Antwortet eine Redaktion auf den offenen Brief der NPD zur Pressefreiheit? Und wenn ja: Wie?
NPD-Landesvorsitzender Patrick Wieschke schreibt als „Leser und Demokrat“ einen offenen Brief an den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine über die Pressefreiheit. Unter anderem ist zu lesen:
Mit Sorge beobachte ich, daß die Pressefreiheit zunehmend mißbräuchlich verwendet wird. Durch das Grundgesetz ist nicht nur die Freiheit der Presse garantiert, sondern eben auch das Grundrecht auf Information (Art. 5) für alle Staatsbürger und das Recht auf freie Wahlen (Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 sowie Artikel 38 Abs. 1).
Dieses wird meines Erachtens dadurch unterlaufen, indem Journalisten nach rein subjektiven Einschätzungen und vielleicht auch privaten politischen Meinungen ihre Berichterstattung vornehmen.
Im laufenden Landtagswahlkampf gipfelt die Beeinträchtigung oben genannter Grundrechte darin, daß die von Ihnen verantwortete Thüringer Allgemeine eine eigene Einschätzung dergestalt vornimmt, welche Parteien „wichtig“ sind und folglich welche nicht.
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“:
Sehr geehrter Herr Wieschke,
unsere Zeitung stellt alle Parteien vor. Ausführlich werden Parteien mit ihren Programmen verglichen nach folgenden Kriterien:
> Mitglieder des aktuellen Landtags (CDU, Linke, SPD, FDP und Grüne)
> und die AfD als Partei, die nach den Umfragen gute Chancen hat, in den Landtag einzuziehen. Die anderen sechs Parteien, darunter die NPD, haben offensichtlich kaum Chancen.Gleichwohl können sich unsere Leser auch ausführlich in allen Partei-Programmen informieren. Der Wahl-O-Mat wird bald auf unserer Internet-Seite wieder Tausenden von Lesern die Chance geben, ihre eigenen politischen Anschauungen mit denen der Parteien in Thüringen – also auch der NPD – zu vergleichen.
Mit Verwunderung habe ich Ihre Belehrung zu Pressefreiheit gelesen. Pressefreiheit in einer Demokratie erlaubt, ja fordert und fördert sogar subjektive Einschätzungen.
Wenn Sie subjektive und private politische Meinungen als „Beeinträchtigung“ ansehen, wollen Sie faktisch die Pressefreiheit abschaffen. So verfahren Sie auch: Die NPD verhindert immer wieder Berichterstattung von ihren Parteitagen.
Sie bemühen als Feind unserer Verfassung die Pressefreiheit, um sie abzuschaffen – so wie sie es mit den meisten unserer Grundrechten tun wollen. Jeder Redakteur der TA dagegen schätzt und schützt unsere Verfassung. Wir werden nicht untätig zusehen, dass Sie dies verhindern wollen.
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Thüringer Allgemeine 9. August 2014
Sind Leserbrief-Schreiber eher unglückliche Menschen?
Ein Leser fragt sich: Bin ich ein unglücklicher Mensch? Er ist sich sicher: Nein! Er stellte diese Frage, als er am Sonnabend vor der Europa- und Kommunalwahl den Leitartikel in der Thüringer Allgemeine las, der so begann:
„Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.“
Der Leser aus Weimar macht sich seine Gedanken:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bürger, die gern Leserbriefe schreiben, Pessimisten und unglücklich sind. Ich schätze es sehr, wenn Menschen ihre politischen Standpunkte einer größeren Öffentlichkeit vorstellen und somit auch zur Diskussion anregen. Dazu gehören sicher Mut, Einfühlungsvermögen und Überzeugtheit.
Wenn dabei mitunter ein gewisses Maß an politischer Weitsicht fehlt, so ist doch ein hoher Grad an Vertrauen gegenüber der Zeitung zu erkennen.
Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, das mir nicht nur verfassungsmäßig Meinungsfreiheit garantiert, sondern diese auch in vieler Hinsicht fördert. Das ist gut so und kann noch besser werden, wenn die Gedanken der Bürger in Wort und Schrift eine gewisse Wirksamkeit erreichen.
So sehe ich in vielen „Leserbriefschreibern“ Optimisten, die an Veränderungen im positiven Sinne glauben und zum weiteren Nachdenken anregen. Wenn ich morgens meine „Thüringer Allgemeine“ aufschlage, interessieren mich zunächst die Meinungen meiner Mitbürger in ihren Leserbriefen, und wende mich dann intensiv den Kommentaren zu.
Natürlich sehne auch ich mich in der Zeitung nach mehr Beiträgen, die Optimismus und auch Freude ausstrahlen.
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Ihr Brief beschämt mich. Ich bin offenbar zu sehr von uns Redakteuren ausgegangen:
Wir sehen, oft notgedrungen, die dunklen Seiten der Welt. Wir decken auf, wenn die Mächtigen übermütig werden, und schreiben selten nur, dass sie – wie die meisten Menschen – ihre Arbeit anständig erledigen. Es ist wie beim Klempner: Er kommt, wenn der Wasserhahn tropft – und nicht, wenn alles in Ordnung ist.
Uns irritiert schon, dass unsere Recherchen in vielen Leserbriefen zu Verdruss, Verdrossenheit und Pessimismus führen – statt zu der Meinung: Gut, dass wir in einem Land leben, in dem Redakteure den Mächtigen auf die Finger klopfen und in dem sich vieles ändern kann.
Sie haben uns überzeugt, dass Leserbriefschreiber eigentlich optimistisch sind. Wir stellen uns nun den Leserbriefschreiber als einen glücklichen Menschen vor.
Thüringer Allgemeine 7. Juni 2014
Der Leitartikel vom 24. Mai, auf den sich der Leser bezieht:
Vertreibung aus dem Paradies
Geht es uns gut? Darauf gibt es keine Antwort, welche die meisten akzeptieren könnten: Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.
Was wir eher akzeptieren, ist der Vergleich: Geht es uns besser? Wenn die Menschen in der DDR Westfernsehen schauten, fiel der Vergleich leicht: Denen drüben geht es besser – größere Autos, schönere Reisen und freie Wahlen.
Und heute? Uns Deutschen geht es besser als den meisten in Europa: Unser Wohlstand, viele Arbeitsplätze, offene Grenzen – und vor allem ein fast siebzigjähriger Frieden waren vor einigen Generationen noch ein Traum, der als unerfüllbar galt.
Uns Thüringern geht es besser als den meisten im Osten und sogar als vielen im Westen: Auch bei uns ist ein Traum wahr geworden. Einspruch!, rufen viele. Was läuft nicht alles schief – und sie präsentieren eine lange Liste des Schreckens von den niedrigen Renten bis zum Regelungseifer in Brüssel.
Doch ein Denken und Reden, das nur Schwarz-Weiß und Gut-Böse kennt, macht uns das Leben schwer. Wir sind aus dem Paradies vertrieben und werden es niemals wieder erreichen. Aber wir können dafür sorgen, dass es besser für uns wird – in unserem Dorf, in unserer Stadt, im Kreis und in Europa.
Die Demokratie hat viele Mängel, aber sie ist die einzige Form des Zusammenlebens, in der jeder über seine Zukunft, die seiner Kinder und der Gesellschaft mitreden und mitentscheiden kann. Geht er nicht zur Wahl, entscheiden andere über ihn. Wer will das schon?
Wie intensiv soll eine Zeitung über den NPD-Wahlkampf berichten? (Leser fragen)
„Wo waren Sie, als der berüchtigte Thorsten Heise auf dem zentralen Obermarkt der Stadt Mühlhausen auf Stimmenfang ging?“, fragt eine Leserin den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine und bedauert, dass – obwohl durch Bürger informiert – „niemand zur Berichterstattung erschienen ist“.
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue:
Wir wussten in der Tat, dass die NPD praktisch vor den Türen unserer Lokalredaktion Wahlkampf führte. Aber wir haben bewusst auf eine Berichterstattung verzichtet – aus drei Gründen:
1. Eine Fülle von Parteien und Wählervereinigungen trat zu den Wahlen am 25. Mai an. Wir haben alle kurz vorgestellt, auch die NPD und ihre Kandidaten. Dies ist in der Redaktion durchaus umstritten, aber unser Pressekodex, die Berufsethik der Journalisten, mahnt gleich in Ziffer 1 „zur wahrhaften Unterrichtung der Öffentlichkeit“ und noch konkreter in einer Richtlinie:
„Zur wahrhaften Unterrichtung der Öffentlichkeit gehört, dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet,die sie selbst nicht teilt.“
Dies bedeutet aber nicht, dass wir über jeden Auftritt einer Splitterpartei berichten müssen.
2. Wir haben niemals zuvor so intensiv über eine Wahl berichtet wie über diese Kommunalwahl: Einige tausend Kandidaten, etliche Programme und viele Reportagen über den Wahlkampf kamen in die TA, dazu luden wir zu Diskussionen ein.
Auf Hunderten von Seiten konnten sich unsere Leser informieren. Für manche Politiker war dies zu wenig, für die Mehrheit unserer Leser aber genau das richtige Maß: Die Wahlbeteiligung ist jedenfalls spürbar gestiegen.
3. Unter Werbe-Strategen gilt der Satz: Hauptsache, mein Kandidat und meine Partei wird beachtet! Auch eine negative Werbung kann eine Werbung sein – besonders für eine radikale Partei, die sich gerne als verfolgte und unterdrückte stilisiert.
Das Programm der NPD ist eindeutig: Sie will die Demokratie zerstören und die Pressefreiheit gleich mit. Kämen die Neonazis an die Macht, wäre eine Wahlberichterstattung wie zum 25. Mai nicht mehr möglich.
Bei aller Toleranz gegenüber intoleranten Feinden der Freiheit: Worüber sollen wir also berichten, wenn ein mehrfach vorbestrafter Neonazi spricht?
Das bedeutet nicht, dass wir die Feinde der Demokratie nicht aufmerksam beobachten. Wir bleiben wachsam, aber halten es mit dem Politikwissenschaftler Jesse: Der warnte am Mittwoch in unserer Zeitung, die NPD wichtiger zu machen, als sie ist.
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Thüringer Allgemeine 31. Mai 2014
Die eigentliche Geburt der Pressefreiheit: Das Verfassungsgericht zur Spiegel-Affäre
Viel Lob für den TV-Film im Ersten „Die Spiegel-Affäre“, zu Recht. Erstaunlich ist jedoch, dass das Verfassungsgericht mit seinem bahnbrechenden Urteil zur Pressefreiheit nicht einmal im Abspann erwähnt wird. Die entscheidenden Sätze haben wir in der Neuauflage „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“ auf Seite 21 zitiert.
Das Bundesverfassungsgericht hat im „Spiegel-Urteil“ am 5. August 1966 den Wert der freien Presse für eine Demokratie deutlich gemacht. Aus den Aufgaben der Presse sind die Verpflichtungen für Redaktionen und Redakteure ableitbar:
Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.
Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.
In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung. In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können.
So wichtig die damit der Presse zufallende „öffentliche Aufgabe“ ist, so wenig kann diese von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.
Der Funktion der freien Presse im demokratischen Staat entspricht ihre Rechtsstellung nach der Verfassung. Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 5 die Pressefreiheit. Wird damit zunächst ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt, das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichen Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtsstellung sichert, so hat die Bestimmung zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite. Sie garantiert das Institut „Freie Presse“.
(BVerfG 20, 162ff.)
Eine Politikerin ärgert sich über eine Redaktion, schreibt eine Mail – und schickt sie an den falschen Absender
Eine junge Bundestagsabgeordnete kommt mit einem Text, offenbar mit zu viel Partei-PR, nicht in die lokale Zeitung. Sie ärgert sich und schickt eine Mail an einen Genossen – und drückt auf die falsche Taste: Die Mail landet in der Redaktion der Fuldaer Zeitung:
Gesendet: Mittwoch, 16. April 2014 16:37
An: […]
Betreff: Re: Kolumne für MorgenWahrscheinlich finden die sich jetzt richtig toll… Das ist schon frech, was die sich so leisten. Wir müssen mal wirklich eine Strategie ausarbeiten, wie wir denen einen Strich durch die Rechnung machen können. Ich treffe mich Morgen zum Frühstück mit Hettler von Fuldainfo und wir schauen mal, ob wir Ideen haben.
Gruß
Birgit Kömpel MdB
Die Redaktion bringt die Mail in die Öffentlichkeit:
Fehlgeleitete Mail von Birgit Kömpel sorgt für Empörung
REGION
Liebe Leserinnen und Leser, diese Mail der Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel sollte unsere Redaktion nicht erreichen. Aber sie liegt uns vor, weil die SPD-Abgeordnete sich vertan und sie an uns geschickt hat. Schäbig finden wir den Inhalt. Unaufrichtig finden wir Kömpels Verhalten.Zum Hintergrund: Seit einigen Jahren bietet unsere Zeitung heimischen Abgeordneten verschiedener Parlamente im Wechsel die Möglichkeit, sich zu vorgegebenen bzw. abgesprochenen Themen in einer Kolumne zu äußern. Damit wollen wir den Abgeordneten die Möglichkeit geben, ihre Sicht der Dinge zu aktuellen Themen darzulegen – und zwar jenseits von Parteipolitik.
Frau Kömpel schrieb vergangene Woche ohne jede Absprache und ohne sich an Vorgaben zu halten. Sie schrieb einen Lobgesang auf die Arbeit der SPD in 100 Tagen großer Koalition.
Aber: Spielregeln gelten für alle. Das haben wir ihr erläutert und diesen Beitrag abgelehnt. Für Sie, liebe Leser, zum Verständnis: In zwei Fällen mussten wir dies in den vier Jahren, die es diese Rubrik gibt, bereits tun. Einmal traf es einen CDU-Mann, einmal eine SPD-Vertreterin. Wie Frau Kömpel in einer offenbar für einen Mitarbeiter bestimmten Mail reagiert hat, lesen Sie oben.
Frau Kömpel soll(te) in Berlin Interessensverwalterin der Bürgerinnen und Bürger ihres Wahlkreises sein. Sie aber überlegt, wie sie einer unabhängigen Tageszeitung und damit auch einem Unternehmen ihres Wahlkreises Schaden zufügen kann – weil eine Redaktion nicht das tut, was sie möchte.
Die Mail der SPD-Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel offenbart uns ihr Medien- und Demokratieverständnis. Deshalb möchten wir sie transparent machen.
Einen Screenshot der Mail können Sie in der Printausgabe oder im E-Paper sehen.
Reicht die Verärgerung einer Politikerin über eine Redaktion, um sie vorzuführen? Trägt die Redaktion nicht ein wenig zu dick auf: Schäbig, unaufrichtig, Offenbarung eines falschen Medien-und Demokratieverständnisses?
Ist wirklich die Unabhängigkeit in Gefahr? Gewinnt am Ende nicht immer die Zeitung? Ist solch eine Dummheit einer offenbar recht unerfahrenen Politikerin nicht eher Stoff für eine Glosse als für eine große Abrechnung: Unsere Demokratie ist in Gefahr?
Herbert Kolbe ist tot: Der Pionier der lokalen Welt-Zeitung – aus Emden
Jede deutsche Zeitung vor dreißig Jahren war ein „Generalanzeiger“: Große Politik, große Wirtschaft, große Kultur und am Rande ein bisschen Lokales. Wer nicht mitleidig belächelt werden, wer etwas werden wollte, der sah zu, dass er so schnell wie möglich aus der Lokalredaktion in den „Mantel“ kam.
Die Revolution kam aus dem Norden, von einer kleinen Zeitung an der holländischen Grenze mit gerade mal neuntausend Abonnenten. Der Revolutionär hieß Herbert Kolbe, die Zeitung war die Emder Zeitung.
Herbert Kolbe wurde in Emden 1981 Chefredakteur: Er hatte eine Mission:
Durchdringung der ,großen‘ Nachrichten mit dem Lokalen, wobei ich es lieber umgekehrt formuliere: Durchdringung des Lokalen mit den ,großen‘ Nachrichten.“
Er hatte eine Mission, die er konsequent verwirklichte, aber er war kein Missionar. Er war Realist, der sich die Frage stellte: Ist die Zeitung im Stile eines Generalanzeigers noch zeitgemäß? Hat sie eine Zukunft?
Kolbe begann die Leser-Forschung bei seinem Verleger Edzard Gerhard, der Anfang der achtziger Jahre den Verlag von seinem Vater übernommen hatte: „Ich mochte die eigene Zeitung nicht mehr lesen“, bekannte der Verleger. So viel Ernüchterung war selten, wenn nicht einmalig vor 35 Jahren. Auch der neue Chefredakteur mochte seine Zeitung nicht – und war erstaunt, dass es seinen Lesern ähnlich ging.
Sie langweilten sich bei Meldungen wie „Außenminister Genscher wird morgen mit seinem Amtskollegen NN zusammentreffen und voraussichtlich die bilteralen Beziehungen erörtern…“ Kolbe beschloss das Ende der Langeweile, wollte nicht mehr die kostbare Zeit seiner Leser vergeuden – und verbannte „die zahllosen Handschüttel- und Bundestags-Stehpult-Bilder gnadenlos aus der Zeitung“. Er riß die Ressortgrenzen nieder, schuf eine vertikale Struktur in der Redaktion – also: Lokales und Welt auf Augenhöhe. „Rathaus und Bundeshaus in einem Team“, so arbeitete Kolbe in seiner Redaktion.
Kolbe war ein harter Chefredakteur, dem seine Leser wichtiger waren als seine Redakteure – die sich heftige Kritik gefallen lassen mussten:
> Mittelmäßiger bis schlechter Sprachstil,
> weitgehend ohne Kenntnis der journalistischen Stilmittel,
> dürftige optische Darbietung,
> ungeordnet und meist schlecht ausgebildet.
Diese Kritik übte er nicht nur an seiner Redaktion: „Das ist der Standard vergleichbarer Tageszeitungen (was ja nichts mit Auflagenhöhen zu tun hat)“.
Kolbe trennte sich vom Mantel aus Osnabrück und schuf eine Zeitung aus einem Guß. Auf der Titelseite standen gleichrangig Nachrichten aus Emden und der Welt – eben die wichtigsten des Tages aus der Perspektive der Leser. Nicht selten, wenn die Welt ruhte, standen allein Berichte und Fotos aus Emden auf der Titelseite.
Aber nicht „Local first“ wurde zum Prinzip, sondern stets: „Einordnung des lokales Sachverhalts in das Gesamtgeschehen des Tages“ – mit der Folge, die heute Online-Redakteure als von ihnen entdeckten Fortschritt preisen:
Erst in der Mischung aller bedeutenden Ereignisse eines Tages erhält das Lokale den richtigen Platz und angemessenen Stellenwert. Auch das könnte man wieder umgekehrt ausdrücken.
Das erste Buch wurde zum lokalen Buch, Politik und Meinung wanderten ins zweite Buch. Die Hausfarbe der Zeitung wechselte vom Blau zu Orange, der Blocksatz wurde vom Flattersatz abgelöst – ein bisschen und mehr sah dieEmder Zeitung aus wie USA Today. Die Auflage stieg, in manchem Jahr über vier Prozent.
Kolbe nannte seine Revolution selber den „Urschrei“ und machte sich ein wenig lustig über andere, also die meisten Zeitungen, die Alarmzeichen nicht sehen wollten. Der Rest der Chefredakteure machte sich allerdings lustig über den Provinzler von der Küste. Wer das Lokale so hoch schätzte wie Kolbe musste sich Urteile wie „Das Ende des Qualitätsjournalismus“ gefallen lassen.
Nur wenige sahen die Zeichen: Der Wiener Publizistik-Professor Wolfgang Langenbucher geißelte die Mißachtung des Lesers und die Hofberichterstattung in den meisten Zeitungen. Schon in den achtziger Jahren hielt er die wachsenden Reichweiten-Verluste bei den jungen Leuten für eine Gefahr – für die Zeitung wie für Gesellschaft und Demokratie. Die Frage, ob die Zeitung ein Integrationsmedium bleiben kann, hielt Langenbucher für eine „Schicksalsfrage der Gesellschaft“.
Ebenfalls in der achtziger Jahren schuf Dieter Golombek das „Lokaljournalistenprogramm“ – in einer Behörde, der Bundeszentrale für politische Bildung. Kaum ein Programm hat den Journalismus in Deutschland stärker verändert. 1980 vergab Golombek erstmals den „Deutschen Lokaljournalistenpreis“, der zum bedeutendsten Zeitungs-Preis in Deutschland wurde, der Trends erkannte und setzte. 1980 – das war auch das Jahr, in dem Emden aufbrach in die neue Zeitungszeit.
Die Emder Zeitung hat, wenn ich es recht überblicke, nie den Lokaljournalisten-Preis gewonnen. Das ist einer der wenigen Irrtümer der Jury. Kolbe hätte für seine Pioniertat und sein Lebenswerk den Preis verdient gehabt – ebenso wie den Theodor-Wolff-Preis, den aber bis heute vor allen Leitartikler und Helden des Generalanzeigers für ihr Lebenswerk bekommen.
Kolbes Konzept ist seltsam modern: Die meisten Debatten um die Zukunft der Zeitung und die Gegenwart des Digitalen kreisen um Themen und Ideen, die er schon früh erkannt und formuliert hatte. Am 6. April 2014 ist Herbert Kolbe gestorben, 72 Jahre alt.
Ich habe viel von ihm gelernt. Parallel zur Emder Zeitung entwickelte ich mit meiner Redaktion in der Oberhessischen Presse eine moderne Lokalzeitung im Marburg der achtziger Jahre, belächelt von den meisten in der Zunft, aber geachtet von den Lesern in der Universitätsstadt; auch in Marburg stieg die Auflage kontinuierlich, als das Lokale auf die Titelseite und ins erste Buch kam.
Der Chefredakteur der Oberhessischen Presse berief sich übrigens auf ein noch älteres Konzept, das der US-Presse-Offizier Shepard Stone 1945 bei der Lizenzvergabe so formuliert hatte:
Die Zeitung muss sich durch die Art ihrer Berichterstattung das Vertrauen der Leser erwerben: Der Lokalberichterstattung muss die stärkste Beachtung geschenkt werden und damit den vordringlichsten Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volks.
*
Quelle für Kolbe- und Langenbucher-Zitate:
> Bernd-Jürgen Martini „Journalisten-Jahrbuch 1989“, darin:
> Herbert Kolbe „Das Beispiel Emden: Wie man Erfolg hat“
> Wolfgang Langenbucher „Noch immer wird der Leser mißachtet!“
Auf der Suche nach schönen Wörtern: Bauchgefühl-Demokratie
Bauchgefühl-Demokratie
Ein schönes neues Wort, erdacht von Guenter Hack @guenterhack
Verfassungsgericht geht nicht weit genug: Alle Politiker müssen raus aus den ZDF- und ARD-Gremien
Der Staat darf sich die Medien nicht zur Beute machen. Er darf weder in die Redaktionen des MDR hineinregieren noch in die Redaktion einer Zeitung. So bestimmt es unsere Verfassung. In Artikel 5 reichen fünf Wörter aus, um die Pressefreiheit zu garantieren: „Eine Zensur findet nicht statt.“
„Zensur“ bedeutet in unserer Verfassung: Der Staat darf vorab weder kontrollieren noch bestimmen, was der MDR senden will und die TA drucken. Diese Freiheit gab es – beispielsweise – nicht für Redaktionen in der DDR. Das Zentralkomitee der Partei rief jeden Tag in den großen Redaktionen an und bestimmte, was berichtet wird, wie berichtet wird und welche Sätze in den Kommentaren zu stehen hatten.
Ansagen gab es auch für die Lokalredaktionen. „Meine Meinung kommt um zwei Uhr aus Berlin!“, witzelten die Redakteure, die bisweilen kuriose Anweisungen zu befolgen hatten wie „Keine Rezepte mit Haselnuss vor Weihnachten veröffentlichen!“ Hintergrund war ein Versorgungs-Engpass.
Bei einer Zeitungsredaktion rufen gerne auch Minister und andere Politiker an, manchmal erregt, manchmal fordernd; andere rufen nie an, verweigern jede Auskunft und zeigen so ihre Missbilligung einer freien Presse, die sie gerne ein bisschen unfreier hätten. Poltern wie schweigen – alles bleibt wirkungslos.
Das ist bei Rundfunk und Fernsehen anders: Politiker üben einen starken Einfluss aus. Wenn der Regierungssprecher zu einer Reise mit der Ministerpräsidentin einlädt und eine Absage bekommt, dann rutscht ihm schon mal ein Satz raus wie: „Das ist nicht schlimm. Wir nehmen ja den MDR mit.“
Nun arbeiten in TV- wie in Zeitungsredaktionen selbstbewusste Journalisten, die auf Unabhängigkeit großen Wert legen. Aber sie haben es bei ARD und ZDF schwerer: Dort sitzen Politiker in Gremien, die sie und ihre Arbeit kontrollieren.
Der Anruf eines Ministers oder der wöchentliche Telefon-Termin mit der Staatskanzlei hinterlässt schon tiefe Spuren: Bei politischen Berichten sitzt schnell die Unsicherheit im Nacken, manchmal schon die Angst.
Das Verfassungsgericht hat die Nöte der Redakteure und die Gefahr für die Demokratie erkannt. Es begrenzt den Einfluss der Politiker. Ob das reicht?
Einem Verfassungsrichter geht die Entscheidung nicht weit genug: Er will die Politiker komplett verbannen. Er hat Recht – auch mit der Befürchtung: Das Versprechen eines staatsfernen Fernsehen bleibt weiter unerfüllt.
(erweiterte Fassung eines Leitartikels der Thüringer Allgemeine, 27. März 2014)
FACEBOOK von Thomas Platt (27.43.):
Dass es in einem freien Land Staatsfernsehen gibt – noch dazu in schockierendem Ausmass -, das ist der Skandal.
Die Zeitung macht den Untertanen zum Bürger! Wir brauchen eine Leselust-Prämie für die Schulen!
Warum geben wir Millionen von Euro für die Anschaffung von Tablets und Notebooks und Whiteboards in den Schulen aus – aber für Lese-Projekte haben wir kaum Geld übrig?
Die Frage stellte ich auf der Leipziger Buchmesse beim 2. Mitteldeutschen Bildungstag. „Ist die Zeitung zeitgemäß für die Schule“ lautete die Frage. Meine Antwort in einem Vortrag war eindeutig „Ja“:
Wer liest, entdeckt die Welt: Er weiß viel, er denkt mit, und er macht mit – in der Gesellschaft, in der sich Menschen souveräner bewegen, die sich Urteile bilden können anstatt Vorurteilen hinterher zu laufen. Die Zeitung macht den Untertanen zum Bürger.
Nicht die Hardware ist wichtig für die Bildung der Zukunft, sondern die Software, der Inhalt der Bildung, das was der Direktor Andreas Jantowski von der Thüringer Lehrerfortbildung (Thillm) Weltverständnis nennt und was im „Handbuch des Journalismus“ Weltkenntnis genannt wird.
Der komplette Vortrag am 14. März 2014:
Ich habe eine schwierige Klasse“, erzählt ein Lehrer, „am schlimmsten ist es am frühen Morgen. Die Schüler sind aggressiv, laut, springen wild umher, ohne jede Disziplin. Das änderte sich radikal, als wir morgens eine Zeitung für jeden Schüler bekamen. Ich hatte mich entschlossen, vor dem Unterricht eine halbe Stunde für die Zeitungslektüre zu geben.
Von einem Tag auf den anderen erkannte ich meine Klasse nicht wieder: Sie stürzten sich auf die Zeitung, unterhielten sich mit ihren Nachbarn über Artikel, halfen einander, wenn sich einer in der Zeitung verirrte.Klar musste ich mich auch zurückhalten. Sie lasen nicht die Artikel, die ich mir gewünscht hatte: Statt Politik stand der Sport vorne, statt Kultur das Vermischte.
Dieser Zeitungs-Auftakt am Morgen tat dem gesamten Unterricht gut. Als nach vier Wochen keine Zeitung mehr in die Schule kam, fehlte uns etwas – etwas Wichtiges. Das gemeinsame Lesen war zum Ritual geworden.
Dieses Gespräch mit einem Lehrer führte ich vor 25 Jahren. In der hessischen Universitätsstadt Marburg fand das vielleicht erste Schul- und Zeitungsprojekt statt, in dem eine Zeitung und eine Lehrerfortbildung zusammen in die Schule gingen.
(Es wäre wohl eine schöne Aufgabe herauszufinden, was sich in den Jahrzehnten solcher Schul-Zeitungsprojekte alles verändert hat: Welche Themen spielten 1985 eine Rolle, welche 2000 und welche heute? Wie sahen Lehrer die Projekte vor 30 Jahren? Und wie heute? Wie unterscheiden sich diese Projekte in West und Ost?)
25 Jahre – das scheint mit Blick auf Medien, aber auch auf die Gesellschaft eine Ewigkeit zu sein. Vor einem Vierteljahrhundert kannte kaum jemand das Internet, flächendeckende Netze für Handy wurden erst aufgebaut, das „Smartphone“ stand noch nicht einmal im Duden.
Die piependen oder singenden oder kreischenden Smartphones nerven heute die Lehrer. So haben wir schon einen Vorzug der Zeitung ermittelt, der ein Vierteljahrhundert überlebt hat:
Wer liest, braucht Konzentration und Ruhe; Lesen ist kein Nebenbei-Medium wie Radio-Hören oder Fernsehen auf dem Smartphone mit seinem kleinen Bildschirm. Hirnforscher warnen sogar davor, uns nur den hektischen Medien anzuvertrauen: Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren leide schon – und sei bei den Studenten an den Universitäten unübersehbar.
Ich vermute, dass der Leseknick nach der zweiten Klasse – also Sieben- und Achtjährige lesen kaum noch – dass dieser Leserknick mit der Überforderung des Bewusstseins zu tun hat. Aber das ist nur eine Vermutung.
Offenbar verändern sich unser Gehirn und unser Bewusstsein nicht so rasant wie die Smartphone-Industrie, die uns schon Brillen und bald Kontaktlinsen anbieten wird, durch die wir nicht nur die wirkliche Welt sehen werden, sondern eine zweite und dritte Welt, die andere für uns zubereiten.
Dagegen ist die Zeitung ein Ruhe-Pol, ein Kälte-Pol – eben das genaue Gegenteil von Fiktion, auch das Gegenteil von „Second-Hand-Nachrichten“, also von allem, was geliket, gelinkt und abgekupfert wird in Twitter und Facebook und anderen Netzwerken.
Doch ich will nicht in eine wohlfeile Kulturkritik einstimmen: Unsere Welt und unsere Gesellschaft ist, wie sie ist. Dreißig Millionen Deutsche bewegen sich schon im mobilen Internet. bei der Altersgruppe unter dreißig sind es schon fast alle.
Das bedeutet aber nicht, dass wir – wenn wir über die nächste Generation sprechen – nicht gegensteuern können. So etwas nennen wir Bildung, und die Institution, die wir dafür geschaffen haben, ist die Schule.
Dabei muss die Zeitung nicht unbedingt gedruckt auf Papier erscheinen; sie kann auch auf dem Bildschirm eines Computers oder Smartphones zu lesen sein. Ich möchte nur am Rande die Vorteile des Papiers andeuten:
Hinter einen Zeitung habe ich mehr Ruhe als vor einem Computer; ich kann mich besser konzentrieren und mir einfacher einen Überblick verschaffen als auf einer Homepage. Das ist im Unterricht nützlich, aber mehr nicht.
Übrigens: Gehen Sie mal im Bahnhof oder am Flughafen in den Zeitschriften-Laden: Die größte Abteilung sind die Computer-Magazine; zu den großen gehören auch die Jugend-Zeitschriften. Warum wohl?
Es stimmt auch nicht, dass sich jungen Leute nicht mehr aus seriösen Quellen informieren – oder sich überhaupt nicht mehr für Politik im weiteren Sinne informieren.
Zwar schauen Jugendliche seltener als ihre Eltern in die gedruckte Zeitung, aber im Internet schlagen sie die Seiten der bekannten Magazine und Zeitungen auf – mit weitem Abstand vor der Tagesschau und anderen TV-Sendern. Das ist das Ergebnis einer Umfrage unter knapp 600 Schülern zwischen 12 und 22 aller Schulformen, die Josephine B. Schmitt von der Universität Hohenheim im Januar vorgestellt hat.
Die Zahlen sind beeindruckend und überraschend:
> 29 Prozent der Schüler nennen die Online-Angebote von Printmedien, wenn sie gefragt werden „Welche Internetseite nutzt Du aktuell am häufigsten, um dich über das tagesaktuelle politische Geschehen zu informieren?“
> Die sozialen Netzwerke folgen weit dahinter mit 15 Prozent,
> Google-News und ähnliche mit 10 Prozent;
> die Öffentlich-Rechtlichen erreichen 8 Prozent, knapp hinter den Privaten wie N24 oder ntv.
Josephine B. Schmitt meint: „Offensichtlich wirkt sich die Strahlkraft der auch aus der Offlinewelt bekannten Medienmarken im Internet positiv aus und gibt den jungen Nutzern das Gefühl, dass sie auf den entsprechenden Portalen verlässliche Inhalte finden.“
„Gut lesbar und einfach zu verstehen “ muss das ideale Online-Nachrichtenmedium für die jungen Leute sein; da unterscheiden sie sich nicht von den älteren Lesern. Das sind die entscheidenden Kriterien für eine Nachrichtenseite, die Jugendliche gerne nutzen wollen:
1. Verständlich muss sie sein.
2. sie ist aktuell („Sie informiert sofort, wenn es etwas Neues in der Welt gibt“)
3. sie ist unterhaltsam und abwechslungsreich
4. sie hat Bildergalerien
5. sie ist neutral
6. sie hat viele Hintergrund-Informationen
Keine große Rolle spielt die Partizipation, allenfalls mögen Jugendliche Umfragen und die Möglichkeit, Artikel zu bewerten.
Allzu sicher können sich die Journalisten von Zeitungen und Magazinen aber nicht sein, dass Jugendliche den hohen Wert von seriösen Angeboten erkennen.
„Die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenquellen sind von geringerer Bedeutung“, stellt Josephine B. Schmitt fest. Daraus folgert sie – für Lehrer und Journalisten: Jugendliche müssen noch intensiver hinsichtlich der Herkunft und Vertrauenswürdigkeit von Informationen sensibilisiert werden.
Also – es kommt nicht darauf an, ob Papier oder Bildschirm, es kommt auf den Journalismus an. Es geht, ohne Übertreibung, um unsere Demokratie, es geht darum, wie wir künftig zusammenleben wollen.
Lesen als Kulturfähigkeit ist ein Merkmal einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft kann sich immer wieder selbstständig orientieren, informieren, sich neu justieren und sich so in die Gesellschaft einbringen.
So hat der Direktor des Thillm seinen Vortrag eingangs des Mitteldeutschen Bildungstags geschlossen. Ich gehe noch weiter:
Ohne unabhängigen Journalismus wird unsere Freiheit bald nicht mehr viel wert sein; ohne die Kontrolle der Mächtigen werden wir mit Propaganda abgespeist. Macht kontrolliert sich nur selten selber, sie neigt zur Selbstherrlichkeit und Abschottung.
Unsere Demokratie ist angewiesen auf Bürger, die gut informiert sind. Sie ist angewiesen darauf, dass eine Mehrheit der Gesellschaft informiert ist über die wichtigen Angelegenheiten und Debatten. Nur wer gut informiert ist, kann gut mitreden.
Wenn der Bürger nicht mehr Bescheid weiß, nehmen wir ihm seine Macht, nehmen wir der Demokratie ihre Vitalität.
Überlegen Sie sich bitte: Was passiert mit unserer Demokratie, sagen wir in zehn Jahren, wenn die Mehrzahl der Bürger keine Zeitung mehr liest – oder sagen wir: ohne seriösen, unabhängigen Journalismus in Wahlen geht und mitentscheiden soll?
Wir kennen heute schon den Zusammenhang: Dort wo die Menschen kaum Zeitungen abonniert haben, ist die Wahlbeteiligung gering. Zeitungs-Verweigerung und Wahl-Verweigerung gehören leider zusammen.
Die Grundlage für eine gut informierte Gesellschaft kann und muss die Schule schaffen. Wir wissen von großen Zeitungsprojekten in Schulen: Es ist möglich, die Lust am Zeitungslesen zu entfachen. Das setzt voraus, dass sie erst einmal eine Zeitung in die Hand bekommen, dass sie die Technik des Zeitungslesens lernen (ja, das muss man lernen), dass sie die Lust und die Möglichkeiten des Zeitungslesens entdecken.
Wer junge Menschen daran hindert, die Lust am Lesen zu wecken, schadet ihnen und schadet – auf die Zukunft gesehen – unserer Demokratie. Dafür brauchen wir keine Milliarden wie zur Rettung böser Banken. Wir könnten eine millionenstarke Leselust-Prämie gebrauchen. Wer so viel Phantasie hat, Abwrack-Prämien für Autos zu erfinden, könnte auch eine Leselust-Prämie erfinden.
Ich bin sicher: Die meisten Lehrerinnen und Lehrer machen mit. Meine Erfahrung aus fast dreißig Jahren mit Zeitungs-Schulprojekten ist eindeutig: Die meisten Lehrer machen sogar begeistert mit, wenn sie die erste Scheu abgelegt haben und sich die Schulleiter nicht allzu sehr querlegen und Eltern nicht allzu aufmüpfig sind und schimpfen „Unsere Kinder sollen viel lernen und nicht Zeitungen lesen“.
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Die Thüringer Allgemeine veranstaltet das Zeitungsprojekt „Tinte“ für Grundschüler zusammen mit dem Thillm. Im vergangenen Jahr haben mitgemacht tausend Schüler aus über 50 Klassen. Die Schüler haben nicht nur gelesen, sondern auch selber geschrieben: Fast 400 Zeitungsseiten sind in dem sechswöchigen Projekt entstanden.
Die Schüler bekamen ein Schülerheft, Reporterausweise und -blöcke, lernten den Aufbau der Zeitung kennen (Was ist ein Aufmacher? Was kommt in eine Nachricht? Was gehört in eine Reportage?), sie werteten Texte aus, schrieben erst kleine Nachrichten, dann längere Texte über ihre Schule, das Projekt und ihre Stadt. Die Kinder interviewten Lehrer, Direktoren, Redakteure, Händler, Marktfrauen und Politiker.
Es gibt eine Auftakt- und eine große Abschlussveranstaltung, bei der alle Klassen ihre Tinte-Projekte zeigen und vorführen. Auch im Internet wird das Projekt natürlich umfangreich begleitet.
„Tinte“ geht weiter, auch wenn es im Osten – im Gegensatz zu Zeitungen und Schulen im Westen – schwierig ist, Sponsoren zu finden.
Im Anschluß an die Vorstellung der Thüringer „Tinte“ stellte die Leipziger Volkszeitung ihr Schulprojekt auf dem Mitteldeutschen Bildungstag vor.
Müssen sich Journalisten bei Wulff und ihren Lesern entschuldigen? Nein – warum auch
Denken Journalisten nie über sich und ihre Ethik nach? Machen sie sich nur her über andere, vor allem Mächtige und Möchtegern-Mächtige, haben keine Regeln und sind unfähig zur Selbstkritik?
Der Tag nach dem Wulff-Freispruch ist der große Tag der Hohepriester in unserer Zunft, die ihren Zeigefinger in die Höhe recken. Günther von Lojewski, Ex-Intendant des SFB, schreibt in der FAZ über „Wir Journalisten“:
Es ist wohl an der Zeit, dass wir, wir Journalisten, die wir so gern alles (besser) wissen und jeden kritisieren, einmal uns selbst zum Gegenstand öffentlichen Diskurses machen, unsere Standards, unser Ethos und unser Verhältnis zu Freiheit und Macht.
Das Büßergewand steht uns nicht, ist heuchlerisch. Wir haben Standards: Der Pressekodex regelt, wie wir mit unserer Macht umzugehen haben; er sanktioniert jeden, der dagegen verstößt; er regt immer wieder Debatten an über Persönlichkeitsrechte, Schleichwerbung, Vorverurteilung, Diskriminierung von Ausländern usw.
> Frage an den (Besser-) Wisser von Lojewski: Gegen welche Regel im Pressekodex haben Journalisten in der Wulff-Affäre verstoßen? Wenn es solche Regelverletzung gegeben hat: Haben Sie Beschwerde eingelegt?
> Zweite Frage: Debattieren Journalisten nicht unentwegt über ihre Profession? Gibt es irgendeine Akademie, die Journalismus und seine Ethik nicht mindestens einmal im Jahr zum Thema macht? Diskutieren – beispielsweise – nicht Lokaljournalisten mehrmals im Jahr in einwöchigen Modellseminaren über ihre Profession (organisiert vom Lokaljournalistenprogramm)? Etablieren nicht immer mehr deutsche Zeitungen einen Ombudsmann, der sich um Fragen und Beschwerden von Lesern kümmert? Ist es nicht eher ein Problem, dass sich die Öffentlichkeit kaum oder gar nicht für unsere Debatten interessiert?
> Dritte Frage: Klärt nicht unser Grundgesetz das Verhältnis der Presse zu Freiheit und Macht? Hat nicht unser Verfassungsgericht klar bestimmt, wie wertvoll die Presse ist in der Kontrolle der Macht? Wollen Sie Artikel 5 ändern? Korrigieren? Einen staatlichen Presserat einrichten? (Keine Sorge: Es geht nicht.)
> Vierte Frage: Gehört die Kontrolle der Mächtigen nicht zu unseren wichtigsten Aufgabe? In Ihrer Aufzählung der „Grundregeln“ kommt sie nicht vor – aus Versehen?
Schauen wir uns Lojewskis Grundregeln an, die angeblich alle in der Wulff-Affäre von „zahllosen Journalisten“ verletzt wurden:
1. Fakten vor Gerüchten. Das einzige schwerwiegende Gerücht, an das ich mich erinnere, betraf die Vergangenheit der Ehefrau; aber das hat Wulff selber im TV-Interview thematisiert. Journalisten in Niedersachsen war das Gerücht schon lange bekannt; keiner hat es öffentlich gemacht.
War nicht das Problem, dass zu viele Fakten über Wulffs Leben bekannt wurden und vor allem über sein Verhältnis zum Geld? Fragen konnte man sich in der Tat, ob manche Fakten eine öffentliche Diskussion wert waren.
Übrigens hatte der Bundespräsident ein gestörteres Verhältnis zu Fakten als Journalisten. Wenn wir Halbwahrheiten als Gerücht klassifizieren, dann war darin Wulff der Meister.
2. Sorgfalt vor Schnelligkeit. Da hätte ich gerne Beispiele. Schauen Sie sich den Fragekatalog der Journalisten an, im Internet zu lesen: Sie haben in der Regel auf Wulffs Antworten gewartet. Das Problem war bisweilen die Dumpfheit der Fragen, um nicht von Dummheit zu schreiben, aber nicht die Geduld und die Sorgfalt der Journalisten. Das Problem waren die Antworten Wulffs.
3. Nachricht vor Meinung. Die Regel ist unsinnig: Ein guter Journalist trennt deutlich Nachricht und Meinung, aber er bietet beides an.
4. Unparteilichkeit vor Vorurteil. Die Regel verstehe ich nicht. Ein Journalist ist unparteilich in der Recherche und parteilich im Kommentar. Was das mit Vorurteilen zu tun hat, erschließt sich nicht.
Ob sich wohl ein einziger Journalist öffentlich entschuldigen wird, bei ihm (Wulff) und bei seinem Publikum?
fragt Günther von Lojewski. Ist in Hannover ein Prozess gegen Journalisten geführt worden? Oder hat die Staatsgewalt einen Prozess gegen den Bundespräsidenten vorangetrieben? Und eine andere Staatsgewalt ihn freigesprochen?
Ich fand es unsinnig, dass gegen Wulff ermittelt wurde. Ich finde es meist unsinnig, wenn sich Staatsanwälte in das politische Geschäft einmischen; Politik gehört in Parlamente und in Untersuchungsausschüsse und nicht in Gerichtssäle. Ich finde es richtig, ja notwendig, wenn Journalisten die Mächtigen kontrollieren, auch den Bundespräsidenten. Wir schaden der Demokratie, wenn wir es nicht tun.
Ich entschuldige mich nicht.
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