Alle Artikel mit dem Schlagwort " Sprache"

„Lexikon des Grauens“: Stuckrad-Barre entdeckt die Sondersprache von Politiker und Politikjournalisten

Geschrieben am 4. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Was Benjamin von Stuckrad-Barre die „furchterregende politische Sondersprache“ nennt, ist meist nur schlechtes Deutsch. Einige Beispiele aus seinem Lexikon, das die Welt-am-Sonntag online anbietet und in Auszügen in der Zeitung (3. November 2013) stand:

> angriffslustig hinterm Rednerpult tänzeln

> Aus welchem Topf das bezahlt werden soll, ist noch offen

> Balsam für die geschundene Parteiseele

> Das Urteil der Karlsruher Richter kommt einer Ohrfeige gleich

> frisches Geld / Geld in die Hand nehmen / Geld in die Kassen spülen

> Front machen

> Geburtsfehler des Euro

> Geschlossenheit demonstrieren

> Gesprächsbedarf

> handfeste Gründe

> ergebnisoffen

> nachhaken / nachbessern

> quecksilbriger Politikstil der Kanzlerin

> rumeiern

> schrillende Alarmglocke

> umgarnen

> zielführend

Und alles mit „im“ und „in“:

> im Alleingang / im Aufwind befindlich / im Bundesrat durchwinken / im Hintergrund die Fäden ziehen / im kleinen Kreis / im politischen Berlin ein Beben auslösen / im Portemonnaie spüren / im Rest der Republik / im Vorfeld klare Zielvorgaben abstecken /
im Zustimmungstief verharren / in aller Deutlichkeit / in aller Ruhe prüfen / in den Senkel stellen / in der Sache keinen Millimeter von der Position abrücken / in die Schranken weisen / in puncto Strompreisbremse / in Sachen Klimapolitik

Und alles mit „mit“:
> mit aller Entschiedenheit zurückweisen / mit Augenmaß / mit Blick auf die kommende Landtagswahl/den EU-Gipfel in Brüssel/die jüngsten Umfragewerte / mit einer Ansicht nicht/ziemlich allein dastehen / mit heißer Nadel gestrickt / mit im Boot sein / mit leeren Händen dastehen / mit Murren/grummelnd zur Kenntnis nehmen / mit Nachdruck / mit stolzgeschwellter Brust

„Zuhören mag da niemand mehr, deshalb gilt ab sofort ein Verbot für die Begriffe und Formeln“, bestimmt Stuckrad-Barre. Da müssen wohl die meisten Pressemitteilungen und Artikel ungeschrieben bleiben. Und die Zeitungen werden dünner.

Vielsprachen-Zeitungsland Israel – zerrissen bis in die Sprachen hinein

Geschrieben am 20. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue.

In Deutschland gibt es, wenn ich richtig schaue, gerade mal eine Zeitung, die nicht in deutscher Sprache erscheint: Die sorbische am östlichen Rand Deutschlands; dazu kommen einige türkische Zeitungen mit deutscher Redaktion. Wir haben noch nicht einmal eine englisch-sprachige Zeitung.

Das ist im Vielvölkerstaat Israel, einem deutlich kleineren Land, völlig anders: Hier erscheinen Tageszeitungen in zwanzig verschiedenen Sprachen! Das erzählt in Tel Aviv Grisha Alroi-Arloser, Präsident der israelisch-deutschen Gesellschaft. Auch dies zeigt die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft – und die Einigkeit der deutschen. Schaut nur auf die Sprachen!

Der Teesack-Schlepper oder: Wenn die Wörter ihre Unschuld verlieren (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 12. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 12. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

„Du Teesack-Schlepper, du!“ Man muss Amerikaner sein, um den eintönigen Beruf zum Schimpfwort zu erwählen. „Tea-bagger“, also Teesack-Schlepper – so nennt der älteste Politiker im US-Senat, der 87-jährige John Dingell, seine ärgsten politischen Gegner bei den Republikanern. Und im Streit um den Haushalt und die drohende Pleite des Staates ist jedes Schimpfwort recht.

Wer das Tee-Baggern verstehen will, muss in die amerikanische Geschichte reisen: 1773 warfen Bostoner Bürger, verkleidet als Indianer, 350 Tee-Säcke von einem britischen Schiff ins Hafenwasser – aus Protest gegen Steuern, die die Kolonialherren in London erhöht hatten, und gegen die Besatzer überhaupt. Die Bostoner „Tea-Party“ ging in die Geschichte ein, das Museum gehört zu den meistbesuchten in Boston, und die radikalsten Konservativen in den USA nennen sich nach den alten Widerstandskämpfern stolz: Tee-Partei, „tea-party“.

Dieser kleine radikale Flügel der Republikaner mag weder einen starken Staat noch Steuern und blockiert den Haushalt der Weltmacht. Diese Geschichte aus der Geschichte liegt in dem Schimpfwort „Teesack-Schlepper“.

Aber damit nicht genug: Der „Tea-bagger“ ist auch schlüpfrig geworden, gibt neuerdings einer eher ungewöhnlichen sexuellen Praxis den Namen; sie in einer Zeitung zu beschreiben, die eine Kinderseite anbietet, verbietet sich.

So verliert die Sprache immer wieder ihre Unschuld: Erst mühen sich die Leute mit den Teesäcken ab, um Frau und Kinder zu ernähren; dann verwandelt sich ihr ehrenwerter Beruf in ein Schimpfwort – und am Ende kommt eine Sauerei heraus.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 5. Oktober (aus einer lesenswerten Reportage von Nicolas Richter über die ungeliebte Hauptstadt Washington im Haushaltsstreit)

Thüringer Allgemeine, geplant für den 14. Oktober 2013 (Kolumne „Friedhof der Wörter“)

Beerdigen wir die „neuen Länder“: Sie bleiben nicht ewig jung (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 3. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue.
2 Kommentare / Geschrieben am 3. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Sind Thüringen und Sachsen wirklich neue Länder? Die Sachsen waren ein munteres und aufsässiges Völkchen schon im dritten und vierten Jahrhundert, so dass die Sachsen ihre Jugend schon lange hinter sich haben.

Da sind die Thüringer ein wenig älter, aber mit einer anderthalb Jahrtausende währenden Geschichte auch nicht mehr wirklich jung. Im vierten oder fünften Jahrhundert taucht der Name auf, danach geht es – wie bei den Sachsen – turbulent zu: Die Grenzen verschieben sich, mal wird’s größer, mal wird’s kleiner. Erst als sich die feudalen Familien aus der Geschichte verabschieden, vereinigen sich sieben Freistaaten, aber lassen Erfurt noch draußen vor der Landestür.

Doch genug von der Geschichte des schönsten deutschen Landes, über die man Wälzer geschrieben hat. Über Baden-Württemberg kann man keine Wälzer schreiben. Dies Retortenland gibt es erst seit 1952.

Dicker werden auch nicht die Geschichtsbücher von Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Licht der Geschichte traten.

Welches sind also die neuen Länder? Nicht die, die wir gerne als die „neuen Länder“ bezeichnen – als habe die deutsche Geschichte erst mit der Vereinigung 1990 begonnen. Selbst wenn wir den 3. Oktober 1990 als Beginn einer Zeitrechnung nehmen, dürften wir 23 Jahre danach das „neu“ streichen. So lange dauert „neu“ nicht.

Wer seine Liebe wechselt, den Freunden seine „neue“ Frau vorstellt, der wird sie nach 23 Jahren nicht mehr als „neu“ präsentieren. Es wäre peinlich. Nach 23 Jahren gehört sie dazu, in guten wie in schlechten Zeiten.

So sollten wir es auch mit Thüringen und Sachsen und Brandenburg und den beiden Doppel-Ländern im Osten halten: Ihre Jugend im vereinten Deutschland ist vorbei. Man bleibt nicht ewig jung.

Also beerdigen wir die „neuen Länder“ auf dem Friedhof der Wörter, die „jungen Länder“ gleich mit und nehmen wir die Himmelsrichtung: Die Länder im Osten.

THÜRINGER ALLGEMEINE, geplant für den 7. Oktober 2013

Präsenz – ein einfältiges, unbrauchbares Wort (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Das hat Reich-Ranicki nicht verdient! „Seine Präsenz“ überschreibt TV-Weggefährte Hellmuth Karasek einen Nachruf in der Literarischen Welt. Präsenz ist ein Allerweltsbegriff  wie Bereich oder Massnahme, bedeutet alles und nichts und verweist nur auf die Denkfaulheit des Autors, sich genau auszudrücken.

Präsenz, dem Lateinischen und Französischen entlehnt, bedeutet: Anwesenheit, Gegenwart – mehr nicht. „Die Gewerkschaft fordert mehr Präsenz der Polizei auf den Straßen“, ist ein Mode-Satz in einer Pressemitteilung, gerne auch von Zeitungen übernommen; so wäre er trefflich übersetzt: Polizisten sollen mehr Streife fahren.

In einem anderen Pressetext steht:

Dieses Wissen soll dazu führen, Schnelltests zu entwickeln, mit denen die Präsenz solcher Gifte nachweisbar ist.

In diesem Satz kann man „die Präsenz“ einfach streichen, und der Satz wäre kürzer und der Sinn klarer. Denn: Was nachweisbar ist, auch auch anwesend.

Und wer sich schämt, einen Körper erotisch zu nennen, der schwadroniert so:

Die sinnliche Präsenz der Körper hat auch eine erotische Note.

Kehren wir zu Karaseks Nachruf zurück: Der Autor mag dem Redakteur die schändlich einfallslose Überschrift „Seine Präsenz“ anlasten. Allerdings steht im Text:

Reich hat eine Präsenz in der deutschen Kultur, die aus seiner Entschiedenheit, aus seiner produktiven Streitlust und aus seinen Bühnentalenten besteht…

Im Nebensatz stehen die starken Wörter: Entschiedenheit, Streitlust, Bühnentalent; im Hauptsatz das schwache Wort Präsenz. Was meint Karasek damit? Stellenwert (auch schwach), Bedeutung (noch schwach), Größe (besser), Ausstrahlung (empfiehlt der Duden). Hat Reich-Ranicki nicht Größeres verdient?

Im Duden ist auch der „Präsenzdiener“, ein österreichisches Wort, zu finden: Der Soldat, der den Grundwehrdienst leistet. Früher nannte man ihn „Schütze Arsch“ – derb, aber klar.

Thüringer Allgemeine, geplant für den 30. September

Kommentare auf Facebook:

Anton Sahlender gefällt das:
„Kann es nicht sein, dass Präsenz im Laufe der Zeit im Sprachgebrauch eine stärkere Wirkung entwickelt hat als z. B. Anwesenheit? Ich empfinde es so…“

Petra Breunig: …Präsenz im Sinne von Ausstrahlung…

Paul-Josef Raue: Wörter, die immer allgemeiner gebraucht werden, dürften nicht stärker, sondern schwächer werden. Präsenz hat immer eine spezifische Bedeutung, die wir dann auch benennen sollten – etwa Ausstrahlung. Klare Bedeutung, klarer Sinn, klare Wörter. Und oft genug kannst Du Präsenz einfach ersatzlos streichen.

Politiker und Bürger: Der Fluch des Wissens und taktische Unverständlichkeit (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 22. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Politiker sprechen gern von Bürgernähe, vor allem vor der Wahl. Sie geloben Transparenz, also Durchsichtigkeit: Danach soll alles, was Politiker tun, für jedermann sichtbar und verständlich sein.

In den Programmen der Parteien ist die Bürgernähe nur ein Wort. Kommunikations-Forscher der Hohenheimer sprechen ein vernichtendes Urteil über die Verständlichkeit politischer Texte aus; dies war Thema der vergangenen Kolumnen.

Den Grund für die Unverständlichkeit sehen die Wissenschaftler in den Diskussionen von innerparteilichen Experten. Professor Frank Brettschneider erklärt:

Diesen ist meist nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wähler ihr Fachchinesisch nicht versteht, wir nennen das den Fluch des Wissens.

Ein Beispiel aus einem Parteiprogramm sei zitiert und nicht erklärt: „Comprehensive Test Ban Treaty“

Doch nicht allein der „Fluch des Wissens“ hindert die Politiker, klar und verständlich zu schreiben: „Zudem nutzen sie abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ Dies nennen die Wissenschaftler „taktische Unverständlichkeit.“

Und wie sieht ein verständliches Politiker-Deutsch aus? Die Wissenschaftler geben vier Hinweise, die für jeden hilfreich sind, der verstanden werden will:

1. Keine Fremd- und Fachwörter ohne Erklärung. Wer über kein Fachwissen verfügt – wie die meisten Bürger – und wer keine akademische Ausbildung hat, steht vor einer kaum überwindbaren Hürde.

2. Keine Wortungetüme, also lange Wörter, und zu viele Hauptwörter; sie erschweren das Lesen und blockieren das Verstehen.

3. Keine langen Sätze; Bürger, die sonst wenig lesen, haben Schwierigkeiten, lange Sätze zu zertrümmern.

4. Keine mit Informationen überfrachteten Sätze; Ein Satz soll möglichst nur eine Information vermitteln.

Wer diese Regeln nicht befolgt, wird vom Bürger bestraft: Er liest nicht weiter.

Die übrigen Folgen der Parteiprogramm-Serie:

Rekord – Der längste Satz im Wahlprogramm
Liquiditätsanforderungen – Wortungetüme in Wahlprogrammen
Wer hat das längste Wort im Wahlprogramm? Mehr als 42 Buchstaben?

Thüringer Allgemeine 23. September 2013

Meistgeklickt: Journalisten, die ihr Gesicht zeigen, und Merkel, die von Genscher lernte (2. Septemberwoche)

Geschrieben am 16. September 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 16. September 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Die Frage, ob Redakteure ihr Gesicht in der Zeitung zeigen sollen, hatte einen Klick mehr in der zweiten Septemberwoche als das Merkel-Zitat, von wem sie ihre Unbestimmtheit gelernt habe. Das waren die meistgeklickten Beiträge in meinem Blog:

1. Sollen Journalisten in der Zeitung ihr Gesicht zeigen?

Die Frage entzweit Redaktionen. Mainpost-Ombudsmann Anton Sahlender greift die Frage in seiner Kolumne auf und bejaht sie.

2. Merkel und ihre Unbestimmtheit: Die stellt Journalisten doch zufrieden

Merkel lernte in jungen Politikerjahren von Genscher: Der sagte wenig und machte Journalisten dennoch glücklich. Es geht auch ohne gelben Pullover.

3. Wie Christian Nienhaus einen guten Chefredakteur definiert

Selten hat ein Verleger so deutlich gesagt, wie er sich seinen Chefredakteur vorstellt: Als mächtigen Meinungsmacher und Freund seiner Leser.

4. Erste Wahl! Was auf den neuen dpa-Chefredakteur zukommt

In der zweiten Woche unter den meistgeklickten Fünf: Sven Goesmann, der erst nächstes Jahr sein neues Amt antritt.

5. Rekord – der längste Satz im Wahlprogramm hat 71 Wörter

Die Wahlprogramme sind kein Leckerbissen für Freunde der deutschen Sprache – im Gegenteil. Wortungetüme und lange Sätze: Warum tun Parteien ihren Wählern dies nur an? Wer Lust hat, noch einmal den längsten Satz in deutschen Zeitungen zu lesen, der folge diesem Link.

Meistgeklickt: Der neue dpa-Chefredakteur und ein Oberbürgermeister, der mit einem Chefredakteur abrechnet

Geschrieben am 11. September 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 11. September 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Wegen des Urlaubs erst heute die Liste der meistgelesenen Blogs in der zweiten September-Woche:

1. Erste Wahl: Was auf den neuen dpa-Chefredakteur zukommt

Glückwünsche für Sven Goesmann: Einen besseren hätte dpa nicht finden können. Und ein Blick in die Zukunft: Was der neue leisten muss.

2. Ich bin eines Ihrer Opfer! – Wie Weimars Oberbürgermeister einen Chefredakteur verabschiedet

Zur großen Abschiedsfeier für den TLZ-Chefredakteur Hans Hoffmeister kam auch der Weimarer Oberbürgermeister, der in seiner Rede noch eine Rechnung zu begleichen hatte. Ein herrliche Gratwanderung zwischen Lob und Tadel, Achtung und Verachtung.

3. Schauen Sie nicht nur auf die Sonntagsfrage: Das große Schönenborn-Interview zu Wahlen und Umfragen

Jörg Schönenborn ist das TV-Gesicht am Wahlabend. Er spricht über Sinn und Unsinn von Umfragen, von Untiefen und falschen Zeiten.

4. Wer hat das längste Wort im Wahlprogramm? Mehr als 42 Buchstaben

Selbst der Duden kennt nicht so lange Wörter, wie sie die Grünen in ihr Wahlprogramm schrieben. Aber auch die anderen mögen Wortungetüme.

5. Der 1. Band der „Bibliothek des Journalismus“: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt

Noch einmal Hans Hoffmeister: Der Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung blickt zurück auf fast ein Vierteljahrhundert an der Spitze, auf die Wende und seine eigenes und eigensinniges Verständnis von Journalismus.

Liquiditätsanforderungen – Wortungetüme in Wahlprogrammen (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 8. September 2013 von Paul-Josef Raue.
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Die Parteiprogramme sind schwer verständlich, zum Teil unverständlich – so urteilen die Forscher der Universität Hohenheim. Ging es in der vergangenen Kolumne um Wortungetüme bis zu 47 Zeichen, stehen heute die Fremd- und Fachwörter am Pranger.

Die CDU mag Anglizismen wie „Sharing Economy“, aber auch schwer verständliche Fachwörter wie „Reservekapazitäten“. Fachleute mögen die Wörter verstehen, aber der normale Wähler kapituliert – und weigert sich, im Programm weiterzulesen.

Die FDP plagt ihre Wähler mir „Liquiditätsanforderungen“ und „Evaluation“.

Die SPD jagt sie in die „Deindustrialisierung“, den „Ressourcenverbrauch“ und die „Innovationstätigkeit“.

Die Grünen mögen auch den „Ressourcenverbrauch“ wie der gewünschte Koalitionspartner, aber bieten auch den „Wohlstandsindikator“ und „Klientelinteressen“ an.

Die Linke setzt aufs „Profiling“, die „Substitionstherapie“ und „Private-Equity-Gesellschaften“.

Die Piraten treiben es am heftigsten und umarmen englische Wörter, als hätten all ihre Wähler mindestens ein paar Semester in Oxford verbracht: „Fissile Material Cutoff Treaty“, „Comprehensive Test Ban Treaty“ und kurz, aber unverständlich: „Plenen“.

Die Parteien haben sich viel Arbeit gemacht, aber sie erreichen ihre Wähler mit solchen Wörtern nicht. Warum nur, warum beherzigen sie nicht, was die CDU in einem „Leitfaden für gute Sprache im Wahlkampf“ ihren Kandidaten auf den Weg gibt: „Sprechen Sie einfach, bildhaft, emotional.“ Na bitte!

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter für den 9. September

Wer hat das längste Wort im Wahlprogramm? Mehr als 42 Buchstaben? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 1. September 2013 von Paul-Josef Raue.
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Findet jemand ein längeres Wort in den Wahlprogrammen? Die Grünen setzen ihren Lesern das „Bundes-Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ mit 42 Zeichen vor – ein schwer zu brechender Rekord in einem Rekord-Programm, das doppelt so dick wie bei den anderen Parteien, aber nicht mehr so gut geschrieben wie vor vier Jahren.

Dabei beschweren sich Politiker im Wahlkampf gern über die Medien: Ihr macht den Bürgern nicht klar, was wir wollen! Aber gelänge das besser mit Wortungetümen, die offenbar die Parteien schätzen?

Schauen wir in die Wahlprogramme der Parteien: Sind die Politiker verständlicher? Klarer? Nein, sagen die Verständlichkeits-Forscher der Universität Hohenheim, die sich durch Hunderte von Seiten gelesen haben.

Schauen wir auf die langen Wörter: Je kürzer ein Wort, desto einprägsamer und verständlicher ist es. Lange Wörter müssen, vor allem beim schnellen Lesen, mühsam auseinander genommen werden; oft resigniert ein Leser und verlässt den Text – zum Schaden der Politiker, die mit ihren Botschaften nicht an den Wähler kommen.
Die Grünen scheinen unschlagbar. Wie bemühen sich die anderen Parteien um den Buchstaben-Rekord?

>Die Linke kommt auf 26 Buchstaben:
Hochwasserrückhalteflächen

> Die SPD kommt auf 32 Zeichen, wobei man schon streiten kann, ob gekuppelte Wörter nicht einzeln zu zählen sind:
Patchwork- oder Regenbogenfamilien

>Die CDU hält ihren Rekord mit 34 Zeichen
Öffentlich-Private-Partnerschaften

>Die Piraten legen das am schwersten verständliche Programm vor und kommen beim Wort-Rekord auf 37 Zeichen:
EU-Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie

>Die FDP ist zwar schmächtig im Wahlergebnis, aber rekordverdächtig mit einem 38-Buchstaben-Wort:
Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz

Der Wort-Rekord im aktuellen Duden liegt gerade mal bei 37 Zeichen: „Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung“ gefolgt von der „Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft“ mit 35 Zeichen. Da haben FDP und Grüne ja große Chancen, zumindest den Sprung in den Duden zu schaffen.

Thüringer Allgemeine 2. September 2013

Manfred Günther per Faceb ook:

Ein weiteres Beispiel: Für wen oder was werden eigentlich Wahlprogramme gemacht?
Für Wähler und als Entscheidungshilfen anscheinend nicht!
An dieser Stelle ein Rat von Ernst Ferstl – Jahrgang 1955, Lehrer, Dichter und Aphoristiker – an die Schreiberlinge solcher Programme: „Wer weiß, welche Rolle er im Leben anderer spielt, braucht ihnen nichts mehr vorzuspielen.“

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