Alle Artikel mit dem Schlagwort " Sprache"

Wolf Schneider über geschlechter-gerechte Sprache: Ich habe ihr öffentlich den Krieg erklärt

Geschrieben am 8. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Beim LUTHER DISPUT der Thüringer Allgemeine stritten Wolf Schneider und Pfarrer Felix Leibrock aus Thüringen über die geschlechter-gerechte Sprache:

Wolf Schneider: Ich habe dieser Sprache öffentlich den Krieg erklärt. Ich polemisiere dagegen, wo es nur geht. Ich finde sie Schwachsinn, von Alice Schwarzer durchgesetzter und von Gewerkschaften betriebener und von Betriebsräten, Politikern und leider auch Theologen übernommener Schwachsinn. (weiblicher Applaus, aber nicht die Mehrheit)
Dazu muss ich sagen: Diese Sprache geht von der törichten Vorstellung aus, das natürliche Geschlecht habe etwas mit dem grammatischen Geschlecht irgendetwas zu tun.
Nein! Bekanntlich heißt es „das Weib“, das ist schon ein Skandal; es heißt „der Löwe“, aber: „das Pferd“ und „die Schlange“. Das grammatische und das natürliche Geschlecht stehen in keinerlei Zusammenhang. Noch darf man sagen, München hat 1,3 Millionen Einwohner. Noch sagt man nicht Einwohnerinnen- und Einwohnermeldeamt, das ist gar nicht durchführbar.

Pfarrer Leibrock: „Die Einwohnenden“ kommt demnächst!

Schneider: Ein Bedürfnis der deutschen Sprachgemeinschaft, dies zu tun, gab und gibt es nicht. Ein Bedürfnis deutscher Schriftsteller und deutscher Journalisten gab und gibt es auch nicht. Es war eine ungeheure geschickte PR-Kampagne einer Gruppe militanter Feministinnen, die diese Sprache durchgesetzt haben. Meine Behauptung ist: Das ist 90 Prozent der Deutschen völlig egal.

Pfarrer Thomas Seidel aus Erfurt: Am Verrücktesten wird es bei „Christinnen und Christen“, das gibt es in der Tat. Christ steht allerdings als Synonym zu Mensch und ist nicht biologisch zu verstehen. Mir hat Katrin Göring-Eckardt mal gesagt: „Ich sehe das auch so, aber man muss das heute so sagen.“ Das ist das Verrückte: Man muss das heute ebenso sagen – auch ohne Sachgrund.

Leibrock: Ich finde diese Sprache nicht ganz verkehrt, wenn sie den Sprachfluss nicht zerstört. Das tut es sehr oft.
Ich arbeite jetzt in einem Bildungswerk; wir haben ein Veranstaltungsheft, und da kommen in jeder Veranstaltung fünf Berufsgruppen vor. Wir brauchen in der Vorschau doppelt so viel Platz, wenn wir jedes Mal die weibliche und männliche Form nutzen.
Ich habe ich meinen Mitarbeiterinnen gesagt: „Das ist absolut unverständlich, das kann ich nicht mittragen.“

Schneider: Stellenbeschreibung im Norddeutschen Rundfunk: „Der Intendant/ die Intendantin benennen seinen Stellvertreter/seine Stellvertreterin bzw. ihren Stellvertreter/ihre Stellvertreterin“ – das ist ein Satz der deutschen Sprache, der Unsinn ist. Dieser Unsinn hat abgeschafft zu werden!

Leibrock: Es ist aber auch eine Geschichte der Emanzipation – und die ist auch gut. Dass Frauen gleichberechtigt sind, das ist das Ziel hoffentlich aller; das Ziel ist noch nicht erreicht, wir sind da noch in einem Prozess. Insofern finde ich es nicht verkehrt und auch nicht anstrengend – eben wenn man den Sprachfluss nicht zerstört. Mir kommt es locker über die Lippen: „Die Predigerinnen und die Prediger“ – ich habe damit kein Problem und finde das auch nicht so verkehrt.

Schneider: Ich höre das mit wachsendem Misstrauen, dass es bereits Leute gibt, denen das locker über die Lippen geht. Ich dachte, sie hätten sich wenigstens einen Rest von Widerwillen bewahrt.

Leibrock
: Sie müssen es nur üben, Herr Schneider, wie guten Stil. Ich bin Mitglied einer Körperschaft und muss da auch gewisse Spielregeln anerkennen. Da gibt es auch Richtlinien, wie wir Texte schreiben – da können wir nicht einfach so schreiben, wie wir wollen. Sie, Herr Schneider, sind ein freier Mensch: Sie können schreiben, wie sie wollen,

Die Stadt Halle hat es per Ratsbeschluss untersagt, nur die männliche Form zu nutzen…

Leibrock:: Die Universität Leipzig geht noch weiter: nur die weibliche Form – „Herr Professorin“.

Schneider: Schrecklich!

 

Das Interview erscheint am 10. Januar 2014 in der Thüringer Allgemeine; das komplette Interview „Luther Disput“ am 11. Januar.

Der unverständlichste Germanisten-Satz des Jahres – und ein Toast auf Hermann Unterstöger und sein Sprachlabor

Geschrieben am 4. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Das Schönste am Samstagmorgen ist die Lektüre des „Sprachlabors“ von Hermann Unterstöger in der Süddeutschen. Über die Feiertage haben offenbar auch seine Leser keine Lust, Fehler in der Zeitung zu suchen, zu kritisieren und überhaupt so zu kritteln, dass sich ein Preuße graust (vielleicht gab es auch keine Fehler, weil der Genuss von Zimtsternen und Neujahrs-Champagner die journalistischen Sprachsinne schärft).

So bedient sich Unterstöger im ersten Labor des Jahres eines Leser-Klassikers der Sprachkritik: Die Stundenkilometer. Die standen „kürzlich“ in der SZ – übrigens auch ein Klassiker: „Kürzlich“ mögen vor allem Lokalredakteure, wenn sie einen Termin verpennt haben oder der Praktikant erst nach zwei Wochen zum Schreiben der Konzertkritik kommt – und die Nachrichten-Regel, stets das „Wann“ präzise anzugeben, als peinlich empfunden wird.

Also – die Stundenkilometer. Die Sprache sei, so Unterstöger treffend, nicht immer logisch; sie müsse „allem Prägnanten, Treffenden und Knappen gegenüber offen sein“ – so zitiert er die „Gesellschaft für deutsche Sprache“. Da er offenbar unentwegt in einem der vielen Sprachbücher liest (was nur selten ein Vergnügen ist), fand er in Eichingers „Deutsche Wortbildung“ einen schönen Beleg für „die Vielzahl von Relationen zwischen den Bestandteilen“ eines Worts: Tagwerk ist ja auch nicht Tag mal Werk, sondern: Das im Lauf eines Tages zu leistende Werk.

Herrn Unterstöger empfohlen seien zum Thema „Das Vergnügen, Bücher von Sprachwissenschaftlern zu lesen“ drei Sätze von Professor Peter Eisenberg aus dem Buch „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilden die Anglizismen so etwas wie einen Worthaufen mit wenig Struktur. Strukturiertheit liegt insofern vor, als die Stärke der Wortarten bei den entlehnten Wörtern der Entlehnbarkeitshierarchie entspricht und als das Deutsche unmittelbar seine Kompositionsfreudigkeit auf die entlehnten Einheiten überträgt. Schließlich auch insofern, als bei den morphologisch einfachen Wörtern einige phonologisch und graphematisch wirksame Integrationsmechanismen greifen, die sich flexionsmorphologisch auswirken.

Das Wort des Jahres: GroKo, #Raute, Matt und Knochenbruch (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 29. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Deutsche sind sparsame Menschen, die Werbung wie „Geiz ist geil“ nett finden. Deutsche sparen auch mit Worten, geizen um jede Silbe – findet die „Gesellschaft für deutsche Sprache“, die das „Wort des Jahres“ wählt.

In diesem Jahr ist das Wort kein Wort, sondern eine seltsam geschriebene Abkürzung: „GroKo“; das bedeutet: „Große Koalition“. Nun kenne ich viele sparsame, ja sogar geizige Menschen, aber ich kenne keinen, der „GroKo“ sagt; alle sagen: „Große Koalition“, wenn sie sich überhaupt für die Koalition interessieren.

Die meisten, die ich nach „GroKo“ fragte, vermuteten einen Papageien-Namen; einer tauchte sogar tief ab in die Geschichte und erinnerte sich an Hitler, den „Gröfaz“, den größten Feldherrn aller Zeiten.

Häufig geschrieben wird „GroKo“ allerdings in der Twitter-Welt: Wer eine solche Nachricht
im Internet sendet, muss sich kurz fassen – denn nach 140 Zeichen ist Schluss. Da geizt man mit jedem Buchstaben und nutzt gerne einen „Hashtag“, ein Schlagwort, vor das man eine Raute (#) setzt.

Wer „#GroKo“ eingibt, kann Tausende von Kurznachrichten lesen über die Große Koalition, wobei das seltsam große „K“ auch folgenlos klein geschrieben werden kann.

Groko wird, so sei orakelt, in spätestens fünf Jahren auf dem Friedhof der Wörter ruhen – wie „Glykol“, das in den achtziger Jahren ebenso „Wort des Jahres“ war wie die „Nulllösung“.

Die #-Raute bedeutet im Schach: Matt – und in der Medizin: Knochenbruch. Das passt doch zum „Wort des Jahres“.

Das schönste Weihnachtslied – ohne Synonyme, ohne Wechsel im Ausdruck (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Wenn der Redakteur in seinem Aufmacher zum zweiten Mal „Zoo“ schreiben muss, sucht er den Wechsel im Ausdruck, wie er’s in der Schule gelernt hat: „Tiergärtnerischer Bereich“. Nutzt er den „Tiergärtnerischer Bereich“ sogar in der Überschrift, vertreibt er viele Leser – die einen Aufmacher über den Zoo lesen würden, aber kein Interesse an einem „tiergärtnerischen Bereich“ haben.

Aber der Zoodirektor hat es genau so im Interview gesagt, wirft die Redakteurin ein. Dann sollten wir den Zoodirektor davon überzeugen, dass der „Bereich“ im Zoodirektoren-Bereich üblich sei, aber Leser verärgere.

Besteht er darauf, packen wir diese Interview-Passage ans Ende und nehmen sie auf keinen Fall in die Überscrhift.

Dass die Wortwiederholung jedem Synonym überlegen, zeigt das schönste Adventslied: „Maria durch ein Dornwald ging“:

Was trug Maria unter ihrem Herzen?
Kyrie eleison.
Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen,
das trug Maria unter ihrem Herzen.
Jesus und Maria.

Da haben die Dornen Rosen getragen,
Kyrie eleison.
Als das Kindlein durch den Wald getragen,
da haben die Dornen Rosen getragen.
Jesus und Maria.

Also: Zweimal „Herzen“, zweimal „Dornen“, zweimal „Rosen“, zweimal „Kindlein“, zweimal „Jesus“, dreimal „Maria“, viermal „trug“ oder „getragen“. Und das Lied ist schön, nicht sentimental – und von einer Kraft der Bilder, die selbst in Weihnachtsliedern ungewöhnlich ist..

Weihnachtsprosa: Wortschleim und Besinnlichkeit (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 15. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Wolf Schneider, der deutsche Sprachpapst, mag Weihnachten nicht, die „besinnlichen Feiertage“, vor allem nicht die Weihnachtsprosa.

Schneider mag mehr den Spott über die weihevolle Selbstversenkung und schreibt in seinem Buch „Wörter waschen“:

„Zehntausende von Pfarrern, Politikern, Geschäftsführern, Sparkassendirektoren und Vereinsvorständen sind sich in ihren Weihnachtsgrüßen einig: Besinnlichkeit ist Bürgerpflicht zur Jahreswende, mit den Varianten ‚seelische Erholung‘, dem deutschen Grundgesetz zufolge zum Wesen der Feiertage gehört.“

So fliegen die Worte wie die Engel durch den hohen Himmel, die „Innerlichkeit“ fliegt mit der „Besinnlichkeit“ – und die gerät in den Sog der „Befindlichkeit“. Dies Wort kam bei den westdeutschen Achtundsechzigern in Mode: „Angerührt von aller Ungerechtigkeit auf Erden. Jeder Tag ein Bußtag! Hilfreich sei der Mensch, gut und allzeit bestürzt.“

Deutsche Studenten rühmten sich vor französischen ihres „Betroffenheitsvorsprungs“; ein Holländer dagegen machte sich lustig über unseren „Betroffenheitskitsch“. Aber auch die ostdeutsche Betroffenheit war wortgewaltig und sinnlos: Wolfgang Thierse wählte die „Erfüllungsmelancholie“ zum schönsten deutschen Wort.

Ganz unweihnachtlich leimt Wolf Schneider zweimal zwei Wörter zusammen: „Wortschleim ohne Erdenrest“; er zitiert den Oberleutnant Heimüller aus Heinrich Bölls „Ende einer Dienstfahrt“: Die Kunst besteht nur darin, das Nichts in seine verschiedenen Nichtigkeiten zu zergliedern.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 16. Dezember 2013

Wolf Schneider kommt zum „Luther Disput“ der Thüringer Allgemeine am 4. Advent um 16 Uhr ins Augustinerkloster nach Erfurt: „Luther, die Sprache und der Pfarrer Sprache“

Politiker wollen nicht verstanden werden (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 7. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Ob die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag wirklich lesen, bevor sie abstimmen? Und ob sie ihn auch verstehen?

Wahrscheinlich versteht ihn nur eine Minderheit, die eine Freude daran hat, Ungetüme wie „Thesaurierungsregelegungen“ oder „Schnellreaktionsmechanismus“ genüsslich zu zerlegen und einen Sinn zu finden.

Sprachforscher der Universität Hohenheim haben den Vertrag analysiert, nein: Sie haben ihn buchstäblich auseinandergenommen – und sind entsetzt. Sprach-Professor Frank Brettschneider:

Die mangelnde Verständlichkeit des Koalitionsvertrags ist enttäuschend. Alle Parteien haben sich Transparenz und Bürgernähe auf ihre Frage geschrieben. Damit die Bürger eine begründete Bewertung vornehmen können, sollten die Koalitionspartner ihre Absichten klar und verständlich darstellen.

Und das tun sie nicht.

Selbst die für den Normalbürger kaum lesbare Doktor-Arbeit eines Politikwissenschaftlers ist im Durchschnitt verständlicher als der Vertrag. Warum? Wir lesen Schachtelsätze mit Fachchinesisch, Fremd- und Fachwörtern, meist ohne Erklärung sowie Wortungetüme und viel zu lange Sätze.

Wollen die Politiker wirklich verstanden werden? Die Wissenschaftler haben Zweifel: „Sie nutzen abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ „Taktische Unverständlichkeit“ nennt dies der Sprach-Professor.

Einige Beispiele gefällig: „Flächenneuinanspruchnahme“, „Interoperalibiliät“ – und der „Landesbasisfallwert“.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 9. Dezember 2013

Darf der Orkan mit „Stundenkilometern“ über die Küste jagen?

Geschrieben am 6. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Wer die Berichte über das Orkantief Xaver liest, findet fast überall: 140 „Stundenkilometer“. Und schon regen sich Leser auf:

Ich habe in der Schule gelernt, dass die Geschwindigkeit in Kilometer pro Stunde angegeben wird.Scheinbar ist mit der Rechtschreib- oder einer anderen Reform diese Maßeinheit auch geändert worden, denn man hört und liest in den Medien deutschlandweit immer mehr diese „Stundenkilometer“ als Geschwindigkeitsangabe.
Das ist nicht richtig!!!

In der Thüringer Allgemeine steht in der Kolumne „Leser fragen“ diese Antwort:

Sie haben Recht: Ein Physiker schreibt als Formel „km/h“, das ist in der Tat“ Kilometer pro Stunde“. Beide Bezeichnungen taugen aber wenig für die normale und schnelle Verständigung: „km/h“ ist zwar kurz, aber nicht sprechbar; „Kilometer pro Stunde“ besteht aus drei Wörtern und ist den meisten Menschen offenbar zu lang und kompliziert – zudem passt es nicht in die meisten Zeitungs-Überschriften.

Was machen die Menschen dann mit unserer Sprache? Sie nutzen den großen Vorteil des Deutschen und packen Kompliziertes in ein Hauptwort – wie beispielsweise Stundenkilometer.

Andere Weltsprachen wie das Englische oder Französische schaffen dies nicht: „Society for prevention of cruelty to animals“ ist die komplizierte englische Version des „Tierschutzvereins“.
So tauchen auch deutsche Hauptwörter in der englischen Sprache auf wie Kindergarten oder Bratwurst oder Weltschmerz.

Die „Bratwurst“ zeigt auch, wie vieldeutig zusammengesetzte Substantive im Deutschen sind: Die Bratwurst ist eine Wurst zum Braten. Und die Blutwurst? Eine Wurst zum Bluten? Oder: Das „Schweineschnitzel“ ist vom Schwein – aber das Jägerschnitzel?

Physiker und andere Experten brauchen eine eindeutige Sprache; die Alltagssprache muss verständlich sein. Und jeder weiß, was „Stundenkilometer“ bedeutet – auch wenn ihm die Schule anderes eingetrichtert hat.

Hilfreich ist die Sprachberatung der „Gesellschaft für deutsche Sprache“: „Stundenkilometer“ ist nicht nur,erlaubt‘, sondern durchaus richtig und angemessen. Pedanterie führt, von strengen terminologischer Definitionsarbeit abgesehen, zu nichts.“

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 7. Dezember 2013

Die Sprache des Koalitionsvertrags: Politikers großer Lall (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 1. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Der Vater brüllt den Sohn an: „Ich habe genug von Deinen unverschämten Reden!“ Der Sohn bleibt ruhig: „Ich wollte nur einen Dialog anstoßen!“ Der Vater wird noch zorniger: „Was soll der Blödsinn?“ Der Sohn bleibt weiter ruhig: „Das habe ich von unseren großen Vorbildern gelernt: So etwas steht im Koalitionsvertrag. Lies doch einfach mal!“

Wer einen Vorrat anlegen will an unverbindlichen Sätzen, der kann sich im Vertrag der Großen Koalition bedienen. Gleich vierzig Mal wird zum Dialog aufgefordert, an einer Stelle sogar zum „Qualitäts-Dialog“. Reden, am meisten ohne Qualität, statt Handeln! Man quatscht also ein bisschen über Dies-und-Das in den nächsten vier Jahren, tröstet sein Volk mit solchen Sätzen und wartet auf die nächste Wahl.

Das Lieblingswort der Politiker ist „sollen“: Rund 150 Mal taucht es im Vertrag auf. „Sollen“ ist nett, aber unverbindlich. So verrät die Sprache den Geist der Vereinbarung.

Aber auch das „Sollen“ kann man noch steigern: Etwas soll geprüft werden! Ein Beispiel:

Weiterhin werden wir darauf hinwirken, dass in allen künftigen EU-Gesetzgebungen geprüft wird, ob kleine und mittlere Unternehmen von bestimmten Regelungen ausgenommen werden können.

Das bedeutet: Wir tun nichts für die Unternehmen, wir prüfen auch nicht, wir regen an zu prüfen – und dann noch in Brüssel. Da wird nichts geschehen!

„Solcher Lall“ regt Heribert Prantl auf; er ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung:

Viele Allgemeinheiten, Plattheiten, Absichtserklärungen… Viel Styropor, viel Packmaterial“.

Entfernt man die Verpackung, kommt das Entscheidende zum Vorschein. Aber dafür braucht man keine 185 Seiten, dafür reichen nicht mal 10.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 2. Dezember 2013

In Halle an der Saale wird der Bürger beerdigt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. November 2013 von Paul-Josef Raue.

„Ich fall vom Pferd“, reagierte Verena Ullmann, als dieser „Friedhof“ auf Facebook erschien; „Wahnsinn“ kommentierte Daniel Bauer und „Jessas“ Thomas Mrazek. Das ist der „Friedhof“:

In Halle an der Saale, die sich als Kulturstadt rühmt, werden der Lehrer und der Trainer abgeschafft, der Chef und der Geschäftsführer, der Wähler und der Absolvent – und das Rednerpult. Diese Wörter werden im Stadtrat amtlich beerdigt.

Der Oberbürgermeister und der Amtsrat, der Bibliotheks-Direktor und Pressesprecher, so sie diese Titel überhaupt noch tragen dürfen, müssen die Sprache verändern; diese prangern Halles Volksvertreter an als „auf bestimmte Normvorstellungen fixierte Zuschreibung von Tätigkeiten und Eigenschaften an Frauen und Männern“.

Wie dieser Satz belegt: Es geht nicht darum, die Behördensprache verständlicher zu machen, „Normvorstellungen“ und „fixierte Zuschreibung“ zu beerdigen, sondern die Welt zu verändern – mit Wörtern. Die Menschen werden aus der Sprache getilgt: Aus dem Rednerpult wird das „Redepult“, aus dem Wählerverzeichnis das „Wahlverzeichnis“, aus dem Lehrer die „Lehrkraft“, aus dem Chef die „Führungskraft“ und aus dem Trainer das „Trainingspersonal“.

Auf den Bibliotheks-Direktor, ab heute: Bücher-Führungskraft, kommt viel Arbeit zu. Er muss viele Bücher korrigieren: Aus „Wanderers Nachtlied“ von Goethe wird „Wanderungs Nachtlied“, aus Kafkas „Brief an den Vater“ wird „Brief an ein Elternteil“.

Viele Bürokraten und Politiker haben kein Problem damit, sich schwer verständlich auszudrücken; in Halle dürfen sie diese Unfähigkeit als Weltverbesserung feiern. Nur – wer Sachen mehr mag als Menschen, wer aus dem Bürger die „Bürgerschaft“ macht, der macht die Sprache unmenschlich.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 25. November 2013

Überall wird gescannt und durchleuchtet – bis auf einen, einen allerletzten Ort: Nordkorea. Marcel Reif war dort

Geschrieben am 24. November 2013 von Paul-Josef Raue.

TV-Sport-Kommentator Marcel Reif war drei Tage in Nordkorea, um Sportjournalisten zu lehren, wie man ein Fußballspiel kommentiert. Fünf Stunden lang spricht er über Emotionen, ohne die eine Reportage nicht gelingen kann – und die Nordkoreaner wollen noch mehr hören, über Emotionen.

Das erzählt Reif dem SZ-Reporter Holger Reitz, der aus dem Gespräch eine empfehlenswerte „Seite Drei“ in der Süddeutschen geschrieben hat: Wenn der Reporter nicht selber nach Nordkorea fahren kann, schreibt er lieber ein Stück von einem, der dort war, als gar nichts. Auch eine Form der Reportage: Ein Reporter erzählt einem anderen Reporter.

Der Reporter, der für die „Seite Drei“ schreibt, schreibt auch über das Gespräch, über seine Strategie, wie aus den Erzählungen eines anderen eine eigene Reportage wird. Er steigt ein mit der Herbstsonne am Zürichsee, ein paar hundert Zeilen später – das Stück füllt wirklich eine komplette Seite – schreien die Möwen am See: Es ist wie im Volontärskurs, Atmosphäre bitte, Sonne und Möwen gehen immer.

Das merkt auch der gestandene Reporter: In der Süddeutschen, weil Qualitätszeitung, geht das eigentlich nicht – es sei denn, ich habe einen guten Grund. Den gibt der Rückkehrer aus Nordkorea: Es ist der Kontrast.

Reif am See sagt: „Sprache. Wir sitzen hier, reden, tauschen Flapsigkeiten aus. Über Möwen. Derlei. Geht in Nordkorea alles nicht. Gibt es nicht. Auch mit denen, die Deutsch können: nicht. Es gibt nichts Ironisches. Nichts.

Du hast natürlich tausend Fragen. Aber du überlegst sofort, in welche Schwierigkeiten du denjenigen bringst, dem du sie stellst. Und dann stellst du sie eben nicht mehr. Du schützt die anderen vor deiner eigenen Neugier, indem du schweigst. Und irgendwann hast du dann gelernt, dass du auf 1000 Fragen auch nur 1001 Ausflüchte hören würdest.“

So wird aus dem Schweigen eine Reportage, nachher, aus zweiter Hand.

„Tor in Pjöngjang“ ist auch eine lustige Reportage: Marcel Reif sitzt in einem riesigen Stadion, gefüllt mit fünfhundert Zuschauern, und schaut einem Spiel zu – Weiß gegen Blau. Er will wissen, auf welchem Tabellenplatz die Mannschaften stehen. Keiner antwortet.

„Noch mal, meine Frage war: Wer spielt da? Sicher kann jede Information gegen Nordkorea verwendet werden, aber in dem Fall war ich sicher, mit meiner Frage nicht in den staatsgefährdenden Bereich vorgedrungen zu sein.“ Die Frage löst Schnappatmung aus bei Journalisten, Aufpassern, Übersetzern. Bis der Mann im Trainingsanzug herangewunken wird. Information: Dritter gegen Vierten…

Abermals Schnappatmung bei Aufpassern und Begleitern.

Dann bittet Reif darum, zu den Zuschauern auf der anderen Seite wechseln zu dürfen. Keine Schnappatmung mehr, erzählt Reif.

„Da war Panik. Bis einer wirklich sagte: Nein, das geht nicht, das sind Fans, da weiß man nicht, was passiert.“ Ist es nicht erstaunlich, dass es in einer Welt, in der alles gescannt und durchleuchtet wird, noch einen allerletzten Ort gibt, den man nicht durchblickt? Nordkorea.

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