Die wandernde Wiederholung: Luther lässt die Wörter tanzen (Friedhof der Wörter)
So kennen wir Luther – als Schöpfer der deutschen Sprache und als Erfinder kräftiger und die Jahrhunderte überdauernde Ausdrücke:
Rüstzeug, Fratze, Denkzettel, wetterwendisch, Feuertaufe, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Gewissensbisse, Lästermaul, Lockvogel, zusammengebissene Zähne, Ausposaunen und Tappen im Dunkel.
Diese Wendungen zusammengetragen hat die Übersetzerin Susanne Lange, die in Barcelona lebt. Sie rühmt den Luther für seine prächtigen Übersetzungen der Bibel, aber lenkt den Blick auch auf einen Luther, dessen Sprache recht weit entfernt ist von unserer.
Diese Erfahrung macht jeder, der die Lutherbibel im Original liest: Die Sätze sind anders konstruiert, als wir es heute tun; die Worte taumeln scheinbar wild durcheinander. Es ist keine Freude, das Original zu lesen, selbst wenn man von der altertümlichen Schreibweise absieht und manchen Wörtern, die längst begraben sind auf dem Friedhof der Wörter.
Luther bekäme heute auch manch roten Kringel als „Ausdrucksfehler“ im Deutschaufsatz. Denn verpönt ist die Wiederholung von Wörtern, die Luther schätzte:
„Pharao sprach: Ihr seid müßig, müßig seid ihr. Darum sprecht ihr: Wir wollen hinziehen und dem HERRN opfern.“
Diese Wiederholung unterläuft Luther nicht einfach, weil ihm kein anderes Wort mit ähnlichem Sinn einfällt: Die Wiederholung ist Absicht, ist mehr als ein Echo, sie gibt dem Wort des Pharaos Kraft und Macht – sie prägt sich ein.
Die Übersetzerin Susanne Lange nennt diese Wiederholung eine „wandernde Wiederholung“, weil nicht einfach das Wort verdoppelt wird, sondern wiederkehrt in einer neuen Satzkonstruktion: Im ersten Teil „Ihr seid müßig“ steht „müßig“ als Teil des Verbs am Ende, so wie wir es kennen; im zweiten Teil beginnt der Satz mit „müßig“, also einer ungewohnten Satzstellung. Wer jetzt nicht auf das „müßig“ aufmerksam geworden ist, ist ein schwacher Leser.
Sprache ist mehr als eine Ansammlung von Wörtern, Sprache hat einen Rhythmus – und nicht nur in der Literatur. Luther lässt die Wörter tanzen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 30. November 2015
Diese Kolumne folgt dem Essay von Susanne Lange in dem Buch „Denn wir haben Deutsch“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro).
Jauchs Mängel-Liste: Diese neun Fehler sollte jeder Journalist im Interview vermeiden
Günther Jauchs Sendung am Sonntagabend, die am 1. Advent ausläuft, „ist eher eine Show als ein politischer Talk – eine beunruhigende Entwicklung für ein öffentlich-rechtliches Format!“, kritisierte der ARD Programmbeirat schon 2012. Diese Mängel-Liste kann sich auch jeder Zeitungs- und Magazin-Interviewer zu Herzen nehmen. Das sollte jeder Profi, gleich in welchem Medium, vermeiden:
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Er hakt selten nach,
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er setzt sich teilweise über die Antworten seiner Gäste hinweg,
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er vertritt eine klar erkennbare eigene Meinung,
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er folgt strikt seinem vorgefertigten Konzept,
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er hakt eine Frage nach der anderen ab,
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er schürt mit seinen Suggestivfragen teilweise Politikverdrossenheit und kommt damit der Verpflichtung zur journalistischen Sorgfalt nicht nach,
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er nimmt in den Fragen zumeist auch die Antworten vorweg,
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er geht einer ihm nicht genehmen Gesprächsentwicklung und Konfliktsituationen aus dem Weg, in dem er die andiskutierte Gesprächsschiene nicht weiter verfolgt.
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Die Diskussion verläuft selten ergebnisoffen, schon die Titel der Sendungen enthalten oft eine polarisierende These.
Positiv sollte man werten:
- Er fällt durch seine größtenteils einfach formulierten Fragen auf, so dass auch verschiedene Zielgruppen erreicht werden können,
- er polarisiert.
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Quelle: Bülent Ürük in Kress-Online 27. November 2015
Darf man Terroristen „Kämpfer“ nennen? Mehr als ein Streit um Worte
Leser empören sich über ein Wort: „IS-Kämpfer“. Sie schreiben Briefe an Redaktionen und protestieren: Das sind keine Kämpfer, das sind Terroristen.
In der Thüringer Allgemeine empfahl ein Leser aus Sömmerda:
Kämpfer ist ein zu positiver Ausdruck für eine Bande von Verbrechern und Mördern. Vor allem bei Jugendlichen wird dadurch – auch durch PC-Spiele, in denen es immer um Kämpfer geht – ein positiver Eindruck erweckt. Benutzen Sie doch bitte den zutreffenden Ausdruck „IS-Terroristen“
Interims-Chefredakteur Thomas Bärsch gibt in seiner Kolumne „Leser fragen“ dem Leser Recht, verweist aber auch auf eine Mitteilung des Oberlandesgerichts Celle in Niedersachsen; das verhandelt gegen zwei Männer, die für den IS gekämpft haben: „Die beiden Angeklagten sollen sich als Kämpfer bzw. Selbstmordattentäter zur Verfügung gestellt haben.“ Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Auch die Staatsanwaltschaft kommt an dem Wort „Kämpfer“ nicht vorbei; noch schwieriger wird es, wenn wir das Verb bedenken: Welches nutzen wir statt „kämpfen“? Was schreiben wir statt „IS-Terroristen kämpfen um die Stadt XY?“
Das Substantiv „Kämpfer“ können wir noch ersetzen durch „Mörder“ oder „Terroristen“. Das Verb „kämpfen“ ist nur schwer zu ersetzen.
Der TA-Chefredakteur verweist darauf: Der „Kämpfer“ rutscht in der Wendung „IS-Kämpfer“ von einer positiven in eine negative Bedeutung. Und er schlägt den Lesern vor: „Wir in der Redaktion haben uns dennoch darauf verständigt, IS-Kämpfer möglichst sparsam zu verwenden.“
Er hätte auch noch auf Goethes „West-östlichen Divan“ verweisen können. Huri, der Wächter vor dem Paradies der Muslime, kommt dem Dichter verdächtig vor, der Einlass verlangt:
Zählst du dich zu jenen Helden? Zeige deine Wunden an, die mir Rühmliches vermelden. Und ich führe dich heran.
Und Goethe, der Humanist aus Weimar, spielt mit den Worten und lässt den Dichter antworten:
Lass mich immer nur herein: Denn ich bin ein Mensch gewesen. Und das heißt ein Kämpfer sein.
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Quelle: Thüringer Allgemeine, 21. November 2015, Leser fragen
Nach dem Terror in Paris: Wofür bezahlen Online-Leser?
„Für Einordnung und Analyse bezahlen die Menschen gern“ ermittelt der Blendle-Redakteur Michael Jarjour nach den Anschlägen in Paris. Blendle ist ein niederländisches Online-Unternehmen, in dem Nutzer seit einigen Wochen in den großen Zeitungen und Magazinen und einigen Regionalzeitungen blättern und Artikel auswählen können; für den Abruf kompletter Artikel zahlen sie.
„Einordnung und Analyse“ überrascht nicht, auch nicht dass Anschläge, Katastrophen, Kriege und Groß-Ereignisse das Interesse an Informationen stark steigern. Das überrascht schon eher: An der Spitze der meistgekauften Artikel stehen Kommentare – von bekannten Autoren wie FAZ-Herausgeber Berthold Kohler (Platz 1), Springer-Chef Mathias Döpfner. (Platz 2) oder Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart (Platz 7).
Hinter den Kommentaren folgen Analysen aus der FAZ, SZ und Neuen-Zürcher-Zeitung (NZZ – mit dem Interview eines Islamwissenschaftlers: „Alle können ein direktes Ziel werden“) sowie der Magazine Zeit, Spiegel und Cicero.
Für aktuelle Nachrichten, die überall kostenlos zu bekommen sind, zahlen die Leser offenbar nicht. Also zahlen die Leser, wenn es ein Ereignis gibt, das die Menschen verstehen wollen; sie zahlen für Meinungen von bekannten Medien und Autoren; und sie zahlen für ausführliche und schnelle Analysen.
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Quelle: Meedia.de, 23. November
Sozialkitsch? Junge Journalisten und ihr „besorgter Tonfall“
Richard ist in Jenny Erpenbecks neuem Roman ein emeritierter Professor, der am Berliner Alexanderplatz den Hungerstreik von Flüchtlingen beobachtet. Am Abend sieht er in den Nachrichten den Bericht einer jungen Journalistin, die hörbar auf Seiten der Flüchtlinge steht. Und Richard fragt sich:
Ob der besorgte Tonfall inzwischen ein Prüfungsfach ist für Journalisten?
Auch in Redaktionen ist bei jungen Journalistinnen die Sozialreportage beliebt, wenn sie mit viel Gefühl und eindeutiger Botschaft geschrieben ist. Die älteren spötteln gern und nennen es „Sozialkitsch“ und schätzen einen sachlichen und harten Ton in der Reportage. Die Leser mögen beides, wenn auch nicht im Übermaß.
Zurück zum Roman:
Der Professor denkt über „das protestantische Erbe“ seiner Mutter nach, die mit ihm als Säugling aus dem Osten des Reichs geflohen war: Er will das Erbe abschütteln, den „Grundzustand der Reue“, er erinnert sich an die Mutter, die von den Lagern „angeblich“ auch nichts gewusst hat und fragt:
Was war eigentlich, bevor Luther kam, an der Stelle der Seele, an der sich seitdem das schlechte Gewissen breitgemacht hat? Eine gewisse Taubheit ist seit dem Thesenanschlag einfach nur Notwehr, wahrscheinlich.
(Jenny Erpenbeck in „Gehen, ging, gegangen“)
Nico Rosberg oder vom Nachteil des Rampenlichts: „Man vergisst, dass Zeitungen oft Unsinn schreiben“
Sogar meine Freunde und Familie bewerten und interpretieren ja auch das, was sie von mir im Fernsehen oder in anderen Medien sehen. Das stimmt oft nicht sehr mit der Wahrheit überein… Ich halte Abstand, ich achte wenig darauf, was gesagt und geschrieben wird…
SZ-Redakteur Michael Neudecker erinnert Rosberg an die Frauenfußball-WM 2011, als er auf die Reporter-Frage antwortet, ob er zuschaue: „Warum nicht, man guckt doch auch die Paralympics“ und die Schlagzeile lesen musste „Rosberg vergleicht Frauenfußball mit Behindertensport!“
…das ist ein super Beispiel dafür, was passiert, wenn einmal was in den Medien ist, für das du gar nichts kannst. Der Schaden ist da, du kannst das nicht mehr einfangen…Man vergisst, dass Zeitungen oft Unsinn schreiben… Meistens.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung, 21. November 2015
Schäubles Flüchtlings-Lawine: Hütet Euch vor Sprachbildern aus der Natur!
Der „Fallstrick“ steht im Duden, aber kaum einer weiß noch, was ein „Fallstrick“ war: Mehrere Stricke flocht man zu einer Falle, um Ratten und Füchse zu fangen. Wenn ich heute einen Fallstrick lege, will ich einen Menschen täuschen, ihn in eine Falle locken: Die Bedeutung ist geblieben, aber es ist eines der Sprachbilder, das wir noch nutzen, ohne das Bild vor Augen zu haben.
Martin Luther kannte noch den Fallstrick und nutzte das Bild, als er die Bibel übersetzte: „Der Jüngste Tag wird wie ein Fallstrick kommen über alle auf Erden.“ Luther konnte sich darauf verlassen, dass seine Zuhörer ihn verstanden: So wie die Stricke über den Fuchs fallen, so werden sie über Dich fallen, wenn die Welt untergeht.
Journalisten und Politiker nutzen gerne Sprachbilder, um Kompliziertes verständlich zu machen.
„Lawinen kann man auslösen, wenn ein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt. Nur wo sich die Lawine befindet, ob im Tal oder noch am Hang, das weiß ich nicht.“
Die „Berliner Zeitung“ fand die Sprachbild „schief“. Der Korrespondent des Südwestrundfunks meinte, der „Vergleich von Flüchtlingen mit einer Lawine ist daneben“ und fügte den „unpassendsten Vergleich“ hinzu: Jörg Meuthen, Co-Vorsitzender der AfD, verglich Flüchtlinge mit einem Tsunami.
Die meisten Sprachbilder aus der Natur scheitern: Lawine oder Tsunami – wie jede Naturkatastrophe – können wir nicht stoppen, ihr sind wir schutzlos ausgeliefert. Das Sprachbild suggeriert Ohnmacht. Im Gegensatz dazu steht alles, was Menschen anrichten, verändern oder dulden, in ihrer Macht: Sie müssen nur handeln wollen.
Ein Politiker, der für sein Handeln und Durchgreifen bekannt ist, sollte seinen Redenschreibern die Sprachbilder aus der Natur verbieten – und sich selbst erst recht.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 23. November 2015
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Kommentare zu Schäubles Lawinen-Vergleich:
> Neue Osnabrücker Zeitung: Bild unpassend, Sache richtig
Wolfgang Schäuble hat den Flüchtlingszustrom mit einer Lawine verglichen. Das ist zwar im Ton unpassend, in der Sache aber richtig.
> Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), Tweet: „Menschen in Not sind keine Naturkatastrophe.“
> Roland Nelles in Spiegel Online: Gefährliches Bild
Wie bitte? Wolfgang Schäuble vergleicht die Zuwanderung von Flüchtlingen mit einer Lawine? Das sind fiese Worte – aus mehreren Gründen.Wer schon einmal in den Alpen eine Lawine gesehen hat, weiß um deren zerstörerische Kraft. Lawinen wälzen alles nieder, Bäume, Häuser. Sie begraben Menschen unter sich, sie töten.
Das ist ein falsches, ein gefährliches Bild – und das sollte er als langjähriger Minister wissen. Das ist die Sprache der Aufwiegler und Fremdenfeinde. Das ist schlicht: eine Entgleisung.
> Melanie Reinisch im Kölner Stadtanzeiger: Bilder mächtiger als Wörter
Wieder einmal hat ein Politiker eine Naturkatastrophe mit Flüchtlingen verglichen. Das ist nicht neu. Oft bedienen sich Politiker – und auch Medien – bei Sprachbildern, um Themen greifbarer zu machen. Und das macht es nicht besser.
In der aktuellen Flüchtlingsdebatte spricht man häufig von Flüchtlingsflut, -strömen oder -wellen. Doch was vermittelt man mit solchen Sprachbildern? Angst. Schäuble provoziert mit solchen polemischen Äußerungen nicht nur, sondern er zeigt damit auch, dass er selbst Angst vor der Entwicklung hat. Ein Politiker sollte Menschen selbige jedoch nehmen und Ängste und Ressentiments nicht noch schüren. Bilder können eine stärkere Macht als Wörter besitzen, sie setzen sich fest in den Köpfen. Mehr Sensibilität für Sprache und Wirkung sollte nicht nur möglich, sondern zwingend sein.
> Uwe Lueb, SWR-Hauptstadt-Korrespondent: Daneben
Schäubles (CDU) Vergleich von Flüchtlingen mit einer Lawine ist daneben. Sicher, bildhafte Sprache ist gut. Aber man sollte darauf achten, was man wie sagt. An den Flüchtlingsstrom oder gar -ströme hat man sich fast schon gewöhnt. Gut ist die Wortwahl deswegen aber nicht.
Den unpassendsten Vergleich hat der Co-Vorsitzende der AfD, Jörg Meuthen, beim Landesparteitag Baden-Württemberg gewählt. Die deutsche Flüchtlingspolitik sei ungefähr so, als wolle man mit Eimern einen „Tsunami“ stoppen. Schäubles „Lawine“ kommt gleich dahinter. Sein Vergleich bestärkt nur Vorurteile von Rechtspopulisten.
Bei einer Lawine haben die Schneeflocken und Eiskristalle nämlich keine Wahl. Sie müssen mit ins Tal. Eine Lawine reißt alles mit und verschüttet, was sich nicht in Sicherheit bringt. Das tun Flüchtlinge nicht. Und sie entscheiden selbst, ob sie sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Und sie sind es, die fliehen und nicht diejenigen, die andere in die Flucht schlagen.
> Badische Neueste Nachrichten: Nicht so dramatisch
Schäubles Lawinenvergleich ist sprachlich schlecht gewählt. Falsch ist er aus seiner persönlichen Sicht aber nicht und verboten schon gar nicht… Der eigentliche Aufreger ist also nicht, dass Schäuble Flüchtlinge mit einer Lawine vergleicht, sondern dass sich Teile der Regierung so fühlen, als stünden sie vor einer.“
Lösen sich die Ressorts auf? Eine der besten IS-Analysen steht bei der SZ – im Feuilleton
Die Anschläge auf Paris zeigen nicht einen Erfolg für den „Islamischen Staat“, sondern sind ein Indiz für seine Niederlage: Er verliert immer mehr Städte, Schlachten und Führer und somit an Attraktivität für mögliche Anhänger. So schreibt Bernard Haykel, Professor für Studien des Nahen Ostens an der Princeton-Universität. Die Propaganda im Al Bayan-Radio „erinnert an die Radio-Propaganda der Nazis oder Sowjets – weiter, vorwärts, kein Rückzug, keine Kapitulation. Dem IS fehlt es nicht nur am Selbstbewusstsein, die Wahrheit zu vermelden. Für einen selbsterklärten Staat von Gottes Gnaden kann es nur Siege geben, niemals Niederlagen. Da liegt die Achillesferse des IS, denn mit Verlusten verliert er an Reiz.“
Die Analyse, eine der besten zum IS – ob man sie teilt oder nicht -, steht nicht vorne in der SZ, weder auf Seite 2 oder 3 oder auf den Politik-Seiten, sondern als Aufmacher im Feuilleton. Folgt die SZ allmählich der Schirrmacher-Strategie, der das Feuilleton der FAZ zur Zeitung in der Zeitung verwandelte? Oder lösen sich langsam die Ressorts auf: Alles ist alles? Der Sport ist Wirtschaft, die Wirtschaft ist Politik, und die Politik ist Feuilleton?
In der Tat ist die Welt nicht mehr so leicht in Schubladen zu stecken wie vor einigen Jahrzehnten. Aber der Leser ist eine Ordnung gewohnt, die sich in den traditionellen Ressorts spiegelt, er sucht seine bevorzugten Orte in der Zeitung, die er am liebsten eher dünner als dicker wünscht, eben übersichtlicher angesichts der immer kürzeren Lese-Zeit. Der Leser will nicht suchen, sondern lesen; er will nicht in der Zeitung herumirren, sondern schnell das finden, was ihn interessiert. Das spricht übrigens nicht gegen die eine oder andere Überraschung in der Zeitung: Ist das vielleicht die IS-Analyse im Feuilleton?
Erste Aufgabe von Journalisten: Die Schneise schlagen in den Nachrichten-Dschungel – zwischen Tasse und Terror
Auch bei Redakteuren schleicht sich bisweilen das Gefühl ein, den Überblick zu verlieren – gerade in wilden Zeiten wie nach dem Terror in Paris: Nachrichten, meist mehr Gerüchte als klare Informationen, jagen sich – und der Alltag in meiner Stadt und meiner Region geht weiter:
in Dortmund wurde die Weihnachtsmarkt-Tasse 2015 vorgestellt, in Alsdorf bei Aachen nahm die Polizei sieben Terror-Verdächtige fest und ließ sie später wieder frei, in Brüssel ist das Fußballspiel zwischen Belgien und Spanien wegen Terrorgefahr abgesagt worden, in Hannover wollte Deutschland in einer Art „Trauerspiel“ auf die Niederlande treffen, aber auch dieses Spiel wurde gestern Abend abgesagt, in Syrien fallen weiter Bomben aus Frankreich vom Himmel, in Dortmund gibt es nicht nur die Tasse und den weltgrößten Weihnachtsbaum, sondern ganz neu auch einen Weihnachts-Elch „Siegi“ (kommt das von Siegen?) mit roter Mütze als Maskottchen … die Gleichzeitigkeit von Nachrichten kann überfordern. Zwischen Tasse und Terror ist es schwer, einen klaren Blick zu behalten. Das Leben geht weiter. Für die, die leben.
So beginnt heute der Newsletter von RN-Chefredakteur Wolfram Kiwit, der bei allem Jammer über die finstere Welt die Aufgabe von Journalisten klar macht: Wir müssen die Schneise schlagen, wir müssen die Welt so zeigen, dass sie die Menschen verstehen können und nicht verzweifeln – eben zwischen Tasse und Terror. Die Aufgabe war noch vor einigen Jahrzehnten einfacher: Da kamen die Nachrichten aus dem Ticker, so langsam, wie es die Technik zuließ; da schnitten Mitarbeiter die langen Agentur-Fahnen einmal in der Stunde zurecht, sortierten sie und brachten sie in die Ressorts; da schlug eine Glocke am Fernschreiber, wenn eine Nachricht der Priorität 1, die Eilmeldung, eintraf; da gab es wenige Hörfunk- und Fernsehsender und kein Internet für jedermann.
1949 schickte dpa täglich gerade mal 19.000 Wörter, das schaffen heute die Nachrichten-Portale im Netz in wenigen Minuten. Schon in den langsamen Ticker-Zeiten murrten die Redakteure: Die Agenturen überschütten uns mit Nachrichten, von denen wir nur einen Bruchteil drucken können.
Die Welt ist schneller geworden, aber nicht besser. Wer als Journalist meint, das Schneise-schlagen gekinge nicht angesichts apokalyptischer Verhältnisse, der solle lieber Dichter werden oder einer Selsbtfindungs-Gruppe beitreten.
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Hinweis: Handbuch des Journalismus, Kapitel „Nachrichtenagenturen“
Medien-Professor kritisiert „Sensationalismus“: Zu viele Brennpunkte und Sonderseiten nach dem Terror in Paris
Medien berichten oft in einem Umfang und in einem Alarmton, wie ihn die Terroristen mittlerweile einberechnen. Insbesondere der IS verfolgt eine kühl kalkulierte Medienstrategie
So kritisiert Kai Hafez die Medien nach den Anschlägen in Paris; der 51-jährige ist Professor für vergleichende Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen in Erfurt. Hafez wirft in einem Interview mit Martin Debes (Thüringer Allgemeine) den Medien vor, die Kriegs-Rhetorik des Westens fahrlässig zu verstärken. Zudem werden die Medien Handlanger der Terroristen:
Die Medien sind mehr als nur ein Überbringer der Botschaft. Sie schaffen die Bedeutung solcher Anschläge aktiv mit, in dem sie sie in unsere kollektive Erinnerung einbrennen.
Nüchtern berichten – so empfiehlt der Medienwissenschaftler „und nicht mit so vielen Sondersendungen, Sonderseiten und Sonderausgaben“. Ohne großes mediales Echo verkümmere die Botschaft der Angst und werde zum Rohrkrepierer. „Wir alle müssen versuchen, dem Sensationalismus nicht nachzugeben und bei aller verständlichen Emotionalität den Ball flach zu halten.“
Ähnlich argumentiert der Politologe Herfried Münkler in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, glaubt aber, dass unsere Medienwelt mit den schnell wechselnden Themen auch schnell wieder vergessen könne: Wer erinnert sich noch an die Madrider Anschläge 2004, die mehr Todesopfer gefordert haben als die in Paris? Unsere Gesellschaften führten nach einer Weile ihr normales Leben weiter – „weil sich dabei herausstellt, wie schwach doch letzten Endes die angreifenden Akteure sind. Sie sind nur stark in dem Augenblick, in dem wir durch unsere Aufgeregtheit, unsere Nervosität, ja womöglich unsere Hysterie wie Schlagkraftverstärker wirken“.
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Quellen: Thüringer Allgemeine und Süddeutsche Zeitung, beide 17. November 2015
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