Militärische Weichspül-Sprache: Von der Leyens nicht-letale Waffen (Friedhof der Wörter)
Der finale Rettungsschuss hört sich harmlos an, ist aber in der Regel tödlich. Der Kollateralschaden hört sich harmlos an, ist aber auch in der Regel tödlich.
Wenn Offiziere, ob beim Militär oder der Polizei, tödliche Waffen einsetzen, erfinden sie gerne Wörter, die eher an ein Fußballspiel in der Verlängerung denken lassen oder an zerbrechende Kaffeetassen – als an Menschen, die sterben, ob schuldig oder unschuldig.
In die Wörter-Sammlung der Verharmloser bittet in dieser Woche die „nichtletale Waffe“ um Aufnahme. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will Nicht-Letales ins Kurdengebiet liefern, also Waffen, die nicht töten sollen – aber töten können.
Nicht-letal ist beispielsweise Narkose-Gas, das in einen Raum gesprüht wird, um Menschen zu betäuben. Als Soldaten 2002 bei einer Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater eine zu hohe Dosis versprühten, starben 170 Menschen.
„Non-Lethal“ ist ein englisches Wort, das mit „nicht-tödlich“ zu übersetzen ist. Aber Minister und Soldaten sprechen nicht gerne vom Tod.
Das Fraunhofer Institut, eine angesehene Wissenschafts-Organisation, forscht nicht nur an neuen Waffen, sondern auch an der Sprache und schreibt auf seiner Internetseite: „Das Fraunhofer ICT sieht die aktuelle Aufgabe darin, die existierenden NLWs weiterzuentwickeln, zu verbessern und auszubauen.“
NLW sind nicht-letale Wirkstoffe, nur ein bisschen tödlich.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 18. August 2014
Europawahl-Parteiprogramme: AfD am unverständlichsten, SPD mit 87-Wörter-Bandwort-Satz (Friedhof der Wörter)
Warum gehen wahrscheinlich nur relativ wenige Bürger zur Europawahl? Weil sie nicht verstehen können, was die Parteien in Brüssel verändern wollen. Die Programme der Parteien sind jedenfalls, wenn es um die Verständlichkeit geht, eine Zumutung – auch wenn im Vergleich von drei Jahrzehnten die aktuellen Programme noch zu den verständlichsten gehören. Zu diesem Urteil kommen die Sprachforscher der Universität Hohenheim um Professor Frank Brettschneider.
Offenbar gehen die Wahlstrategen der Parteien davon aus, dass ihre Programme kaum gelesen werden; oder sie interessieren sich hochmütig nicht dafür, dass sie ihre Wähler in die Verzweiflung treiben mit solchen Begriffen:
> Drug Checking (Linke),
> Transition-Town-Bewegung (Grüne),
> Umsatzsteuerkarusellbetrug (CDU),
> konfiskatorische Staatseingriffe (AfD)
> Subsidiaritäts-Instrumentarium (FDP)
> one man, one vote (CSU)
Das unverständlichste Programm liefert die AfD, die angetreten war, alles besser zu machen als die etablierten Parteien. Alle liefern neben unverständlichen Wörtern auch Sätze mit ungezählten Bandwortsätzen bis zu 50 Wörtern und mehr.
Und wer holte die Europa-Bandwort-Krone? Den längsten Satz finden wir im Wahlprogramm der SPD:
Das Europa derjenigen, die sich mit Energie und Kraft für Frieden und Menschenrechte einsetzen, die ohne Wenn und Aber für gesundes und sauberes Wachstum, gute Arbeit und starke soziale Rechte sind, die sich mit Empörung gegen die Dominanz der Finanzmärkte aussprechen, die sich an Entscheidungen in Europa beteiligen wollen und ihre Stimme zur Geltung bringen wollen, die bei den schrecklichen Fernsehbildern von verzweifelten Flüchtlingen an Europas Grenzen nicht die Augen verschließen, und diejenigen, die in der Europäischen Zusammenarbeit die einzige realistische Chance sehen, all dies zu verwirklichen.
Ein Ungetüm mit 87 Wörtern verstößt gegen die einfache Regel der Verständlichkeit: 20 Wörter reichen!
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Eine redigierte Version in der Thüringer Allgemeine 26. Mai 2014 (Kolumne: Friedhof der Wörter)
Wie miserabel Kommunikations-Wissenschaft kommuniziert (Friedhof der Wörter)
Wie informieren sich Bürger über Politik? Wie kommen Politiker mit Bürgern ins Gespräch? Wie reagieren die Bürger, viele verdrossen, auf Politik?
Intensiv informieren sich Bürger in ihren Zeitungen, vor allem wenn es um die lokale Politik geht. Nur lesen die Jungen immer weniger und wandern ab ins Internet. Verändert das nicht nur die Gesellschaft, also unser Zusammenleben, sondern auch die Politik?
Solche und ähnliche Fragen soll die Wissenschaft von der „Politischen Kommunikation“ beantworten – und zwar so, dass sie jeder in einer Demokratie verstehen kann.
Schauen wir in ein Buch, dass der Chef der „Thüringer Landesmedienanstalt“ herausgibt und vom Bürger, genauer: vom TV-Gebührenzahler, bezahlen lässt. Das Versprechen des Buchtitels ist groß: „Die politische Kommunikation in Deutschland“.
Wer so angespornt durch 350 Seiten stolpert, liest vom „plastischen Bild der Typologie individueller politischer Kommunikation“, von der „Stabilität auf der Aggregatebene“, von „Internetdiffusion“, von der „begrenzten Zukunft für den Organisierten Extrovertierten und eine bedeutende Zukunft für den Bequemen Modernen“ – und das und noch viel mehr in einem 108 Wörter umfassenden Satz. Der Rest des Buchs ist ähnlich, ist wortschwallendes Schweigen, ist „liquide Demokratie“, die irgendwo ins Nichts fließt.
Am Ende bekommt das liquide Schweigen einen „Ausblick“: Die Welt ändert sich, die Gesellschaft ändert sich – aber wie? Das sind sich „an diese Arbeit schließende Forschungsfragen“. Es gibt also eine Fortsetzung, und die Landesmedienanstalt wird schon zahlen.
Zum guten Ende der komplette 108-Wörter-Satz aus „Politische Kommunikation in Deutschland – Eine typologische Längsschnittanalyse individuellert politischer Kommunikation“ von Angelika Füting (Vistas-Verlag), Seite 285:
Die Zusammenfassung der Ergebnisse zeichnet das plastische Bild der Typologie individueller politischer Kommunikation in Deutschland, resümiert die Stabilität auf der Aggregatebene und weist auf die wenigen Stammmitglieder auf der Individualebene hin, stellt den internetaffinen und jungen Bequemen Modernen vor dem Hintergrund der Internetdiffusion als den relevantesten Typ heraus, leitet aus der Altersstruktur eine begrenzte Zukunft für den Organisierten Extrovertierten und eine bedeutende Zukunft für den Bequemen Modernen ab, zeigt mit der Gegenüberstellung des Bequemen Modernen und des Organisierten Extrovertierten den Wandel in der politischen Kommunikation durch das Hinzutreten des Internets und weist auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Bequemen Modernen und Digital Natives bzw. der Internet-Generation hin (Kapitel 6.6.)
Thüringer Allgemeine 24. Februar 2014, Kolumne „Friedhof der Wörter“: Wenn Demokratie flüssig wird (hier erweiterte Fassung)
FACEBOOK-Kommentare
Raphael Raue (22.2.14)
Wenn man nichts versteht, dann sind immer die anderen Schuld? Sicher ist der im Artikel zitierte Satz mehr als unglücklich, aber daraus ein Vorfahrtsschild des journalistischen Schreibens zu konstruieren ist es ebenso. Eine Welt, in der nur der für jedermann verständliche Satz Bedeutung haben darf, wäre doch eine äußerst arme Welt, oder nicht?
Paul-Josef Raue (22.2.14)
Ach, Ihr Philosophen! Es kommt darauf an, die Welt zu verstehen. Also gebe ich mir Mühe, so zu schreiben, dass all die verstehen, die ich erreichen will. Ja, ich bin es schuld, wenn ich nicht verstanden werde: Ich gebe mir Mühe, und ich verlange nicht, dass sich der andere Mühe geben muss – um mich überhaupt zu verstehen.
Schreibe ich für eine Fachwelt, dann will ich auch nur von Wenigen verstanden werden: Also darf ich oder muss sogar eine eindeutige Spezialistensprache nutzen, so wie es Ärzte tun oder Piloten im Landeanflug.
Wer aber über Kommunikation in der Demokratie schreibt, wer sich seine Forschung vom Bürger bezahlen lässt, der hat sich gefälligst Mühe zu geben, um von allen verstanden zu werden. Und wenn er – wie in diesem Buch – nichts zu sagen hat, sollte er schweigen – und sich nicht hinter Soziologen-Jargon verstecken.
Das gilt übrigens in besonderem Maße für Journalisten: Schreib, damit sie Dich verstehen!
Ulf-Jochen Froitzheim (22.2.14)
„Eine Welt, in der nur der für jedermann verständliche Satz Bedeutung haben darf, wäre doch eine äußerst arme Welt, oder nicht?“
Eine arme Welt ist eine, in der sich Menschen keinerlei Mühe geben, für jedermann verständlich zu reden oder zu schreiben. Noch ärmer ist eine, in der Menschen etwas „ins Soziologische“ übersetzen, um ihre Fachwelt abzuschotten gegenüber denen, die mit ihren Steuern das Gehalt bezahlen.
Raphael Raue (22.2.14)
Zu Paul: Zustimmung. Deshalb wirkt das Buch unglücklich und Luhmann eben nicht.
Zu Froitzheim: Ich verstehe Sie einfach nicht.
Ulf-Jochen Froitzheim (22.2.14)
+Raphael Raue: Wenn Sie mich nicht verstehen, wie können Sie dann Füting oder Luhmann verstehen?
Um noch eins draufzusetzen: Wer einen Satz aus 108 Wörtern drechselt, muss(te) schon Dieter Hildebrandt heißen, damit kein Affront gegenüber seinem Publikum draus wird.
http://www.youtube.com/watch?v=mrSC6ylBGl0
Manuela Cranz (22.2.14)
wobei unverständliche Schreibe, kryptische Fachsprechsatz-Versatzteile meiner Erfahrung nach praktisch immer auf Faulheit des Schreibers hindeuten. Oder darauf, dass er selbst nicht verstanden hat, was er anderen Menschen eigentlich erklären sollte (und zu feige war, oft genug nachzufragen). Das Fach-Chinesisch wird oft aus Unsicherheit verwendet, weil Kollegen es für eine Art Sicherheitsnetz halten, das davor bewahrt, sich beim Schreiben als Nichtversteher zu outen. Manchmal muss man halt drei Mal fragen: Es kann ja auch dran liegen, dass der Experte nicht gut im Erklären ist.
Wolf Schneider: Wie Churchill mit „Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen“ die Seele des Volkes traf (Luther-Disput 2)
Ein Professor hätte Churchill 1940 geraten, die Engländer aufzufordern „zu einer Mobilisierung aller nationalen Energiereserven und zu einem Paradigmenwechsel und ihrer Einstellung zur Lebensqualität“. Aber Churchill wählte vier einfache Worte – die Wolf Schneider beim Luther-Disput der Thüringer Allgemeine empfiehlt.
Im zweiten Teil des Disputs geht es um die freie Rede: Führt der Heilige Geist den Prediger zu einer guten Rede? Oder weltlicher ausgedrückt: Gibt es eine Inspiration, der ein guter Redner einfach nur folgen muss?
Darauf antwortet Pfarrer Felix Leibrock, der die evangelische Akademie in München leitet:
Das ist Unsinn! Von einer solchen Predigt-Lehre, die besagt, man brauche sich nur hinzusetzen und der Heilige Geist wehe einem die Worte zu, halte ich nichts. Der Heilige Geist ist für etwas anderes gut.
Ich muss schon selber um die Worte ringen. Friedrich Nietzsche sagte einmal: Den Stil verbessern heißt, den Gedanken verbessern. Darum arbeite ich am Stil eines Textes.
Und – wie wäre es mal wieder mit mehr freier Rede! Der Augustinermönch Abraham a Sancta Clara, ein großer Prediger im 17. Jahrhundert in Wien, ließ von einem Ministranten auf der Kanzel Bibelstellen zufällig auswählen und hat dazu gepredigt. Als Mitbrüder die Bibel eines Tages versteckten, predigte er eine Stunde über das Nichts.
Das ist ein Weg, den wir heute viel zu selten gehen. Wir haben viel zu viel Angst, etwas Falsches zu sagen.
Wolf Schneider:
Ich bin durchaus ein Freund der freien Rede – wenn man sie beherrscht. Will sagen: Es zu können ist fabelhaft, sich darauf zu verlassen, halte ich für gefährlich.
Eine der wirksamsten Reden des 20. Jahrhunderts hielt Winston Churchill. Im Jahr 1940 wollte das englische Volk auf Adolf Hitlers Waffenstillstands-Angebot eingehen. Premier Winston Churchill hielt seine Rede von Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen – und drehte die Stimmung. Historiker und Philologen sind sich einig, dass diese Einsilber „Blood, sweat, toil and tears“, die in die Tiefe des Gemüts gingen, die Meinung des Volkes trafen.
Aber die sind Churchill natürlich nicht spontan eingefallen, an denen hat er hart und in großer Qual gearbeitet. Ein Professor hätte ihm geraten, die Engländer aufzufordern „zu einer Mobilisierung aller nationalen Energiereserven und zu einem Paradigmenwechsel und ihrer Einstellung zur Lebensqualität“.
Churchill hat die ausgearbeitete Rede in furchtbarer Qual auswendig gelernt und dann grandios vorgetragen. So macht man Geschichte.
Felix Leibrock:
Das ist der richtige Weg: eine Rede vorbereiten, aufschreiben, sie auswendig lernen – das schult auch das Gedächtnis. Und dann kommt beim Reden noch das eine oder andere Spontane hinzu.
Kennen Sie, Herr Schneider, einen Politiker, der das beherrscht? Helmut Schmidt – „Schmidt-Schnauze“ beispielsweise?
Wolf Schneider:
„Schnauze“ beschreibt ja schon, dass er flott mit dem Mundwerk war. Große Sätze hat er aber nicht geprägt. Da wird heute viel verklärt. So lange er Bundeskanzler war, war Schmidt nicht halb so gut wie heute.
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FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
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Zweiter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Ein Leser ist empört, weil sein Brief über das Versagen der Politik gekürzt wurde
„Es ist zum Kotzen!“ schreibt ein Leser über Politiker und ihre Politik – und beschwert sich darüber, dass die Redaktion diesen Ausspruch und andere Sätze mehr gekürzt hat in seinem rund 3500 Zeichen langen Leserbrief:
„Ich muss unterstellen, dass der Inhalt aus Gründen eben der Political Correctness absichtlich „entschärft“ wurde, so wird z. B. keiner der Namen aktiver Politiker, um die es in meiner Zuschrift ging, nach der Kürzung noch erwähnt. Das, was vom eigentlichen Anliegen übrigblieb, war nicht nur gleich Null.
Der veröffentlichte Rest erscheint, da aus dem Kontext gerissen, banal bis albern, so dass ich mich dafür schäme, dass mein Name darunter steht. Ein weiterer Grund, diese kastrierte Zuschrift zu veröffentlichen, mag evtl. Ihrerseits der Zwang sein, einen noch leeren Platz auf der Leserseite zu füllen.
Das war in der Thüringer Allgemeine die Antwort des Chefredakteurs:
Sehr geehrter Herr Richter,
ich bin nicht erbost, möchte mich aber bei Ihnen noch unbeliebter machen: Mir ist diese Art von Kritik an unseren Politikern zu billig.
Sie schreiben in den nicht abgedruckten Teilen Ihres Briefes zum Beispiel über die SPD-Generalsekretärin Nahles:
„Eine Frau, die noch nie etwas anderes getan hat, als auf Beratungen und Konferenzen rumzusitzen, weil gar nicht, was Verantwortung heißt, geschweige denn hat sie jemals welche tragen müssen.“
Woher wissen Sie das, Herr Richter? Haben Sie schon einmal einen Tag mit der Politikerin verbracht?
Über Carsten Schneider schreiben Sie in Ihrem Brief:
„Ihn qualifiziert eine Lehre als Schalterbeamter in einer Bank und einigen angelesenen Binsenweisheiten, die jeder Zeitungsleser auch in Talkshows vortragen könnte.“
Was haben Sie gegen einfache Bürger wie „Schalterbeamte“? Schadet es unserer Demokratie, wenn sie im Parlament sitzen? Wollen wir nur Professoren und hochbezahlte Manager im Parlament, um die Finanzkrise zu bewältigen?
Wie gesagt: Populistischen Ausbrüche sind mir zu billig, politische Korrektheit hin oder her. Ich frage dagegen: Machen wir nicht unsere Demokratie verächtlich, wenn wir alle Politiker verspotten?
Ich bin überzeugt: Wir stärken unsere Demokratie, wenn wir unsere Volksvertreter ernst nehmen und beim Wort; wenn wir sie kontrollieren und nichts durchgehen lassen; wenn wir sie bei kleinen und großen Verfehlungen, die wir aber klar aufdecken müssen, dem Urteil der Öffentlichkeit aussetzen – und notfalls auch den Ermittlungen von Staatsanwälten und den Fragen von Richtern.
Wir alle tragen in einer Demokratie Verantwortung, das Volk ebenso wie die Volksvertreter. Es hilft keinem, Politiker abzuwatschen – wie in Ihrem Brief: „Keinerlei Lebenserfahrung, keinerlei Ahnung davon, was es heißt, Verantwortung für irgendetwas zu tragen! Es ist zum Kotzen!“
Übrigens bekommen wir viele Briefe unserer Leser, so viele wie nie zuvor – so dass wir niemals „leeren Platz“ füllen müssen, sondern nur einen kleinen Teil drucken können, in der Regel kurz und treffend.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 14. Dezember 2013
Politiker wollen nicht verstanden werden (Friedhof der Wörter)
Ob die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag wirklich lesen, bevor sie abstimmen? Und ob sie ihn auch verstehen?
Wahrscheinlich versteht ihn nur eine Minderheit, die eine Freude daran hat, Ungetüme wie „Thesaurierungsregelegungen“ oder „Schnellreaktionsmechanismus“ genüsslich zu zerlegen und einen Sinn zu finden.
Sprachforscher der Universität Hohenheim haben den Vertrag analysiert, nein: Sie haben ihn buchstäblich auseinandergenommen – und sind entsetzt. Sprach-Professor Frank Brettschneider:
Die mangelnde Verständlichkeit des Koalitionsvertrags ist enttäuschend. Alle Parteien haben sich Transparenz und Bürgernähe auf ihre Frage geschrieben. Damit die Bürger eine begründete Bewertung vornehmen können, sollten die Koalitionspartner ihre Absichten klar und verständlich darstellen.
Und das tun sie nicht.
Selbst die für den Normalbürger kaum lesbare Doktor-Arbeit eines Politikwissenschaftlers ist im Durchschnitt verständlicher als der Vertrag. Warum? Wir lesen Schachtelsätze mit Fachchinesisch, Fremd- und Fachwörtern, meist ohne Erklärung sowie Wortungetüme und viel zu lange Sätze.
Wollen die Politiker wirklich verstanden werden? Die Wissenschaftler haben Zweifel: „Sie nutzen abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ „Taktische Unverständlichkeit“ nennt dies der Sprach-Professor.
Einige Beispiele gefällig: „Flächenneuinanspruchnahme“, „Interoperalibiliät“ – und der „Landesbasisfallwert“.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 9. Dezember 2013
„Lexikon des Grauens“: Stuckrad-Barre entdeckt die Sondersprache von Politiker und Politikjournalisten
Was Benjamin von Stuckrad-Barre die „furchterregende politische Sondersprache“ nennt, ist meist nur schlechtes Deutsch. Einige Beispiele aus seinem Lexikon, das die Welt-am-Sonntag online anbietet und in Auszügen in der Zeitung (3. November 2013) stand:
> angriffslustig hinterm Rednerpult tänzeln
> Aus welchem Topf das bezahlt werden soll, ist noch offen
> Balsam für die geschundene Parteiseele
> Das Urteil der Karlsruher Richter kommt einer Ohrfeige gleich
> frisches Geld / Geld in die Hand nehmen / Geld in die Kassen spülen
> Front machen
> Geburtsfehler des Euro
> Geschlossenheit demonstrieren
> Gesprächsbedarf
> handfeste Gründe
> ergebnisoffen
> nachhaken / nachbessern
> quecksilbriger Politikstil der Kanzlerin
> rumeiern
> schrillende Alarmglocke
> umgarnen
> zielführend
Und alles mit „im“ und „in“:
> im Alleingang / im Aufwind befindlich / im Bundesrat durchwinken / im Hintergrund die Fäden ziehen / im kleinen Kreis / im politischen Berlin ein Beben auslösen / im Portemonnaie spüren / im Rest der Republik / im Vorfeld klare Zielvorgaben abstecken /
im Zustimmungstief verharren / in aller Deutlichkeit / in aller Ruhe prüfen / in den Senkel stellen / in der Sache keinen Millimeter von der Position abrücken / in die Schranken weisen / in puncto Strompreisbremse / in Sachen KlimapolitikUnd alles mit „mit“:
> mit aller Entschiedenheit zurückweisen / mit Augenmaß / mit Blick auf die kommende Landtagswahl/den EU-Gipfel in Brüssel/die jüngsten Umfragewerte / mit einer Ansicht nicht/ziemlich allein dastehen / mit heißer Nadel gestrickt / mit im Boot sein / mit leeren Händen dastehen / mit Murren/grummelnd zur Kenntnis nehmen / mit Nachdruck / mit stolzgeschwellter Brust
„Zuhören mag da niemand mehr, deshalb gilt ab sofort ein Verbot für die Begriffe und Formeln“, bestimmt Stuckrad-Barre. Da müssen wohl die meisten Pressemitteilungen und Artikel ungeschrieben bleiben. Und die Zeitungen werden dünner.
Der Teesack-Schlepper oder: Wenn die Wörter ihre Unschuld verlieren (Friedhof der Wörter)
„Du Teesack-Schlepper, du!“ Man muss Amerikaner sein, um den eintönigen Beruf zum Schimpfwort zu erwählen. „Tea-bagger“, also Teesack-Schlepper – so nennt der älteste Politiker im US-Senat, der 87-jährige John Dingell, seine ärgsten politischen Gegner bei den Republikanern. Und im Streit um den Haushalt und die drohende Pleite des Staates ist jedes Schimpfwort recht.
Wer das Tee-Baggern verstehen will, muss in die amerikanische Geschichte reisen: 1773 warfen Bostoner Bürger, verkleidet als Indianer, 350 Tee-Säcke von einem britischen Schiff ins Hafenwasser – aus Protest gegen Steuern, die die Kolonialherren in London erhöht hatten, und gegen die Besatzer überhaupt. Die Bostoner „Tea-Party“ ging in die Geschichte ein, das Museum gehört zu den meistbesuchten in Boston, und die radikalsten Konservativen in den USA nennen sich nach den alten Widerstandskämpfern stolz: Tee-Partei, „tea-party“.
Dieser kleine radikale Flügel der Republikaner mag weder einen starken Staat noch Steuern und blockiert den Haushalt der Weltmacht. Diese Geschichte aus der Geschichte liegt in dem Schimpfwort „Teesack-Schlepper“.
Aber damit nicht genug: Der „Tea-bagger“ ist auch schlüpfrig geworden, gibt neuerdings einer eher ungewöhnlichen sexuellen Praxis den Namen; sie in einer Zeitung zu beschreiben, die eine Kinderseite anbietet, verbietet sich.
So verliert die Sprache immer wieder ihre Unschuld: Erst mühen sich die Leute mit den Teesäcken ab, um Frau und Kinder zu ernähren; dann verwandelt sich ihr ehrenwerter Beruf in ein Schimpfwort – und am Ende kommt eine Sauerei heraus.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 5. Oktober (aus einer lesenswerten Reportage von Nicolas Richter über die ungeliebte Hauptstadt Washington im Haushaltsstreit)
Thüringer Allgemeine, geplant für den 14. Oktober 2013 (Kolumne „Friedhof der Wörter“)
Liquiditätsanforderungen – Wortungetüme in Wahlprogrammen (Friedhof der Wörter)
Die Parteiprogramme sind schwer verständlich, zum Teil unverständlich – so urteilen die Forscher der Universität Hohenheim. Ging es in der vergangenen Kolumne um Wortungetüme bis zu 47 Zeichen, stehen heute die Fremd- und Fachwörter am Pranger.
Die CDU mag Anglizismen wie „Sharing Economy“, aber auch schwer verständliche Fachwörter wie „Reservekapazitäten“. Fachleute mögen die Wörter verstehen, aber der normale Wähler kapituliert – und weigert sich, im Programm weiterzulesen.
Die FDP plagt ihre Wähler mir „Liquiditätsanforderungen“ und „Evaluation“.
Die SPD jagt sie in die „Deindustrialisierung“, den „Ressourcenverbrauch“ und die „Innovationstätigkeit“.
Die Grünen mögen auch den „Ressourcenverbrauch“ wie der gewünschte Koalitionspartner, aber bieten auch den „Wohlstandsindikator“ und „Klientelinteressen“ an.
Die Linke setzt aufs „Profiling“, die „Substitionstherapie“ und „Private-Equity-Gesellschaften“.
Die Piraten treiben es am heftigsten und umarmen englische Wörter, als hätten all ihre Wähler mindestens ein paar Semester in Oxford verbracht: „Fissile Material Cutoff Treaty“, „Comprehensive Test Ban Treaty“ und kurz, aber unverständlich: „Plenen“.
Die Parteien haben sich viel Arbeit gemacht, aber sie erreichen ihre Wähler mit solchen Wörtern nicht. Warum nur, warum beherzigen sie nicht, was die CDU in einem „Leitfaden für gute Sprache im Wahlkampf“ ihren Kandidaten auf den Weg gibt: „Sprechen Sie einfach, bildhaft, emotional.“ Na bitte!
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter für den 9. September
Zeitung ist für die Bürger da – und nicht Bürger für die Zeitung
Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
Markus, 2. Buch, Vers 27
Dies ist der Urtext des Respekts, er gilt für alles Denken und Handeln, das den Menschen ins Zentrum stellt und nicht Regeln, Gesetze und Ideologien, auch nicht Politiker, Gurus und Journalisten. Die biblische Geschichte erzählt von hungrigen Jüngern und Pharisäern: Die einen rupfen Ähren aus, um die Körner zu essen; die anderen verweisen auf das Gesetz Moses, am Sabbat prinzipiell nichts zu tun.
Man muss nicht gläubig sein, um den uralten Satz immer wieder zu nutzen:
+ Der Staat ist für die Bürger da, und nicht der Bürger für den Staat (beispielsweise in der Debatte um die Überwachung der Bürger).
+ Der Journalist ist für die Leser da, und nicht Leser für den Journalisten (beispielsweise in der Debatte, ob Redaktionen die Wünsche ihrer Leser zu erfüllen haben).
Der Mensch im Zentrum, der Bürger im Zentrum, der Leser im Zentrum – das ist die Idee der Demokratie, die Idee des Journalismus in der Demokratie. Eine Aufforderung zur Anarchie ist sie nicht: Es geht nicht darum, alle Regeln zu brechen; es geht darum, Regeln nicht absolut zu setzen.
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