Respekt und Nähe – am Beispiel des Amoklaufs in Erfurt
Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs (am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt), auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe.
Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.
Hier mein Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012 (1. Teil):
Ein 19jähriger ermordet im April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und tötet sich am Ende selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle Erfurter.
Wer einen Angehörigen verloren hat, einen Freund oder Bekannten, der ringt um Fassung, manche verlieren sie. Sie wollen nur noch schweigen angesichts des Unbegreiflichen. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht, oder jeden Film, der im Fernsehen läuft.
Die Redakteure in der Lokalredaktion können nicht schweigen – auch wenn einige überwältigt sind, weil sie Angehörige oder Freunde verloren haben. Es gibt keinen in der Redaktion, der das Gymnasium nicht kennt, sei es von der eigenen Schulzeit her, sei es von Terminen, um vom „Gutenberg“ zu berichten:
Wie sollen die Redakteure berichten?
Was sollen sie erwähnen?
Welche Sprache ist angemessen?
Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen?
Das Wort verweist auf eine spontane Tat statt auf einen lang geplanten Mord. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.Auch wenn für die Angehörigen Schweigen die beste Lösung wäre, so wiegt schwerer der Anspruch der Bürger, zu erfahren, was wirklich geschehen ist. In einer Gesellschaft, in der unzählige Medien unaufhörlich berichten, ist das Schweigen keine Alternative.
Es ist und war immer schon Aufgabe von Journalisten. die Wahrheit herauszufinden – auch um Legenden vorzubeugen und Agitatoren die Chance zu verwehren, aufzuwiegeln und die Trauer in Hass und Wut zu verwandeln. Zur Wahrheit gibt es keine Alternative.
Die Gesellschaft, als die Gemeinschaft der Bürger, muss versuchen, eine solche Tat zu verstehen – zum einen um Vorsorge zu treffen, wie künftig solch ein Amoklauf zu verhindern ist; zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.
Die Gesellschaft muss verstehen, um handeln zu können. Aber wie sollen Redakteure berichten? Recht einfach ist die Frage zu beantworten: Wie sollen sie nicht berichten.
Reporter haben in Erfurt die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen, haben Fotos von den Opfern aus den Kränzen am Sarg gestohlen. Sie haben Menschen, die bei sich bleiben wollen, selbst bei der kirchlichen Trauerfeier in die Öffentlichkeit gezerrt – als wären es Superstars oder Prominente, die die Kameras suchen; dabei waren diese Menschen gegen ihren Willen und gegen ihren Lebensplan in ein Unglück gestürzt, das der Verstand nicht fassen kann und das die Seele verdunkelt.
Die Menschen können zwischen den Zeilen lesen: Ihnen reicht die Andeutung, die Beschreibung durch Worte, um sich selbst eine Vorstellung von der Verzweiflung machen zu machen. Worte sind kühler, glaubhafter, menschlicher als Fotos, weil sie dem Leser die Chance bieten, sich selber ein Bild malen zu können. Worte, klug gewählt, fördern das Verstehen; Fotos können das Verstehen verstellen.
Wenn die Redaktion erklärt, dass viele der Trauernden nicht sprechen wollen – und dass die Redaktion dies akzeptiert, dann akzeptieren es auch die meisten Leser. Man lässt seine Nachbarn in Ruhe trauern, das ist seit altersher eine menschliche Regung.
Die Menschen können auch hinter die Bilder schauen: Sie brauchen keine verzweifelten Gesichter; ihr Mitgefühl ist so groß, dass ihnen Andeutungen und Gesten reichen, um sich die Trauer in den Augen der Angehörigen vorstellen zu können. Sie müssen nicht Bilder von verweinten Augen sehen, um mit den Menschen zu leiden.
Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen; Erfurter haben Journalisten beschimpft, bespuckt, mit Steinen beworfen, wenn sie Jagd machten nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen.
Dass diese Kritik auch in den Medien selber diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und, man möchte hoffen, Journalisten auch lernfähig. Doch als 2009 ein 17jähriger in Winnenden fünfzehn Menschen ermordete, drehten Journalisten auf der Jagd nach der Sensation wieder durch – als hätten sie nichts gelernt aus der massiven Kritik nach dem Amoklauf in Erfurt.
Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs, auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe:
• Auch Lokaljournalisten brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von Emotionen übermannen zu lassen und um Verantwortung zu klären.
• Lokaljournalisten brauchen Nähe, um mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, um Unerklärliches doch erklären zu können und sei es bruchstückhaft.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
„Kein anderes Medium hat ein besseres Image als die Tageszeitung“
Die journalistische Stärke der Zeitung hebt Inga Scholz heraus, die neue Geschäftsführerin der Zeitungsgruppe Thüringen (zu der die TA, die OTZ und die TLZ gehören). Ein Auszug aus ihrer Rede beim Neujahrsempfang der Zeitungsgruppe:
80 Prozent der Deutschen lesen Zeitung – als gedruckte Version oder im Netz. Die Zeitung ist auch im Netz die Nachrichtenquelle Nummer 1. Und damit ist Zeitung auch weiterhin das erfolgreichste Informationsmedium, schneller und lebendiger als je zuvor.
In dieser Diskussion um die Zukunft gilt es zu unterscheiden zwischen einer Debatte um Verbreitungskanäle und Kommunikationsinhalte.
Die Diskussion beinhaltet etwas ganz anderes: Es geht um den Wert von Verlässlichkeit, um die Glaubwürdigkeit von Information. Mit der ständig wachsenden Informationsflut wird die Verlässlichkeit der Informationsquelle immer bedeutender. Das ist gut für uns Zeitungen, denn damit steigt auch die Bedeutung von seriösen journalistischen Inhalten.
Zeitung ist vertrauenswürdig. Zeitung ist seriös: Sie kennen die Absender und wissen, wer beschreibt, einordnet, bewertet. Unsere Zeitungen geben den Thüringern Verlässlichkeit, Heimat, Zugehörigkeit und Orientierung. Wir sind mit den Menschen im Freistaat untrennbar verbunden, weil wir die gleiche Geschichte haben, wir leben hier, wir sind hier zu Hause, so wie Sie: Wir können Ereignisse aus thüringischer Sicht einordnen, wir sind Verbündeter und auch Spiegelbild des Lebens – ob im Netz oder als gedruckte Version.
27 Millionen Deutsche lesen Zeitungen online im Netz. Damit haben die deutschen Tageszeitungen mehr Nutzer als T-online oder „ebay“…Kein anderes Medium hat ein besseres Image als die Tageszeitung – und unsere Werbekunden profitieren davon: Konsumenten vertrauen Zeitungswerbung von allen Werbegattungen am meisten. Sie vertrauen der Marke Zeitung – das hat mit Papier nichts zu tun, sondern mit dem Absender der Botschaft.
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution + 57 Wie können Zeitungen überleben)
Die „Süddeutsche“ verarscht
Wieviel Umgangssprache verträgt die Zeitung? Die Süddeutsche wird großzügiger. Nico Fried schreibt im Silvester-Leitartikel:
Gleichwohl fühlen sich auch hierzulande viele Bürger schnell und oft von der Politik verarscht.
Damit die Leser merken, dass „verarschen“ kein Ausrutscher war, schreibt Fried wenige Zeiten weiter über das Vertrauen in Politiker:
Oder auch beim Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, zumindest bis herauskam, dass der die Leute schon verarscht hatte, bevor er ein richtiger Politiker geworden war.
Fordern die Leser einer seriösen Zeitung die Umgangssprache, ja Gossensprache? Wer sich in Leserkonferenzen setzt, hört das Gegenteil: Die Sprache ist für viele ein Maßstab für Seriosität; Umgangssprache gilt als Beleg für den Boulevard.
Es kommen schon Leserproteste, wenn ein Redakteur „klaut“ in die Überschrift schreibt statt „stiehlt“ – weil es besser passt. Es ist nutzlose Anbiederung, wenn wir schreiben, wie die Leute sprechen (aber nicht schreiben!).
Wir müssen den Leuten aufs Maul schauen, um zu erfahren, über was sie sprechen und sprechen wollen. Aber wir müssen nicht so derb reden, wie die Leute gerne reden – weil Vertrauen nichts mit „verarschen“ gemein hat.
(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen)
Facebook-Reaktion von Alexander Marinos (Generalanzeiger, Bonn) am 1. Januar 2013:
Naja, es ist gewissermaßen ein indirektes Zitat. Er benutzt die Sprache Peter Strucks. Da die Anführungszeichen wegfallen, fehlt allerdings das unmittelbare Distanzierungssignal. Das ist grenzwertig.
Paul-Josef Raue: Ich kenne die indirekte Rede. Aber ein indirektes Zitat? Mir ist jedenfalls nicht klar geworden, dass der Kommentator zitiert. Und warum zitiert er ausgerechnet „verarschen“?
Alexander Marinos
Er zitiert zu Beginn des Kommentars Struck wörtlich und greift das hier in direkter Rede zitierte böse Wort später wieder auf. Ich verstehe das so, dass er sich einen zunächst fremden Duktus später zu eigen macht, weil ihm die unverblümte Art Strucks zu reden offenbar gefällt. Ihnen gefällt das nicht, mir auch nicht – da sind wir einer Meinung.
Kein Grund für linksintellektuelle Schwermut: Das Zeitungssterben fällt aus
„Die allermeisten Verlage stehen grundsolide da“, schreibt Chefredakteur Armin Maus im Samstags-Essay der Braunschweiger Zeitung über die Insolvenz der Frankfurter Rundschau und das Ende der Financial Times Deutschland. Wie stark Zeitungen seien, werde verschwiegen, weil es schlecht ins Untergangsszenario passe. Stattdessen könne man viel Unfug vom „Zeitungssterben“ lesen.
Selbst eine gut gemeinte Titelgeschichte in der Zeit, in der viel Kluges über Qualität und Verantwortung zu lesen ist, war überschrieben: „Wie guter Journalismus überleben kann“. Diese Schlagzeile transportiert ein Bild, das in seiner pathetischen Schwarzfärbung vom Hang des linksliberalen Intellektuellen zur Schwermut zeugt.
Maus kritisiert Medienwissenschaftler, Experten und Politiker und bescheinigt ihnen ein Niveau zwischen Nostradamus und Radio Eriwan, wenn sie aus unterschiedlichen Geschichten die eine vom Zeitungssterben bastelten:
- Medienwissenschaftler, hochgebildete Intellektuelle, sprechen über eine Realität, die sie mangels praktischer Erfahrung nur aus zweiter Hand kennen.
- Experten, deren Geschäftsmodell auf der These beruht, die Verlage machen ohne sie alles falsch, rezensieren vom Turme herab.
- Politiker, die die These vertreten, Tageszeitungen seien „ja nicht mehr so wichtig“.
Armin Maus stellt die Erfolge der Tageszeitungen heraus, die zu den wichtigen Faktoren des öffentlichen Lebens gehöre:
- Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine vergleichbare Vielfalt. Deutschland spiegelt sich in seinen Regional-Zeitungen.
- 47 Millionen Menschen lesen in Deutschland täglich Zeitung.
- Leser schätzen die Unabhängigkeit der Redaktionen. Die Staatsferne, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk für sich reklamiert, ist bei den Zeitungen Realität.
- Die Tageszeitung genießt bei den Bundesbürgern höchstes Vertrauen, liegt weit vor der „Tagesschau“.
- Das Vertrauen gilt auch für junge Leute, die sich in beachtlicher Zahl weigern, „keine Zeitung mehr zu lesen“, obwohl es allenthalben von ihnen behauptet wird.
- Die Zahl der Leser, die ein Abonnement bezahlt, ist leicht rückläufig. Nimmt man allerdings die Reichweiten der Internetangebote der Verlage dazu, sieht das Bild schon anders aus. Denn auch Leser, die keine Papierzeitung wünschen, schätzen die Informationen, die ihnen eine unabhängige Redaktion anbietet.
- Als Werbeträger haben die Zeitungen unbestreitbar an Boden verloren. Aber es gibt zum ersten Mal eine intensive Zusammenarbeit der wichtigsten Verlage, die die Schaltung bundesweiter Kampagnen erleichtert.
- Zeitungshäuser – Springer allen voran – sind auf dem Weg zum Multimedia-Anbieter.
(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 53-57 Die Zukunft der Zeitung)
Ude (2): Die hohe Kunst des Lokaljournalismus
Wenn Münchens Oberbürgermeister verstehen will, was seine Verwaltung schreibt, schaut er in den Lokalteil der Zeitungen: „Ich verstehe viele Vorlagen nicht. Aber seriösen Zeitungen gelingt es, den wesentlichen Inhalt zu vermitteln.“ Das eine, die Leistung der Lokaljournalisten, sei eine Kunst; das andere, die Verwaltungssprache, ein Milieu-Schaden.
So sprach Christian Ude bei der Lokaljournalismus-Konferenz des Netzwerk Recherche in München (9. November 2012). Daraus abzuleiten ist die Forderung an die Lokaljournalisten: Übersetze die Verwaltungssprache in ein verständliches Deutsch, damit es nicht nur der Oberbürgermeister verstehen kann, sondern jeder Bürger deiner Stadt!
Eine weitere Kunst, die Lokaljournalisten beherrschen, lobte Ude: Aus einer neunstündigen Sitzung das Wesentliche zu destillieren. „Wir profitieren davon!“ – und meinte mit „wir“ die Politiker. Auch daraus kann man eine Forderung formulieren.
Eine dritte Kunst hob Ude hervor: „Als Korrespondent in Südamerika ist es völlig wurscht, was sie schreiben, im Lokaljournalismus muss jede Zahl und jeder Vorname stimmen, zumindest bei einem Stadtrat. Die öffentliche und soziale Kontrolle ist nirgends so enorm wie im Lokaljournalismus.“ Daraus folgert Ude: „Das hohe Selbstwertgefühl der Lokaljournalisten ist durchaus berechtigt.“
So lassen sich die Ude-Regeln der Lokaljournalisten-Kunst formulieren:
1. Schreibe so, dass dich jeder versteht, sogar der Oberbürgermeister!
2. Hole das Wesentliche aus jeder langen Sitzung, aus jeder Versammlung heraus!
3. Recherchiere sorgfältig, weil dich jeder kontrollieren kann!
Eine vierte Regel fügte er an: Kontrolliere die Mächtigen! Sei Wächter der Demokratie! Diese Regel formulierte Ude als Kompliment: „Man muss Lokaljournalisten fürchten!“
Die Wächterfunktion sei notwendig, denn – so Ude – „alle Menschen jeglicher Couleur neigen zum Machtmissbrauch, wenn sie nicht von außerhalb kontrolliert werden.“ Zu schreiben, was verschwiegen werden soll, sei die vornehme Aufgabe der Lokaljournalisten.
Wie er selber einmal in seiner Jugend wenig sorgfältig, aber dennoch erfolgreich gewesen war, erzählte er vor hundert Gästen im Restaurant der Süddeutschen Zeitung:
Ich habe eine Musikkritik in der SZ geschrieben, ohne dabei gewesen zu sein. Ich hatte keine Lust, bin ins Textarchiv gegangen, habe mir eine entsprechende Kritik von Joachim Kaiser angesehen, die besten Passagen abgeschrieben – und mir stattdessen einen unvergesslichen Abend im Biergarten gegönnt.
Der Konzertverein hat sich bedankt: „Der Kritiker hat mit viel Herzblut geschrieben.“ Die Plattenfirma hat meine Kritik aufs nächste Plattencover gesetzt.
Die Macht des Lokaljournalisten erlebte Ude bei den großen Studenten-Demonstrationen 1968, bei denen die Schätzungen der Teilnehmer zwischen Polizei und Zeitung immer stark differierten – bis eines Tages der Polizeichef auf Ude zukam und ihn fragte: „Wären Sie mir 3000 einverstanden?“
Der Lokaljournalismus ist für Ude kein Sprungbrett nach oben, er ist schlicht der folgenreichste Journalismus, der Ernstfall, wo es auf jedes Wort ankommt. „Nirgendwo ist die publizistische Wirkung so erfolgreich.“
Ude plädierte für Seriosität und Hintergründigkeit gerade im Lokaljournalismus: „Ich wundere mich, wie viele Journalisten sich auf den Wettlauf um Aktualität einlassen, statt auf Qualität und Ausführlichkeit zu setzen. Der recherchierende Journalist wird immer wichtiger – und deswegen sage ich es auch in Anwesenheit der Geschäftsführung.“
(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 55 Der neue Lokaljournalismus + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)
Drei Gründe für den Niedergang der Frankfurter Rundschau
Die Frankfurter Rundschau meldet Insolvenz an. Der ökonomischen Absturz folgte der Hybris, als eine überregionale Zeitung gelten zu wollen; aber „Karstadt“ auf der Zeil als Werbekunde interessierte sich nicht für den Oberstudienrat in Husum, so dass die Expansion in grüne Deutschland mehr Geld kostete als sie einbrachte. Parallel war der journalistische Niedergang zu beobachten. Der hat drei Gründe:
1. Die Redaktion hat sich mehr mit sich selber als mit den Lesern beschäftigt. Es gab nach den achtziger Jahren, als die Grünen aufstiegen, keinen regionalen Lesermarkt mehr für eine politische Richtungs-Zeitung. Überregional hatte sich die Süddeutsche Zeitung als liberale, leicht nach links strebende Zeitung etabliert; die SZ hatte die stärkeren Autoren, recherchierte mehr und tiefer – sie bot eben mehr als starken Meinungsjournalismus.
Der Aufmacher der Montagausgabe (12.11.2012) ist aufschlußreich: „Grüne Wende“ beschreibt die Öffnung der Grünen „hin zu größeren Wählerschichten“. Was den Grünen gelang, hat die FR nicht geschafft: Sie öffnete sich nicht, sie blieb in ihrem alten Milieu.
2. Die FR hat sich nie als die Stadtzeitung für Frankfurt und den reichen Speckgürtel verstanden. Immerhin erscheint die Zeitung in der reichsten Region Deutschlands, hat eine potentielle Leserschaft, die für jeden Werber interessant sein musste. Doch in der Stadt und im Umland stiegen Bild-Frankfurt und die Frankfurter Neue Presse zu den Stadtzeitungen auf, die das Bürgertum bedienten. Noch ein Blick in die Montagausgabe: Von acht Themen, die auf der Titelseite angerissen werden, ist keines aus dem Rhein-Main-Gebiet.
3. Das Tabloid-Format ist ungeeignet für eine Regionalzeitung, die vor allem Familien erreichen will: Wer die Zeitung nicht teilen kann (Lokal-Sport-Mantel), sondern nur in einem Stück lesen kann, der verliert in der Familie den Überblick. Der gefeierte Tabloid-Fortschritt war ein Rückschritt, wahrscheinlich der entscheidende. Die Redaktion samt Verlag hat die Leserschaft, zumindest eine ausreichend große Leserschaft, nicht respektiert, erst recht nicht verstanden.
Dazu der Leitartikel von Gustav Seibt in der Süddeutschen vom 17. November 2012:
Als die Krise nicht mehr zu leugnen war, reagierten die Verantwortlichen panisch: Sie warfen ein altes, nur renovierungsbedürftiges Layout über Bord, änderten aber wenig an Kommentaren, die ausrechenbar geworden waren.
(zu: Handbuch-Kapitel 57 Wie können Zeitungen überleben)
„Welche Spielchen werden mit der freien Presse gespielt?“
Welchen Einfluss haben Politiker auf Redakteure? Diese Frage beschäftigt nach der CSU-ZDF-Affäre auch die Leser von Tageszeitungen. Ein Leser der Thüringer Allgemeine reagierte auf die TA-Samstags-Kolumne „Leser fragen“, in der die stetigen, aber erfolglosen Rügen der Politiker thematisiert waren:
Man „rügt“ Sie, wie Sie schreiben, „immer wieder“. Sind das etwa „Leute“, die an oder in der Regierung sind oder politische Pöstchen haben?
Hier denke ich an Herrn Dr. Strepp und das ZDF!
Ich frage Sie, Herr Chefredakteur, welche Spielchen werden mit uns und der ‚sogenannten‘ freien Presse gemacht in unserem schönen Thüringenland; der alte Vogel und Althaus sind doch nicht mehr da. Aber sicher gibt es neue Akteure, die Telefone bedienen können.
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortete in der TA:
Weder auf die Leser-Seite noch auf die Artikel der Redakteure haben Politiker einen Zugriff. In der Tat rufen Minister bisweilen an, mal in scharfem Ton, mal in gesteigerter Tonstärke, mal umwerbend, mal umarmend. Das ist ihr gutes Recht: Auch Politiker dürfen sich beschweren, dürfen rügen, dürfen loben.
Doch keiner spielt mit uns ein Spielchen. Wir haben einen großen Vorteil gegenüber einigen Redakteuren bei ZDF oder anderen öffentlich-rechtlichen Sendern: Wir werden nicht von Politikern kontrolliert; kein Redakteur, vor allem kein Leitender, verdankt seine Karriere einem stark politisch durchsetzten Gremium.
(zu: Handbuch-Kapitel 49 Wie Journalisten entscheiden sollten)
„Das Internet, eifersüchtige und unendlich anspruchsvolle Geliebte“ oder: Das Netz und die Konservativen
Man sehe sich an einem beliebigen Bahnsteig um, an dem viele Menschen warten, oder im Zug selbst und vergleiche diese Situation mit der von vor fünfzehn Jahren: Die ununterbrochene digitale Kommunikation mit Abwesenden lässt die Menschen wie Autisten, ja, von einem rein phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet, schon fast wie Geisteskranke aussehen.
Edo Reents sieht in den sozialen Netzwerken die „allgemeine Durchinfantilisierung“ der Gesellschaft:“Aus Leuten werden Kindern“ (FAZ 3. November 2012)
In derselben Ausgabe schreibt Jan Wiele in „Bilder und Zeiten“ über den ersten Social-Media-Pilger, der sich seine Schlafplätze über Twitter besorgt und unentwegt bloggt auf seinen zehntausend Kilometern durch Europa. Er schreibt der holländischen Königin, die beklagt hatte, das Internet fördere die soziale Kälte und verhindere Nächstenliebe:
Majestät, ich stimme mit ihnen darin überein, dass bestimmte soziale Werte heute im Verfall begriffen sind. Das sieht man auch im Internet, aber es wird nicht notwendigerweise durch dieses verstärkt… Der mittelalterliche Pilger trug nichts außer einer Schale und einem Löffel und fand Unterkunft mit gleichgesinnten Gläubigen. Ich habe ein iPhone und den Glauben daran, dass helfende Hände immer noch zu finden sind.“
Eine Ausgabe der FAZ, vier Mal die Auseinandersetzung mit dem Internet: Patrick Bahners berichtet über den amerikanischen Wahlkampf, in dem das Internet fröhlich herrscht. In Obamas Hauptquartier entdeckt Bahners den Chefwissenschaftler, der einst Modelle entwickelt hatte, mit denen der Endpreis einer Ebay-Auktion zu 96 Prozent vorherzusagen ist. Für Obama entwickelt der Chefwissenschaftler den „Dreamcatcher“, ein Programm, mit dem Wähler zu umgarnen sind.
Und auf der letzten Seite räsonniert der in Leningrad geborene US-Dichter Gary Shteyngart über das Ende des Lesens:
Im Grunde lesen die Amerikaner nicht mehr oder nicht mehr viel, weil sie so viel Zeit mit den Spielereien auf ihren iPads, iPhones und iPods zubringen. Diese Dinger und das Spielen führen zu einer echten Sucht. Manche Leute stehen inzwischen sogar mitten in der Nacht auf, um nach ihren E-Mails zu sehen. Unter solchen Umständen liegt es auf der Hand, dass die Literatur leidet
Und was passiert nach dem Ende der Literatur?
Zunächst einmal weniger Einfühlungsvermögen. Bücher machen es möglich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen… Außerdem bedeutet es weniger Introspektion, denn die ist der schlimmste Feind des Internets, dieser eifersüchtigen und unendlichen anspruchsvollen Geliebten. Und schließlich ständige Ruhelosigkeit, denn Ruhe ist vollkommen unvereinbar mit den neuen Technologien.“
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution)
Vorsicht: Ironie!
Leser schreiben auch vortreffliche Satiren – beispielsweise Karl-Ernst Schwartz aus Sondershausen in der Thüringer Allgemeine, als er während der Schulessen-Affäre auf die Frage reagierte: Warum waren nur ostdeutsche Länder von der Lieferung vergifteter Erdbeeren betroffen?
Das ist nur die Spitze des Eisberges. Um das dahinterliegende System zu verstehen, müssen wir in die Vergangenheit schauen:
Zuerst hat man uns Ostdeutschen unsere zwei Eriche genommen, von denen der eine uns besonders geliebt und dies auch öffentlich zum Ausdruck gebracht hat. Dann wurde der Hauptteil unserer Ersparnisse in harter DDR-Mark auf Wunsch des westdeutschen Großkapitals 2:1 abgewertet.
Anschließend verschleuderte die Treuhand unser Eigentum an modernsten Betrieben und Einrichtungen, wie wir fast jeden Tag in dieser Zeitung lesen können. Unsere Rentner kümmern mit ihren jämmerlichen, nicht angepassten Ostrenten dahin und verhungern reihenweise, auch hier fast täglich nachzulesen.
Nicht genug damit, unsere ostdeutsche Jugend, insbesondere die jungen, gut ausgebildeten Frauen, werden mit Versprechungen höherer Löhne und Gehälter in die Betriebe westdeutscher Ausbeuter gelockt, wer weiß, was dort mit ihnen geschieht.
Zu guter Letzt werden auch noch unsere ostdeutschen Kinder, von denen es sowieso nicht viele gibt, und möglicherweise unsere intellektuelle Elite, die Pädagogen, mit verseuchtem Schulessen, zum Hohn auch noch mit roten chinesischen Erdbeeren, vergiftet.
Das ist Völkermord! Wann schreitet endlich die UNO ein?
Die TA druckte die Satire, aber unter der Überschrift: Vorsicht Ironie!
(zu: Handbuch-Kapitel 38 Die Satire)
Phrasen: Vier Strategien für den Journalismus der Zukunft
Zeitungen und Zeitschriften müssen ihre Nutzer emotional binden, auch wenn ihnen das schwerer fällt als den elektronischen Medien, sagt Roland-Berger-Mitarbeiter Mogg in einer Studie laut Meedia. Er empfiehlt folgenden Strategie:
- „Der Community-Leuchtturm“: Die Interessen der Leser verstehen, um ihnen spannende Nischeninformationen anzubieten, lokal oder fachlich.
- „Wegweiser“: Gut recherchierte und exklusive Beiträge, einordnende Kommentare, verständliche Infografiken.
- „Hybrid Publishing“: Bessere Vernetzung von Online, Zeitung und Mobile.
- „Wachstum in neue Geschäftsfelder“ etwa „e-Commerce“.
Meedia nennt die Studie „eine bemerkenswerte ärgerliche Veröffentlichung“. Stefan Winterbauer: „Man kann sich nicht erinnern, wann jemals so viele Plattitüden zu einem Bündel verschnürt und als selig machende Weisheiten in die Welt hinausposaunt wurden. Jedem Medienpraktiker müssen sich bei der Lektüre dieser Berater-Fibel vor Grausen die Nackenhaare aufstellen.“
(zu: Handbuch-Kapitel Welche Zukunft hat der Journalismus)
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