Der digitale Habitus und das Ende des Journalismus
Wenn alle mit allen kommunizieren können, dann brauchen wir in unserer Wirklichkeit keine Vermittler mehr, keine Parlamente, keine Politiker, keine Ausschüsse, keine klassischen Journalisten mehr. Das Netz wird zur ersten und einzigen Instanz, zum wahren öffentlichen Raum.
So verändert sich unser Denken, unser gesamtes Erscheinungsbild, unser Habitus. Es ist der Habitus des Menschen, der nur auf eine Taste drückt und sofort ein Ergebnis sehen will, eine Information erhalten oder eine Entscheidung herbeiführen.
Der Kulturwissenschaftler Byung-Chui Han, Professor an der Berliner Universität der Künste, hat den digitalen Habitus beschrieben:
- Der digitale Habitus lässt Dinge nicht zu, die langsam reifen müssen; was Zeit braucht, wird als intransparent wahrgenommen.
- Der digitale Habitus kann keine Zukunft gestalten, ist nur auf das Jetzt fokussiert.
- Zum digitalen Habitus gehören Ungeduld, Nicht-Warten-Können, die Unfähigkeit zur Langeweile (als eine Quelle der Kreativität).
- Zum digitalen Habitus gehören Unverbindlichkeit, Beliebigkeit und Kurzfristigkeit; es schwächt das Verantwortungsgefühl.
- Zum digitalen Habitus gehört die selbständige Produktion von Zeichen, unabhängig von der Qualität.
Wie verändert der digitale Habitus die Politik? Es gibt eine „Echtzeit- oder Präsenz-Politik“, es folgt die „Abschaffung der Repräsentation, also der politischen Repräsentanten, denn diese verursachen einen Zeit- und Informationsstau“. Dieser Habitus sei, so Byung-Chui Han, verantwortlich für die Krise der repräsentativen Demokratie.
Quelle: FAZ, 4. Oktober 2012 (Byung-Chui Han: Im Schwarm – Wir fingern heute nur noch, statt zu handeln. Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt. Das ist das Ende der Politik.)
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution)
Ohne seriösen Journalismus gerät unsere Demokratie ins Wanken (dapd-Interview 2)
Wie beurteilen Sie die Lage und vor allem die Zukunft der Zeitungsbranche? Ist der Untergang nahe?
fragt Ulrich Meyer, Redakteur der Nachrichtenagentur dapd. Raue antwortet:
Wir fahren nicht auf der Titanic! Wir kennen unser Schiff, das stabil gebaut ist und schon einige Orkane überstanden hat. Wir kennen die Eisberge, auch ihre gefährliche Schönheit unterhalb der Oberfläche. Aber wir sind Opfer unserer Lust auf Untergang, Tragödie und Katastrophe. Wir lieben das Wort „noch“: Noch gibt es die Zeitung! Noch greifen die meisten zur gedruckten Zeitung! Noch schätzen viele Menschen anspruchsvollen Journalismus! Noch gibt es uns Journalisten und noch nicht nur Blogger! Noch, noch, noch.
Wir haben aber allen Grund, selbstbewusst zu sein: Ohne seriösen Journalismus, ohne Hunderte von Lokalzeitungen, „Zeit“ und „Spiegel“, gerät unsere Demokratie ins Wanken.
Was uns Sorgen macht, ist das Geschäftsmodell. Der Zeitungsmarkt wird ein reiner Lesermarkt, das heißt: Die Leser müssen immer mehr für unabhängigen Journalismus bezahlen. Nur – begeistern wir die Leser mit unserer Untergangs-Sehnsucht? Rauben wir uns nicht viel Kraft, wenn wir jammern statt handeln?
(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“, darin Seite 26: Das Internet wirbelt die Märkte durcheinander)
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