwalt beschäftigte sich auf seiner Kanzleihomepage und in
Zeitschriftenveröffentlichungen mit politischen Themen. Er schrieb unter anderem über die „khasarischen, also nicht-semitischen Juden“, die das Wirtschaftsgeschehen in der Welt bestimmten, und über den
„transitorischen Charakter“ des Grundgesetzes, das lediglich ein
„ordnungsrechtliches Instrumentarium der Siegermächte“ sei.
Der Beschwerdeführer, ebenfalls Rechtsanwalt, setzte sich in einem
Internet-Diskussionsforum mit diesen Veröffentlichungen auseinander: Der Verfasser liefere „einen seiner typischen rechtsextremen originellen Beiträge zur Besatzerrepublik BRD, die endlich durch einen
bioregionalistisch organisierten Volksstaat zu ersetzen sei“. Wer meine, „die Welt werde im Grunde von einer Gruppe khasarischer Juden
beherrscht, welche im Verborgenen die Strippen ziehen“, müsse „es sich
gefallen lassen, rechtsradikal genannt zu werden“.
Das Landgericht und das Oberlandesgericht verurteilten den
Beschwerdeführer zur Unterlassung der Äußerungen, wobei das Landgericht
sie teilweise als unwahre Tatsachenbehauptungen und das
Oberlandesgericht sie als Schmähkritik aus dem Schutzbereich der
Meinungsfreiheit herausfallen ließen. Das Bundesverfassungsgericht hat
beide Urteile aufgehoben und die Sache an das Landgericht
zurückverwiesen.
2. Diese Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).
a) Es handelt sich um Meinungsäußerungen in Form eines Werturteils, denn es ist nicht durch eine Beweiserhebung festzustellen, wann ein Beitrag „rechtsextrem“ ist, wann sich ein Denken vom „klassisch rechtsradikalen verschwörungstheoretischen Weltbild“ unterscheidet und wann man „es sich gefallen lassen muss, rechtsradikal genannt zu werden“.
b) Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit werden verkannt, wenn
eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung
oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im
selben Maß am Grundrechtsschutz teilnimmt wie Äußerungen, die als
Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.
Verfassungsrechtlich ist die Schmähung eng definiert, da bei ihrem
Vorliegen schon jede Abwägung mit der Meinungsfreiheit entfällt. Eine
Schmähkritik ist nicht einfach jede Beleidigung, sondern spezifisch
dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der
Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Dies
kann hier aber nicht angenommen werden, denn alle Äußerungen haben einen Sachbezug.
c) Verfassungsrechtlich geboten war also eine Abwägung zwischen der
Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und dem Allgemeinen
Persönlichkeitsrecht des Unterlassungsklägers. Das Ergebnis dieser
Abwägung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Abwägung
muss das Gericht, an das zurückverwiesen wurde, berücksichtigen, dass
der Unterlassungskläger weder in seiner Intim- noch in seiner
Privatsphäre betroffen ist, sondern allenfalls in seiner Sozialsphäre.
Dagegen ist die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers in ihrem Kern
betroffen.
Die Verurteilung zur Unterlassung eines Werturteils muss im
Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum
Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden. Der
Unterlassungskläger hat seine Beiträge öffentlich zur Diskussion
gestellt; dann muss zur öffentlichen Meinungsbildung auch eine
inhaltliche Diskussion möglich sein.
Wenn Politiker drohen – schreib drüber!
Wie geht ein Chefredakteur mit Politikern um, die sich gegen Zeitungskritik wehren? Hans Hoffmeister, Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung (TLZ), teilt aus, steckt ein – und berichtet regelmäßig darüber in seiner Sonnabend-Kolumne „Schlüsselloch“.
Offenbar gab es mehr als einen Anruf des thüringischen Wirtschaftsministers Machnig, der gerade in Steinbrücks Wahl-Beraterkreis aufgerückt ist. In seinem aktuellen „Schlüsselloch“, in dem er über die Kleider der Mächtigen sinniert, schreibt Hoffmeister:
Kleidsam geht auch nach seinem Schlüsselloch-Knatsch mit der TLZ samt nachgereichtem milden Interview Wirtschaftsminister Machnig… Dabei hat Machnigs Kleidung doch eigens einen neuen Akzent. Wem’s noch nicht aufgefallen ist: Er trägt nicht länger himmelsflitzige Hemdkragen. Das Wort mit A… verwendet er auch nicht mehr. Und er vermeidet den Anschein von Sturztrünken.“
Also: Harscher Zeitungskritik folgt Anruf und Ärger mit dem Minister folgt ein mildes Interview als Wiedergutmachung und folgt neue…
TLZ, 3.11.2012 „Ohne Benimm kommen Politiker in Verschiss“
(zu: Handbuch-Kapitel 49 Wie Journalisten entscheiden sollten)
Öffentlich-rechtliches „Schmierentheater“
So scharf geht selbst die FAZ selten mit ARD und ZDF ins Gericht. Als „Schmierentheater“ und „einzigartiges Schauspiel“ und „einfach lächerlich“ kommentiert Michael Hanfeld die Reaktion des Senders auf den Anruf des CSU-Pressesprechers im ZDF-Nachrichtenraum, um Einfluss aufs Programm zu nehmen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist von den politischen Parteien abhängig bis ins Mark. Er hat so wenig Luft zum Atmen, dass der größte Sender Europas sich ein wenig Freiraum verschaffen muss, indem er die Anrufe eines bedauernswerten Pressesprechers zum Angriff auf die Pressefreiheit stilisiert… Die ,Staatsferne‘, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auszeichnen soll, ist eine Chimäre.“
Jede Redaktion müsse solchem Ansinnen lässig begegnen können. „Anrufe von Pressesprechern und anderen, freundliche oder unfreundliche, berechtigte Kritik, Beschwichtigungen oder Drohungen sind für Journalisten Tagesgeschäft. Wollte man derlei an die große Glocke hängen, käme man zu nichts anderem mehr.“
FAZ, 3. November 2012 „Geld gegen Proporz“
(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 51- 52 Pressesprecher und PR)
WAZ-Chef Nienhaus: Bei unseren Zeitungen dürfen sich auch Politiker beschweren
Rufen Sie uns an! Bei unseren Zeitungen dürfen sich auch Politiker beschweren! Darüber beschweren wir uns nicht. Aber – aus der Zeitung fliegt deswegen kein Beitrag!
WAZ-Geschäftsführer Christian Nienhaus in Erfurt am Dienstag bei der Verabschiedung von Martin Jaschke, der als Geschäftsführer zu den Stuttgarter Zeitungen wechselt, und zur Einführung von Inga Scholz, der neuen Sprecherin in der Geschäftsführung der Zeitungsgruppe Thüringen (u.a. TA, OTZ, TLZ) und der ersten Frau an der ZGT-Spitze
(zu: Handbuch-Kapitel 49 Wie Journalisten entscheiden sollten)
Anton Sahlenders Kommentar via Facebook:
Das gilt nicht nur bei der WAZ. Und sie haben es wohl immer schon getan, die Politiker, überall. Entscheidend ist, wie man in Medien damit umgeht. Und da könnte es beim ZDF eine Art Notwehrreaktion gegeben haben.
Wie Politiker in Thüringen auf Journalisten Einfluss nehmen – oder: Je absoluter die Mehrheit, desto rüder der Versuch
Die Mächtigen in Thüringen waren auch nicht besser als die Bayerns, schreibt Hans Hoffmeister, Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung (TLZ), in seinen Erinnerungen, die er am Sonnabend in seiner Zeitung veröffentlicht hat (27.10.2012): „Je absoluter die Mehrheit, desto rüder der Versuch politischer Einflussnahme“. Er schreibt:
Mit mir haben sie in mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten als Chefredakteur in Thüringen (fast) alles versucht, um von Fall zu Fall ihr Ziel zu erreichen. Es war nie ein Spiel, es war immer ein Machtkampf.“
Einzigartig dürfte sein: Hans Hoffmeister hat über die Einflussnahmen nicht nur an journalistischen Stammtischen erzählt, sondern immer auch in seiner Zeitung – „weil wir das auch für eine gute Prävention hielten.“
Er weist darauf hin, dass solche Einflussnahmen nach der friedlichen Revolution in Thüringen umso schwerer wogen: „Die Pressefreiheit war essenzielle Forderung der friedlichen Revolution hier zu Lande. Wer davor keinen Respekt hat, muss Konsequenzen ziehen.“
Hoffmeister zählt das Arsenal der Beeinflussung detailliert auf:
Organisieren von Nähe, bei Nichterfolg Abstrafen, diskriminierende Platzierung bei Tisch – nämlich am Rande -, verweigertes Handgeben, Nichtzuteilung des Wortes in Konferenzen, Ausspielen gegen andere Kollegen, Herbeizitieren und künstliches Aufregen über missliebige Kommentare, Wettbewerbstitel bevorzugt behandeln, Schmorenlassen in Missachtung, dann plötzlich Aufheben des Bannes mit unvermittelt freundlichen Briefen und geneigter Zuwendung – und das Spiel ging von vorne los.
In seinem Essay nennt Hoffmeister ein knappes Dutzend Namen quer durch alle Parteien, er berichtet von Pressesprechern bei Ministerpräsident Vogel, „durchtrieben“ und „ungeniert“; vom Versuch, seine Entlassung zu betreiben. Er berichtet vom stellvertretenden Ministerpräsidenten und seiner „brutalen Einflussnahme“; von einem Ex-Wirtschaftsminister, der mit einer Abbestellungswelle drohte, wenn nicht positive Artikel kurz vor der Wahl erschienen.
Positiv sieht Hoffmeister den aktuellen Regierungssprecher Zimmermann: „Regierungssprecher empfinden sich heute als professionelle Serviceeinheit für Journalisten.“
Der komplette Hoffmeister-Essay aus der TLZ (unredigiert):
Weimar. So etwas wie in Bayern gab’s in Thüringen auch. Nicht anders als in manchem anderen Bundesland. Je absoluter die Mehrheit, desto rüder versuchen Regierende politisch Einfluss auf journalistische Inhalte und damit auf Redaktionsspitzen zu nehmen. Mit mir haben sie in mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten als Chefredakteur in Thüringen (fast) alles versucht, um von Fall zu Fall ihr Ziel zu erreichen.
Wir haben im Laufe der Jahre im Blatt immer mal recht offen darüber berichtet – in Rückblicken -, weil wir das auch für eine gute Prävention hielten.
Organisieren von Nähe, bei Nichterfolg Abstrafen, diskriminierende Platzierung bei Tisch – nämlich am Rande -, verweigertes Handgeben, Nichtzuteilung des Wortes in Konferenzen, Ausspielen gegen andere Kollegen, Herbeizitieren und künstliches Aufregen über missliebige Kommentare, Wettbewerbstitel bevorzugt behandeln, Schmorenlassen in Missachtung, dann plötzlich Aufheben des Bannes mit unvermittelt freundlichen Briefen und geneigter Zuwendung – und das Spiel ging von vorne los. Nur dass es leider kein Spiel war. Es war ein Machtkampf.
Das war früher. Und man dachte, das ist vorbei. Dass der Sprecher des CSU-Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten – wie jetzt in Bayern – eine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt ungeniert, offen und öffentlich sogar per SMS, also doch vermutlich nachweisbar, auffordert, über einen SPD-Landesparteitag am Abend der Veranstaltung möglichst überhaupt nicht zu berichten, das hatte man noch nicht erlebt.
Obwohl: Der Thüringer Regierungssprecher Hans Kaiser hat unter Bernhard Vogel immer besonders gern beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen und beim öffentlich-rechtlichen Hörfunk, aber auch beim Privatfunk, natürlich auch bei den Zeitungen, seine Spielchen derart durchtrieben versucht, dass er schließlich fast nur noch nach eigenem Gusto handelte und sich selbst gefangen nahm, wie jetzt der Typ in Bayern.
Schließlich kegelte Vogels Nachfolger Dieter Althaus nach der Wahl den mittlerweile zum Staatssekretär Beförderten einfach raus aus dem Team. Sogar Vogel baute ihm in seiner Adenauer-Stiftung kein Rettungsboot an seiner Seite, sondern Kaiser musste zusehen, wie er weit weg versetzt wurde – nach Taschkent. Mittlerweile leckt er seit Jahren in Budapest seine Wunden.
Brutale Versuche
sind nicht an eine
Partei gebunden
Nachfolger Hermann Binkert, Althaus Grundsatzreferent, später auch Staatssekretär, machte das dann genauso bei seinem Chef. Er indoktrinierte ihn selbst sehr erfolgreich und verpasste ihm eine Art Gehirnwäsche. Die folgenden politischen Dramen etwa um einen Thüringer Kulturkahlschlag, die vermeintliche Familienoffensive mit gekürzten Horten und vieles mehr waren die Folgen. Binkert versuchte ungeniert, auch auf journalistische Inhalte Einfluss zu nehmen, wenn dies probat erschien – aber nicht so ungeniert wie Kaiser das tat. Die TLZ kann ein Lied davon singen.
Es endete im TLZ-Fall, von Binkert vermeintlich clever eingefädelt, mit einer Nähe zur Verlegerin eines großen (anderen) Zeitungshauses und der Idee, über diese Brücke dessen ehemaligen Geschäftsführer, mittlerweile höchster Chef unserer WAZ-Mediengruppe, somit auch der TLZ, zu nötigen, mich abzulösen. Der so von Althaus direkt Angesprochene lächelte nur und verwies den Ministerpräsident auf sich selbst zurück. Wie auch anders?
Was Binkert nicht hindern sollte, im Tollen Thüringen, einer millionenfach verbreiteten, undurchsichtig finanzierten Wahlkampf-Illustrierten, für Dieter Althaus brutal direkt und öffentlich über meine Gesundheit Gerüchte zu verbreiten. So etwas ist in Deutschland strafbar. Ich habe keine Anzeige erstattet. Doch ein Sturm im Blätterwald folgte: Von der Mitteldeutschen bis zur Badischen Zeitung reichte die solidarische Entrüstung, auch im Presseecho der WAZ-Gruppe reportiert. Binkert und Althaus waren gescheitert. Ihr politisches Ende folgte alsbald.
Aber das gibt’s nicht nur bei der CDU. Thüringens Vize-Ministerpräsident Christoph Matschie (SPD) hat brutale Einflussnahme, einfach so, weil er in Not war, bei der TLZ auch versucht – im Zuge der Seemann-Affäre. Und das liegt noch nicht lange zurück.
Auch von der Nachwende-FDP haben wir solche Versuche erlebt. Der einstige Wirtschaftsminister Jürgen Bohn drohte zwei Tage vor der Wahl TLZ-Vize Hartmut Kaczmarek, wenn er nicht sofort dieses und jenes schreibe, werde er für 30 Abbestellungen sorgen. Während aus der Erfurter CDU der Wink Richtung TLZ kam: Der Chefredakteur schädigt mit seiner Weimarerei den Wirtschaftsstandort Erfurt. Man wollte die Berichterstattung und Kommentierung über die geplante Zwangsfusion zwischen DNT und der neuen Oper unterbinden.
Missliebige
Kommentare
abgeheftet
Es gab auch schwere Verstöße anderer Art: Der FDP-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Andreas Kniepert, glaubte in den Anfängen, mit dem ersten Privatsender Antenne Thüringen ein quasi leibeigenes Medium zu haben. Sein Kollege von der CDU, Jörg Schwäblein, versuchte sogar, bei einem kleinen CDU-Parteitag am Rande der Vereinigungsfeiern in Hamburg eine öffentliche-rechtliche Zeitung zu beschließen. Etwas später machte Bernhard Vogel diesen Überlegungen den Garaus.
Vize-Ministerpräsident Gerd Schuchardt (SPD) sammelte kritische TLZ-Kommentare, um diese, geheftet mit einer Büroklammer, an den WAZ-Gruppengeschäftsführer zu schicken. Daran hinderte ihn der Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung, Werner Rechmann. Der WAZ-Gruppengeschäftsführer riet in solchen Lagen dem TLZ-Chefredakteur, egal wie der Fall lag: „Behaupten Sie sich!“ Ein ähnlicher Versuch der Abgeordneten Vera Lengsfeld (CDU) scheiterte analog.
Auch andernorts gab’s so etwas. Und manchmal kam es raus – im Nachhinein. Ein namhafter Thüringer Fernsehchef etwa wurde von Oskar Lafontaine (SPD) zu dessen MP-Zeiten in Saarbrücken direkt genötigt. Sinngemäß: Ich hab es dir doch gesagt, dass du das so und nicht anders drucken sollst; und jetzt hast du’s wieder nicht gemacht! –
Das konnte der Journalist auch als Drohung empfinden. Es hat den Mann fast „umgebracht“ – so sehr hat ihm das zu schaffen gemacht. Der Journalist hat’s später mal beim Bier erzählt.
Mittlerweile – so dachte man – gibt’s so was jedenfalls in Thüringen nicht mehr. Bernhard Vogel ist lange weg und führt nur noch Anerkennungskämpfchen vor für sich selbst. Dabei hat die Geschichte längst geurteilt. Nicht mal Ehrenbürger von Erfurt darf er werden. Diese äußerste Anerkennung wird ihm in seiner Sammlung von Ehrungen schmerzlich fehlen. Das ist nicht peinlich, das ist gerecht. Peinlich ist nur sein ewiges Nachdrehen mit rückwirkender Geschichtsklitterung.
Die großen Essen mit Chefredakteuren samt Gängelei und Balzerei im Gästehaus der Landesregierung hat – auf TLZ-Betreiben – schon Althaus abgeschafft. Und solche Gästehäuser gibt es auch nicht mehr.
Sprecher sind
jetzt vor allem
Dienstleister
Solche Regierungssprecher wie Hans Kaiser gibt es schon gar nicht mehr. Regierungssprecher empfinden sich heute als professionelle Serviceeinheit für Journalisten. Nur in Bayern hat sich das noch nicht rumgesprochen. Man erschrickt über solche späte Auswüchse.
Horst Seehofer, der offenbar wegen der Affäre nicht am derzeitigen MP-Treffen in Thüringen teilnimmt, trat am Donnerstagabend sehr nervös, verlegen, mit rotem Kopf vor die Kameras und stammelte. Hatte er doch soeben noch zum Thema Medien Offenheit verkündet und den Spruch abgelassen, dass wir heute nicht mehr in Herrschaftszeiten leben…
Seehofer suchte nach Ausreden. Und er fand sie nicht. Statt klar zu sagen: Ich entschuldige mich beim ZDF und vor der gesamten deutschen Öffentlichkeit für diese Fehlleistung meines Sprechers. – So löst man solche Krisen. Seehofer war gerade in seinen Umfragen endlich mal auf einen Baum geklettert, und es herrschte eine gewisse Entspannung in der Koalition in Berlin aus CDU/CSU und FDP. Jetzt ist er wieder runtergefallen. Aus eigener Schuld.
Dabei ist er selbst ein Profi aus der alten Garde – nicht anders als Vogel und – wie man sieht – nicht anders in der Rolle gefärbt. Jetzt kriegt er die Zähne nicht auseinander zu drei einfachen deutschen Hauptsätzen: „Das war Mist. Es tut mir leid. Es wird nie wieder vorkommen.“
Die Presse ist frei – Punkt. So steht’s im Gesetz. Ihre Freiheit war essenzielle Forderung der friedlichen Revolution hier zu Lande. Wer davor keinen Respekt hat, muss Konsequenzen ziehen. Das weiß man eigentlich in der Bundesrepublik seit der Spiegel-Affäre mit Franz-Josef Strauß. Sie liegt gerade 50 Jahre zurück, wie die TLZ berichtete.
Das beruhigende an solchen Affären ist, dass die schlimmsten herauskommen. So auch hier. Das belegt: Die Demokratie ist – doch – intakt.
Zeitungen müssen ein Markenartikel der Demokratie bleiben
In einer Demokratie ist nichts wertvoller als der Journalismus – aber ein Journalismus, der recherchiert, was die Mächtigen planen und im Verborgenen tun; der die Bürger ernst nimmt, ihre Interessen und Bedürfnisse kennt und für sie Wichtiges vom Unwichtigen trennt; der viele Meinungen anbietet, auch Querdenkern das Wort gibt, der Debatten anstößt und führt.
Ein Beitrag für die Serie „Zukunft des Qualitätsjournalismus: Was ist uns Journalismus wert?“ von dapd, erschienen unter anderem im Echo (Darmstadt) und http://www.nibelungen-kurier.de/?t=news&s=Aus%20(Worms)
(zu: Handbuch-Kapitel 57 Wie können Zeitungen überleben + 48-49 Wie Journalisten entscheiden (sollten) + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)
Die Brandeins-Affäre: Fatale Folgen für den Presserat?
Was ist nur mit dem Presserat los? Er schweigt nun schon in der dritten Woche zu seiner Rüge gegen das Wirtschaftsmagazin Brand Eins, veröffentlicht nicht die Begründung für die Rüge, deren kryptische Kurzfassung in einer Presseerklärung von Brand Eins beanstandet und vom Gericht in einer Verfügung einstweilig verboten wurde.
Haben die Journalisten im Presserat ihre Rüge nicht ausreichend bedacht und sicher begründet? Haben nun die Juristen den Fall übernommen und basteln an einer Fassung, die vor Gericht Bestand haben kann?
So verständlich die Anrufung des Gerichts durch Brand Eins ist, so fatal könnte die Wirkung für den Presserat sein – der eben kein Gericht ist, sondern eine moralische Instanz, die jenseits von juristischen Händeln die Freiheit der Presse wahrt und Journalisten helfen soll, „ihre publizistische Aufgabe fair, nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen“ wahrzunehmen (Präambel Pressekodex).
Deshalb: Gebt den Juristen nicht die Führung im Presserat! Gebt den Gerügten und Beschuldigten die Chance, sich zu wehren – wie es in einem Rechtsstaat üblich ist und notwendig!
- Wenn der Presserat keine Beschwerden möglich macht gegen Rügen und Missbilligungen,
- wenn der Presserat nicht transparenter in seinem Verfahren und seinen Entscheidungen wird,dann werden Juristen und Gerichte immer öfter eingreifen und den Presserat zum zahnlosen Tiger machen, der er nicht ist.
Gerade der Eifer, mit dem Brand Eins um seinen Ruf kämpft, zeigt deutlich, dass der Presserat unter Journalisten ernst genommen wird und die erste moralische Instanz ist. In den Kommentaren zu meinem Blogeintrag wird der Presserat als „zahnloser Tiger“ bezeichnet (mikerolli), als eine lahme Instanz (Tom Stein), die nicht ernst genommen werden kann und dessen Rügen keine Wirkung zeigen (Aphager).
Dabei hadern die Kommentatoren weniger mit Brand Eins als mit Bild: Wenn der Presserat das Boulevard-Blatt nicht zähmen konnte, dann kann er nur wirkungslos sein. Dabei erzielt der Presserat gerade bei Bild eine erstaunliche Wirkung, zumindest beschäftigt sich die Bild-Redaktion immer wieder ausführlich mit den Entscheidungen des Presserat:
- Sie jubelt über die Ablehnung von Beschwerden („Bild darf weiter über Skandal-Minister berichten“ oder „Nordkorea scheitert mit Beschwerde gegen Bild“),
- sie wehrt sich im Blatt gegen Entscheidungen („Diesen Entführer soll Bild nicht mehr zeigen dürfen“);
- sie fordert den Presserat auf, mutig zu sein („Schlafe ruhig, Deutscher Presserat!“)
Bild bringt den Presserat in seine Schlagzeilen, veröffentlicht Rügen: Das passt nicht zum zahnlosen Tiger. Reue zeigt Bild zwar selten, streut sich keine Asche aufs Haupt, aber Bild bringt die Entscheidungen des Presserats in die Diskussion – wenn auch mit den Mitteln des Boulevards -, provoziert ein Nachdenken der Bild-Leser über Journalismus, seine Grenzen und seine Gefährdungen.
(zu: Handbuch-Kapitel 48-50 Presserecht und Ethik + 51 Wie man in der PR arbeitet)
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