Alle Artikel der Rubrik "Presserecht & Ethik"

Tatort bedient sich bei Hajo Friedrichs „Gute Sache“-Regel

Geschrieben am 26. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Polizist darf sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten.

sagt Kommissarin Lena Odenthal, gespielt von Ulrike Folkerts, im Tatort „Roomservice“ (22. Mai 2015). Der Satz stammt von Hanns Joachim Friedrichs, ist einer der meistzitierten und umstrittensten der journalistischen Ethik und steht im Handbuch des Journalismus am Ende des Kapitels „Viele Journalisten manipulieren“:

Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.

FACEBOOK Kommentare

Anton Sahlender, 26. Mai um 09:48

Diesen Satz beliebt ohnehin jeder längst so zu interpretieren, wie es ihm gerade in den Kram passt …

Der beste Brathähnchen-Blogger und die Mail-Liste des Grauens (Zitat der Woche)

Geschrieben am 19. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

In unserer agenturinternen Liste der besten Brathähnchenblogger bist Du auf jeden Fall ganz oben… Wir haben aus 1.000 internationalen Brathähnchenblogs im letzten halben Jahr nach Sichtung sämtlicher Artikel 50 ausgewählt, gewichtet und ein Ranking erstellt.

So beginnt eine Mail an den Blogger Maximilian Buddenbohm. In kress.de schreibt er, wie lieblos PR-Redakteure mit Bloggern umgehen und erstellt eine „dreiste Liste des Mail-Grauens“ (hier gekürzt):

1. Wirre Textbausteine, die nicht zusammen passen.
2. Rechtschreibfehler in beliebiger Häufung.
3. Einen Bezug auf irgendeinen Artikel, in dem man einmal irgendein Stichwort erwähnt hat.
4. Das Vortäuschen intimer Kenntnis des Blogs: „Wir lesen seit Jahren…“.
5. Den sofort folgenden Beweis, dass das Blog höchstens zwei Sekunden angesehen wurde: „Es ist schon eine Leistung, jahrelang auf diesem hohen Niveau über Brathähnchen zu bloggen!“
6. Eine abwegige Unterstellung: „Du als Imbissbudenbesitzer…“
7. Einen Vorschlag für etwas, das aus unerfindlichen Gründen Kooperation genannt wird: „Wir möchten gerne einen Artikel über Brathähnchengewürz auf Deiner Seite platzieren.“ Einfach so.
8. Die Ankündigung, dass keine Gegenleistung erbracht werden kann: „Ein Honorar ist hierbei leider nicht vorgesehen.“ Oder: „Wir können Dir als Ausgleich einen Gutschein über drei Dosen Hundefutter anbieten.“
9. Die Unterstellung, dass man als Blogger etwas von solchen Kooperationen hat: „Wir liefern Dir frischen Brathähnchen-Content, Du hast dadurch dann deutlich mehr Traffic.“
10. Wenn keine Artikelplatzierung gesucht wird, geht es um das Verlangen, bestimmte Stichworte in einem Text unterzubringen. Der Begriff ist dann eine Marke, und man liest mit Staunen – es ist gar keine so kleine Marke.

Ein Mord ist keine Hinrichtung – Der Kampf um Worte und der Terrorismus (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 30. April 2015 von Paul-Josef Raue.
„Mediendialog“ über Terrorismus und Journalismus in  München: Juri Durkot, ein Journalist aus Lemberg in der Ukraine, erzählt von Manipulationen und Verschwörungs-Theorien; von Redakteuren, die auf Todeslisten stehen; von inszenierten Video-Morden oder wirklichen; von Reportern aus dem Westen des Landes, die nicht mehr im Osten arbeiten dürfen, und lokalen Reportern im Osten, die nur schreiben können, wenn sie sich der Propaganda unterwerfen.
Und er berichtet vom Kampf um Worte:
> Das russische Staatsfernsehen spricht von der „Bürgerwehr“, die den Donbass beherrscht, das Donez-Kohlebecken im Osten.
> Deutsche Zeitungen bevorzugen „Rebellen“: Ein romantischer Begriff, der zudem besser auf einen kleinen Kreis von Kämpfern passte statt für eine gerüstete Armee.
> Andere schreiben von „Separatisten“: Ein meist positiv besetzter Begriff, den wir auch für Katalanen und Schotten nehmen.
Wechseln wir den Schauplatz:  Terroristen, beispielsweise in Arabien, kämpfen nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Wir fallen darauf  rein, wenn wir eine Mörderbande wie  „IS“ einen „Staat“ nennen, einen Mord eine „Hinrichtung“, einen Mörder einen „Henker“ und eine Serie von Morden „Kriegsverbrechen“, die vor den Internationalen Gerichtshof gehört.
Moderne Terroristen foltern und töten wie im Mittelalter, aber nutzen souverän das Internet samt sozialen Netzwerken für ihre Propaganda – und nicht selten Journalisten, die ihre Wörter übernehmen und kruden Botschaften verbreiten.
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Thüringer Allgemeine,  4. Mai 2015

Ein rechter Leserbrief und seine Folgen: Wie viel Meinung verträgt das Volk?

Geschrieben am 23. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Dieser Brief einer Leserin stand in der TA (Thüringer Allgemeine):

Auch meine Großeltern kamen mit meinen Eltern aus dem damaligen Züllichau als Flüchtlinge nach Deutschland. Man sollte aber hier nicht unerwähnt lassen, dass diese Menschen alles zurück lassen mussten (die Betonung liegt auf mussten), weil der Krieg vor der Tür stand. Die heutigen Asylanten kommen zu 90 Prozent in ein angebliches Schlaraffenland.

Hier ist unsere Regierung gefordert, endlich mal konkrete Gesetze zu schaffen und ein bisschen genauer zu schauen, wer hier bleiben darf. Und auch wenn es vielleicht rassistisch rüberkommt, damals kamen Deutsche zu Deutschen und das Volk wurde nicht mit fremden Kulturen vermischt, welche noch dazu nicht bereit sind, sich unserem Leben anzupassen.

Unsere Eltern waren froh und dankbar für ein Dach über dem Kopf, ein Stück Brot und Wasser zum Trinken. Und heute? Asylanten ziehen vor die Behörden und demonstrieren, beschweren sich über dies und jenes, führen Prozesse, ob Kopftuch oder nicht. Dies in einem Land, wo sie eigentlich vorerst nur Gast sind. Wenn diese Menschen sich mehr einordnen würden, wären sie sicher auch hier willkommen.

> Darauf reagierte ein Leser:

Sehr geehrte Redakteure, da ist ihnen wohl wieder einmal etwas durchgerutscht? Könnte man, wenn man so etwas veröffentlicht, nicht wenigstens ein paar erläuternde Sätze der Redaktion hinzufügen? Die Presse wird ihrer Verantwortung nicht gerecht.

> Das ist die Antwort des Chefredakteurs in einem Brief an den Leser:

Ich schicke voraus: Die Meinung der Leserin ist nicht meine Meinung, und sie bewegt sich am Rand dessen, was man als diskussionswürdig erachten kann. Aber sie beleidigt nicht, verletzt keine Gesetze.

Warum drucken wir ab und an auch solche Briefe? Die Meinungen von Menschen verschwinden nicht dadurch, dass man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Am Ende kommt sonst Pegida oder Ähnliches heraus, und alle sind überrascht, irritiert und fordern, man sollte unbedingt mit den Menschen reden, die so denken. Wir halten es für zweckmäßiger, immer mit den Menschen zu reden, sie so zu nehmen, wie sie sind, und nicht auszugrenzen. Wir folgen Kant: Der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt, dass nicht gerade wachsen kann.

Deshalb sind wir überzeugte Demokraten: Wir machen uns den Menschen nicht besser, als er ist. In einer Demokratie leben auch keine besseren Menschen, aber wir passen auf, dass sich das Böse und der Böse nicht unkontrolliert austoben kann,

Warum fügen wir nicht ein paar erläuternde Sätze hinzu? Die Meinung der Redaktion zu Flüchtlingen ist hinlänglich bekannt durch Leitartikel, Kommentare, Aktionen, Diskussionen usw. Es dürfte nicht möglich sein, unsere liberale Sicht auf die Flüchtlings-Debatte zu ignorieren. Wir erläutern also unentwegt – und sind bisweilen erstaunt, welche Meinungen Leser haben, die seit Jahren unsere Zeitung lesen (wobei wir auch die Briefe lesen müssen, die nicht gedruckt werden können).

Die Leser-Seite ist nun – aus gutem Grund – die Seite der Leser, in der eben nicht alles von der Redaktion kommentiert wird. Bisweilen entstehen jedoch Debatten unter Lesern auf dieser Seite: Davon hätten wir gerne mehr.

Kurzum: Unsere Leser-Seite ist vergleichbar der Hyde-Park-Corner in London, im Mutterland der Demokratie. Da stehen auch die guten Menschen nicht in der Nähe und kommentieren alle und jeden. Die einzige Ausnahme in der TA ist das „Leser fragen“ am Sonnabend, in dem der Chefredakteur auf Fragen und auf Kritik von Lesern antwortet. Fast jedes Mal bekomme ich Briefe und Mails, in denen mir oberlehrerhaftes Verhalten vorgeworfen wird. Die meisten Erwachsenen mögen das nicht, was sie als „Belehrung“ empfinden.

In der Hoffnung, dass Sie sich nicht dazu zählen, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen

Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen

Geschrieben am 22. April 2015 von Paul-Josef Raue.

„Absurd“ nennt  FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525.  „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.

Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?

Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:

Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.

Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:

Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.

Aber wie sollen  wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:

Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.

(W&V 16.4.)

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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik

Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?

Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:

Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.

Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen  für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“

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Hatte der Co-Pilot gute Absichten? 

Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.

Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“

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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter

Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook: 

Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.

Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich? 

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BILD und der Absturz

Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur  Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:

Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß

Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte. 

Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.

Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts

Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs. 

Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte

Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.

Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht

Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht. 

 Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte. 

Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch

Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.

Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen

Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit. 

Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen

Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.

Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen

Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.

Ethik nach dem Absturz (3): Zu viel Rechthaberei, zu wenig Aufklärung?

Geschrieben am 19. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Warum wahren  Journalisten  in ihren ureigenen Debatten nur so schwer die Distanz,  die zum Handwerk gehören sollte? Warum dominiert Rechthaberei? Verteufelung von Argumenten, die nicht die eigenen sind?

Ein Beispiel: Michael Hanfeld (miha) schreibt in der  FAZ einen kurzen Text zu der Ethik-Debatte nach dem Absturz und entdeckt in Sendungen der ARD  „eine moralische Besserstellung“ – weil sie  den Namen des Kopiloten nicht nennt.  Aber auch er holt die moralische Keule heraus: „Die Öffentlich-Rechtlichen sind ja gern immer die Guten“, die Sondersendungen nach dem Absturz seien „ekelerregend“, und er entdeckt bei der ARD „Journalismus-Gefühlsduselei“.

Hanfeld kritisiert die Haltung von Journalisten, „die selbst bei einer solchen Gelegenheit nur von sich selbst berichten können“ – und zeigt nicht, wie er es besser machen würde. So geht seine Frage unter, die nachdenkenswert ist: „Wer den mehr als mutmaßlichen Täter anonymisiert, verhöhnt die Opfer. Die zwingendste Trennung geht unter – diejenige zwischen Täter und Opfern.“ (FAZ, 18. April).

Die Debatte dreht sich nicht allein um Namens-Nennungen, sei es von Kopilot oder Opfern, auch nicht um die Fotos, die gezeigt werden dürfen, sondern auch um den Umgang mit den Lesern: Was dürfen wir ihnen zutrauen? Wieviel Informationen dürfen sie bekommen? Wieviel Urteil überlassen wir ihnen? Wo endet die Nachricht? Wo beginnt die Sensation? Was ist „unangemessen“?

Verstecken wir unter dem Deckmantel der Ethik nicht ein feudales Verständnis: Wir, die Journalisten, da oben sagen dem Volk, was es wissen darf und anschließend, was und wie es zu denken hat? Zielt Aufklärung nicht auf den denkenden Menschen, der zum eigenen Urteil fähig ist?

Das sind grundsätzliche Fragen, die stets bei einem überwältigenden Thema – sei es die Love Parade, sei es der Flugzeug-Absturz – auftauchen, aber zu oft in Rechtfertigungen und Rechthaberei untergehen.

Das sind die Fragen, die der Presserat Anfang Juni beantworten will; ihm liegen 430 Beschwerden gegen die Berichterstattung über den Absturz von  4U9525 vor – so viele wie noch nie zu einem Thema:

> Durfte über den Co-Piloten identifizierend berichtet werden?
> War die Veröffentlichung von Opferfotos und Opfergalerien angemessen?
> Mussten die Angehörigen von Co-Pilot und Opfern geschützt werden?
> War die Berichterstattung  unangemessen sensationell?
> Gab es  Vorverurteilungen?
> Ist das Ansehen der Presse beschädigt worden?

Auf seiner Internet-Seite hat der Presserat allerdings schon kurz nach dem Absturz darauf hingewiesen: „Opferschutz hat Vorrang“ und an die Richtlinie 8.1 des Pressekodex erinnert: 

Opfer haben einen Anspruch auf den besonderen Schutz ihrer Identität, denn für das Verständnis des Geschehens ist das Wissen darüber in der Regel unerheblich. Als zufällige Opfer eines Unglücks werden die Verstorbenen auch nicht automatisch zu Personen von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Der Schutz ihrer Persönlichkeit überwiegt daher regelmäßig das öffentliche Interesse. Auch die Angehörigen haben ein Recht auf Privatsphäre.

Medien-Ethik nach dem Absturz (2): Persönlichkeitsrechte gegen „Person der Zeitgeschichte“

Geschrieben am 17. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ins Zentrum der Debatten nach dem Airbus-Absturz drängte sich schnell die Frage: Durften und dürfen Medien den Namen des Copiloten nennen? Die Entscheidung, was richtig ist und was falsch, war offenbar schwer:

Auf der einen Seite steht das durch die ungeheuerliche Tragik und die schrille Warumfrage begründete öffentliche Interesse und auf der anderen Seite die auch durch berufskulturelle Regeln abgestützte Unschuldsvermutung und der Respekt vor der Privatsphäre der Angehörigen

sagt der Schweizer Professor Vinzens Wyss und folgert: „Das öffentliche Interesse muss in diesem Fall zurückstehen.“

Die Bandbreite der Einschätzungen gibt ausführlich eine Umfrage von Michèle Widmer bei persoenlich com wieder, die sechs Schweizer Journalisten und Medienethiker befragt hatte (hier in Auszügen, Überschriften von mir):

Persönlichkeitsrechte sind zu wahren
Tristan Brenn, Chefredakteur TV von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen): „Im Grundsatz gilt, dass Persönlichkeitsrechte und der Schutz der Privatsphäre, wenn immer möglich, zu wahren sind. Das gilt für Opfer wie auch für mutmassliche Täter und dient nicht zuletzt auch dem Schutz von Angehörigen. Im Fall des Co-Piloten von Germanwings sahen wir keine Veranlassung, von diesem Prinzip abzuweichen. Die relevanten Informationen sind nicht abhängig von der Identifizierung der Person mit Namen und Bild.“

Namensnennung besitzt keinen Mehrwert für das Publikum
Peter Bertschi, stellvertretender Chefredakteur Radio von SR, hatte angewiesen vom „28-jährigen Co-Piloten‘ zu sprechen. „Wir halten uns an unsere publizistischen Leitlinien, dass wir Namen von mutmaßlichen Tätern und Opfern ‚grundsätzlich nicht nennen‘, dass wir ganz allgemein bei SRF ‚bei der Namensnennung nicht vorangehen‘. Hinzu kam noch die Überlegung der Chefredaktion Radio SRF, dass das Schweizer Publikum erst recht keinen Mehrwert hat, wenn der Name genannt wird.“

Foto und Name helfen nicht bei der Antwort auf die Warumfrage
Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften):
„Weder der veröffentlichte Name noch das Bild helfen uns bei der Beantwortung der Warumfrage. Was ist dadurch gewonnen? Selbst wenn im Netz und bei einigen Medien der Name schon veröffentlicht wurde, bleibt der medienethische Entscheid immer auch eine Frage der Haltung der jeweiligen Redaktion. Der routinierte Verweis auf die Bekanntgabe durch den Staatsanwalt entbindet die Medien nicht vor der Pflicht, selbst eine Güterabwägung vorzunehmen. Unpassend finde ich den Versuch, das wie auch immer produzierte Publikum darüber abstimmen zu lassen.“

Im Alleingang ist der Name nicht zu schützen
Dominique Eigenmann, Nachrichtenchef Tages-Anzeiger (Zürich): „Der Tages-Anzeiger anonymisiert Personen. Beim Co-Piloten Andreas Lubitz ist dies objektiv nicht mehr möglich, seit der französische Staatsanwalt dessen Namen ausdrücklich genannt (und sogar buchstabiert) hat. Die angelsächsischen und lateinischen Medien nennen ihn seither alle namentlich, auch die meisten deutschen und Schweizer Zeitungen. Das hat für unsere Überlegungen hinsichtlich einer allfälligen Anonymisierung insofern eine Bedeutung, als wir als Medium die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen nicht im Alleingang zu schützen imstande sind.

Mitentscheidend ist die Nähe zum Geschehen
Weiter Dominique Eigenmann: „Wäre Lubitz Zürcher gewesen und hätte sich das Unglück in Zürich zugetragen, hätten wir seinen Namen, aus Rücksicht auf die Angehörigen, wahrscheinlich anonymisiert, selbst wenn ausländische Medien ihn längst genannt gehabt hätten.“

Massenmörder sind Personen der Zeitgeschichte
Und noch einmal Dominique Eigenmann: „Der rigorose Schutz vor Nennung gilt überdies ausdrücklich nicht für ‚Personen der Zeitgeschichte‘ – für den Massenmörder Anders Breivik etwa oder den 9/11-Attentäter Mohammed Atta. Etwa in diese Kategorie gehört unserer Meinung nach auch Andreas Lubitz, soviel war jedenfalls auf Anhieb absehbar. Deswegen haben wir gleich nach der Pressekonferenz von Marseille entschieden, online wie auch in der Zeitung den Co-Piloten beim Namen zu nennen“

Der Untersuchungsrichter hat das Opfer zum Täter gemacht und so zur Person der Zeitgeschichte
Peter Studer, Jurist und Autor über Medienrecht/Medienethik, ehemals Chefredakteur: „Der zuständige französische Untersuchungsrichter hatte präzis sowie mit Quellenangabe des Voice-Recorders über den Co-Piloten und seine Todesflugphase berichtet. Die Regierungschefs von Frankreich und Deutschland sowie die Spitzen der Lufthansa schienen diese Zuschreibung in ihren Statements zu übernehmen. Damit war der Co-Pilot – wie eine Redaktion folgerte – objektiv vom Opfer zum Täter geworden. Das persönliche Verschulden muss allerdings wegen Krankheitsverdacht – Zurechnungsfähigkeit? – offen bleiben. So oder so halte ich dafür, dass der Co-Pilot mit diesen amtlichen Schritten zur ‚Person der Zeitgeschichte‘ wurde und mit Namen genannt werden durfte.“

Kein Foto, kein Name – es sei denn der Täter sucht die Öffentlichkeit
Philipp Cueni, Chefredakteur EDITO +Klartext Medienmagazin und Dozent für Ethik an der Journalistenschule MAZ: „Dass zur Person des Piloten recherchiert worden ist, ist absolut in Ordnung. So kann man allenfalls klären, ob politische Hintergründe oder strukturelles Versagen beim Unglück, respektive bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Der Name und das Bild des Co-Piloten spielen in diesem Zusammenhang aber keine Rolle und bringen für die Öffentlichkeit auch keine Erkenntnis.
Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn ein Täter selber – zum Beispiel mit einem politischen Manifest wie im Fall Breivik – die Öffentlichkeit sucht.“

Ethik-Debatte nach dem Airbus-Absturz (1): Dürfen wir Trauernde bei der Trauerfeier zeigen?

Geschrieben am 17. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Was war richtig nach dem Absturz des German-Wings-Flugzeugs: Die Namen der Opfer zu nennen? Und ihre Fotos zu zeigen? Den Namen des Copiloten, der offenbar der Täter war? Mit oder ohne Bild? Die Bilder der Trauernden?

Selten war eine Debatte im Journalismus so erbittert – auch emotional geführt worden. Es ist Zeit für die erste Bilanz, wobei eines klar ist: Die Widersprüche bleiben, die perfekte Lösung wird es nicht geben.

Zum Beispiel: Die Bilder der Trauernden. Heute bei der Trauerfeier im Kölner Dom werden die Kameras auch auf die Angehörigen gerichtet sein, die wissen, dass die Kameras vor und im Dom stehen werden. Darf das Fernsehen berichten und in die Schar der Trauernden die Kamera richten? Dürfen Zeitungen Fotos mit Gesichtern der Trauernden zeigen? Oder nur das Foto des stets betroffenen Bundespräsidenten?

Ist die Frage, ob Trauernde gezeigt werden dürfen, auch eine Frage des Zeitpunkts? Sind die ersten Stunden und Tage reserviert für die persönliche Trauer – und die Zeit danach für die öffentliche Trauer?

Muss öffentliche Trauer überhaupt sein? Ist sie ein Zeichen der Solidarität oder des Voyeurismus?

Wir müssen die Freiheit im Netz viel stärker verteidigen (Zitat der Woche)

Geschrieben am 17. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Das Netz war nie ein Platz der Romantik. Es sollte aber nicht ein  Platz der Unfreiheit werden. Was mir derzeit große Sorgen bereitet: Das Vertrauen in das Netz, diesen großartigen Raum des Wissens und der Kommunikation, nimmt rapide ab… Wir müssen die Freiheit im Netz viel stärker verteidigen, rigoroser schützen, genauso wie die Freiheit in der analogen Existenz.

Mathias Müller von Blumencron, FAZ-Onlinechef, in W&V vom 16. April 2015

Fakten gegen Lügenpresse (4): Wie ein Chefredakteur Haltung zeigt

Geschrieben am 15. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Lügenpr

Die Ruhr-Nachrichten bringt auf einer Zeitungsseite die Fakten zur Flüchtlings-Debatte in Dortmund, zusammengetragen von Tobias Großekemper (Freitag, 10. April). Eine Leserin schickte die Seite an die Chefredaktion zurück mit zwei „Ergänzungen“:

1. „Lügenpresse“,
2. Zeitungsausschnitt einer Boulevard-Zeitung mit der Überschrift „Illegale Einreisen auf dem Höchststand“.

Wolfram Kiwit, Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten, berichtet darüber in seinem Blog und fasst die Grundhaltung seiner Zeitung knapp und eindeutig zusammen:

Versachlichen, gründlich recherchieren, Fakten sprechen lassen und nicht auf den Zug eines meist parteilichen Empörungs-Journalismus springen.

Kiwit in seinem Blog: „Wir machen einfach weiter.“

 

 

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