Die veröffentlichte Meinung und die öffentliche Meinungen sind 180 Grad auseinander. Die Politik ist verflacht: Wir sind alle gegen Atomkraft, gegen das G36 und für offene Grenzen. Es könnte sein, dass in dieser Situation mal wieder eine außerparlamentarische Opposition entsteht. Dann hätten wir eine veränderte Ausgangslage.
Formidabel! Wie wir in unserer Sprache Wörter verwandeln (Friedhof der Wörter)
Wer über die Einwanderung von amerikanischen Wörtern stöhnt, sucht gerne Trost bei unseren Klassikern. Goethe kam zwar nur bis Italien, aber er schwärmte von der neuen Welt:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Doch war die Sprache in Goethes Zeit nicht geprägt von Anglizismen, sondern von französischen Wörtern. Goethe kommt selten ohne ein französisches Wort daher. Am 14. November 1776 lästert er über das „Flick- und Lappenwerk“ eines Autors, möchte diesem einen Streich spielen und schreibt an Schiller:
Wenn der Spaß Ihren Beifall hat, so führe ich ihn aus; er ist, wie mich dünkt, sans replique.
Wie leicht hätte Goethe einen deutschen Begriff finden können: Ohne Widerrede! In Goethes Brief taucht auch das französische Wort „formidabel“ auf, mit dem sich ein Leser in Erfurt beschäftigt. Er las in seiner Zeitung vom Lutherjahr 2017 als „formidablem Jubiläum“ und fragt:
Hat der Autor den aus „dem Lateinischen entlehnten Begriff, der ,schrecklich‘ bedeutet, vielleicht im falschen Sinnzusammenhang oder als Beispiel ,klassischer Wortwahl‘ verwendet“?
Wörter verwandeln sich gerne, wenn sie nur weit genug von der Quelle entfernt sind. Dem Lateinischen, der Priester- und Fürstensprache des Mittelalters, verdanken wir viele Wörter, einige kamen aber erst über die französische in die deutsche Sprache.
„Formidare“ nutzte Caesar, der Feldherr, wenn er von besonders großem Schrecken berichtete. Die lateinische Bedeutung hielten die Franzosen und nutzen „formidable“ für alles, was grausig und schrecklich ist. Wir übernehmen in die deutsche Sprache fremde Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn – um sie dann gerne zu verwandeln.Erst im späten 17. Jahrhundert wanderte „formidabel“ in unsere Sprache ein. In der „Herrschaft der Männer“, einem Buch von 1705, lesen wir:
In den Moluccischen Inseln haben sich die Weiber so formidabel gemacht, dass sie das recht absolut im Hause zu befehlen haben.
Moluccische Inseln sind offenbar die Falkland-Inseln vor Argentinien.
In Carl Lucaes „Europäischen Helicon“ von 1711 ist von einem Lehrer zu lesen:
Ehemals docierte ein solcher Schmeisser in einer Schule von mönströser Gestalt und war den Knaben höchst formidabel.
„Formidabel“ gebrauchte der preußische Generalfeldmarschall Blücher 1813 noch im alten lateinischen Sinne: „Die Armee war sehr formidabel“, als Goethe schon den Sinn in „beeindruckend“ verwandelt hatte. Der Autor eines Buchs will sich „seinem eigenem Helden formidabel machen“, schreibt er Schiller im Weimarer Herbst 1776.
Preußens berühmtester Gärtner war der Weltreisende Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau; er schrieb 1834 in seiner „Landschaftsgärtnerei“:
Man baut in formidablem Bogen über das bescheidene Wässerchen eine Riesenbrücke.
Da hatte sich formidabel als „beeindruckend“ durchgesetzt. Im Goetheschen Sinn nutzen wir „formidabel“ noch heute; wer es im alten lateinischen Sinne verwendete, würde missverstanden.. Der Schrecken ist längst verschwunden.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. September 2015 (hier in erweiterter Fassung)
Für wen schreiben wir? Für uns selber oder für die Leser?
Journalisten sollten nicht darüber rätseln, was die Leserinnen und Leser wollen, sie sollen ehrlich sagen, was ihnen selber wichtig ist. Für mich ist es das Schreiben und Lesen. Ich mag keine schlecht geschriebenen Artikel, und wenn ich lese, will ich keine Videos dazu sehen.
Jean-Martin Büttner im Newsletter der MAZ, der Schweizer Journalistenschule: Er ist laut Newsletter mehrfach ausgezeichneter Journalist und Redaktor beim Tages-Anzeiger. Er antwortet auf die Frage „Immer mehr konvergent arbeitende Redaktionen mit Journalisten, die mehrere Kanäle bedienen sollen: Verliert das Schreiben als klassisches Handwerk an Bedeutung?“
Von „Negern“ und anderen Tabus: Wer bestimmt, was wir sagen dürfen? (Friedhof der Wörter)
Es gibt Wörter, die sind offenbar ein Tabu: „Neger“ zum Beispiel. Als der bayerische Innenminister Joachim Herrmann den Sänger Roberto Blanco einen „wunderbaren Neger“ nannte, empörten sich viele: Er hat ein Tabu verletzt! Nur – wer verurteilt ein Wort zum Tabu?
Roberto Blanco fühlt sich nicht beleidigt: Das Wort war nicht böse gemeint. Trotzdem entschuldigte sich der Minister.
Die Linken-Abgeordnete Katharina König sprach in der Debatte um den 8. Mai als Feiertag: „Die CDU leidet offenbar an politischem Autismus“. Die CDU fühlte sich nicht beleidigt, aber Autisten empörten sich. Die Abgeordnete entschuldigte sich: „Ein unsäglicher Fehler“.
Wer verurteilt zum Tabu? Einen offiziellen Tabu-Beauftragten gibt es nicht. Meist sind es Kommentatoren in Zeitungen und im Fernsehen, die sich empören. „Rassistisch“ nannte die „Zeit“ des Innenministers „Neger“-Äußerung und Hunderte schlossen sich in Internet-Kommentaren an.
Mitunter sind auch Gruppen, wie die Autisten verletzt, wenn sie sich ausgegrenzt fühlen – auch wenn nicht sie, sondern eine politische Partei diskriminiert werden sollte. Der Tabu-Bruch der Abgeordneten fand kaum Beachtung, weil keine Zeitung darüber berichtete: Die Pressemitteilung löschte der Pressesprecher im Internet, das war’s. Herrmanns „Neger“ dagegen wuchs zur Affäre aus, weil alle Zeitungen berichteten und den Tabu-Bruch beklagten.
Die Schar der Kritiker wächst, die zwar nicht in der Regierung, aber in den „Medien“ einen Tabu-Beauftragten vermuten, der bestimmt, welche Wörter gesagt werden dürfen. Auffällig ist: Die Erregung über eine vermutete „Meinungsdiktatur“ oder „Sprach- und Gedankenpolizei“ wächst in einer Zeit, in der jeder im Internet schreiben kann, was er will.
Der Artikel 5 des Grundgesetzes kennt keine Tabus, sondern garantiert die Freiheit der Meinung. Noch nie konnten so viele öffentlich ihre Meinung äußern und über Tabus diskutieren.
Nur – ist ein Tabu noch ein Tabu, wenn jeder darüber spricht?
****
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 21. September 2015
Ein guter Journalist sollte von seinen Lesern lernen wollen! (Zitat der Woche)
Was Professor Christoph Demerling, Philosoph in Jena, von guten Lehrern fordert:
Ein guter Lehrer sollte immer die Erwartung haben, von seinen Schülern etwas lernen zu können
wäre auch eine brauchbare Maxime für Journalisten:
Ein guter Journalist sollte immer die Erwartung haben, von seinen Lesern etwas lernen zu können.
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Quelle: PM der Uni Jena vom 16.9.15 „Das Wesen der Sprache entschlüsseln“
„Geh zu den Quellen! Geh den Dingen auf den Grund!“ – Der Fragebogen des „Medium Magazin“
„Ein guter Journalist macht sich nicht gemein mit einer Partei, auch nicht mit der seiner Wahl“, antworte ich auf die Frage, warum ich keiner Partei angehöre: Zu lesen im Fragebogen des aktuellen Medium Magazin auf der letzten Seite – als Rausschmeißer aus dem Heft (September 2015). Hier die Fragen und Antworten:
- Warum sind Sie Journalist geworden?
Ich wollte zuerst die Welt verändern – und dann Wolf Schneider. Das war zäher als erwartet. Zum Glück habe ich mich überzeugen lassen: Es reicht, die Mächtigen zu kontrollieren und den Menschen eine gute Zeitung zu geben
- Wie kamen Sie an Ihren ersten Beitrag – und was war das Thema ?
Ein ellenlanges Interview in Castrop-Rauxel mit dem Wissenschaftsminister Gerhard Stoltenberg, das wir Wort für Wort in der Schülerzeitung gedruckt haben. Es hat mir viel Ehre gebracht, aber keine Leser
- Ihre Vorbilder im Journalismus ?
Wolf Schneider, der Sprache zum Leben erweckt; Kurt Kister, der Deutschlands bester Chefredakteur ist; Dieter Golombek, der die Qualität in den Lokaljournalismus brachte
- Ein Journalist ist ein guter Journalist…
wenn er, die Macht im Visier, seine Furcht besiegen kann; wenn er nicht geliebt, aber respektiert werden will; wenn er unbestechlich ist, aber trotzdem freundlich
- Charakterisieren Sie bitte die Herausforderung des Journalismus als Tweet in140 Zeichen.
Liebt Eure Leser mehr als Euch selbst! Verwöhnt sie mit Geschichten, die ihre Seelen streicheln oder zerwühlen! Seid demütig! Das reicht
- Wie wichtig ist Klatsch?
Der Mensch braucht ihn, er gehört zu unserem Leben. Aber er muss die Würde des Menschen achten. In Redaktionen, die Klatsch voll Abscheu meiden, wird am meisten geklatscht
- Mit welchem Ihrer Merkmale würde man Sie am treffendsten karikieren oder parodieren?
Die Redaktion schenkte mir zum Geburtstag eine Karikatur, die mich als Freiheitsstatue zeigt mit der TA und dem Duden in den Händen
- Wo haben es Frauen im Journalismus schwerer und was sollte man dagegen tun?
In die Chefredaktionen dringen zu wenige vor, aber offenbar drängeln auch zu wenige. Also: Frauen, drängt Euch auf!
- Ihre persönlichen Stärken und Schwächen?
Stärke und Schwäche liegen so nah beieinander: viele Ideen, aber wenig Geduld. Meine größte Schwäche: Ich mag keine Verlags-Manager, für die Zeitungen eine Ware ist wie Klopapier oder Schmierseife
10. Was macht Sie wütend oder ungeduldig?
Wütend, oder genauer: traurig, machen mich Menschen, die Vertrauen verspielen; ungeduldig machen mich Redakteure, die wie Beamte denken und arbeiten
11. Welche sozialen Medien und/oder Netzwerke nutzen Sie und wofür?
Alle, und ich bleibe bei denen, die zum Denken und Staunen animieren
12. Mit wem würden Sie gerne mal einen Tag die Rolle tauschen?
Mit dem Vorsitzenden Richter im NSU-Prozess
13. Auf welchen Beitrag sind Sie besonders stolz?
Die Aufklärung der VW-Affäre in der Braunschweiger Zeitung, in der es vor gut zehn um Betriebsrat, Vorstand, Bestechung, Macht und Sex ging. Der erste Artikel hätte mich beinahe meinen Job gekostet
14. Welcher ist Ihnen peinlich?
Mir fällt keiner ein
15. Ihre drei Lieblinge unter den Zeitungen, Sendungen und Websites?
Die Sächsische Zeitung, eine der besten Regionalzeitungen; Jürgen Wiebickes „Philosophisches Radio“ in WDR 5; „Fünf vor 8:00“ bei Zeit-Online (kluge Köpfe eröffnen den Tag mit einem Staunen)
16.Ihre Lieblings-(Fremd-)App?
Der Blitzer-Warner
17. Wie und womit entspannen Sie sich?
Beim Wandern löse ich Probleme und tagträume mich in Projekte hinein; beim Lesen und Schauen von Krimis bewundere ich die Recherche guter Ermittler, vor allem ihren Umgang mit Fehlern und Pannen
18. Sind Sie Mitglied einer Partei? Wenn ja: warum? Wenn nein: warum nicht?
Nein. Wenn ich eine Redaktion verlasse, weiß keiner, welcher Partei ich zuneige. Denn ein guter Journalist macht sich nicht gemein mit einer Partei, auch nicht mit der seiner Wahl
19. Welcher Rat (und von wem) hat Ihnen auf Ihrem beruflichem Weg besonders geholfen?
Der Rat meines Philosophie-Lehrers Kurt Flasch: Geh immer zu den Quellen! Geh den Dingen auf den Grund! Halte Dich nicht lange bei den Epigonen auf! Und bleib skeptisch, immer!
20. Was sollte Ihnen später einmal nachgesagt werden?
Er ging respektvoll mit den Menschen um. Er war fair. Und er machte nicht so viel Gedöns
Der Drops ist geluscht – oder noch nicht (Friedhof der Wörter)
Politiker freuen sich, wenn sie in der „Tagesschau“ zu sehen sind. Doch wenn sie am nächsten Tag mit Freunden oder Bekannten zu Hause sprechen, hören sie nicht: „Toll, wie Du gestern das Problem benannt hast!“
Nein, der einen fiel die neue Krawatte auf, dem anderen der freche Haarschnitt – und einem dritten das Wortspiel: „Das mit dem Drops, das muss ich mir merken“. Und worum ging’s? „Irgendwas mit Flüchtlingen? Oder war es der Haushalt?“
Es ging um den Haushalt, als der Erfurter SPD-Bundestags-Abgeordnete Carsten Schneider in der „Tagesschau“ für einige Sekunden zu sehen und zu hören war: „Der Drops ist noch nicht gelutscht!“
Der Drops ist ein neues Sprachbild, er ist – bildlich gesprochen – erst seit einigen Jahren in aller Munde; der „Redensarten-Index“ im Internet listete den Drops erstmals vor zehn Jahren auf. Wer so spricht, will sagen: Wenn Du den Drops gelutscht hast, ist die Sache erledigt – und wenn nicht, dann eben nicht.
Jeder könnte sagen: Die Sache ist erledigt – und jeder würde uns verstehen. Aber wir mögen die Verzierung der Sprache, wir mögen den Klang besonderer Wörter wie den „Drops“, der aus dem Alltag fast verschwunden und vom „Bonbon“ verdrängt worden ist.
Doch der „Drops“ überlebt – im Sprachbild, weil es ein schönes, kurzes, sinnliches Wort ist: Einen Drops zu lutschen, ist ein kleines Vergnügen, wenn wir aus dem Alltag herausfallen wollen. In Dialekten finden wir ähnlich nahrhafte Bilder: Wer in Bayern Urlaub macht, hört „Der Kas ist bissen“, der Käse ist gegessen; im Schwarzwald „Der Käs isch gefressen“. Die Sprachvölker im Süden schätzen in der Sprache das Herzhafte, nicht das Süße.
In allen Fällen, ob süß oder käsig, müssen wir das Sprachbild übersetzen: Der Spaß ist eigentlich vorbei, wenn sich der Drops mit unserer Hilfe aufgelöst hat. Das Sprachbild handelt also vom Ende der Lust, wir meinen allerdings das Gelingen einer Sache.
Aber so ist das bisweilen mit den Sprachbildern: Wir mögen mehr den Klang mehr als ihren Sinn. Der Drops ist gelutscht!
Lügenpresse (7): CSU-Friedrich als parlamentarische Pegida, eine rechte APO ahnend
Der Bilder-Streit nach Aylan: Eine komplette Zeitung ohne Fotos
Selten haben sich Journalisten so schwer mit einem Bild getan wie mit dem Foto des dreijährigen Aylan aus Syrien, der auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken war und – wie ein gefallener Engel – am Strand von Bodrum lag, das Gesicht vom Betrachter abgewandt. Die Bildzeitung, die meisten britischen Zeitungen, aber auch Regionalzeitungen haben das Foto gedruckt, Bild sogar auf der kompletten letzten Seite.
Auf die Kritik nicht nur dieses Fotos reagiert die Bild-Redaktion heute: Sie veröffentlicht eine komplette Ausgabe – auch Online – ohne Bilder (die Anzeigen ausgenommen); sie zeigt statt der Fotos je eine graue Fläche. Die Ausgabe erinnert an eine Ausstellung von Gruner+Jahr in Hamburg vor etlichen Jahren: Der Betrachter sah leere Rahmen, aber konnte die Bildzeilen lesen – und schon waren die Bilder im Kopf, allesamt Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis wie der Kniefall Willy Brandts in Warschau oder die Erschießung eines Vietkongs durch den Polizeichef in Saigon.
Bild begründet die Entscheidung so, als wäre es ein Schreiben an den Presserat:
Wir wollen damit zeigen, wie wichtig Fotos im Journalismus sind. Und dass es sich lohnt, jeden Tag um das beste Foto zu kämpfen!
Denn Fotos können beweisen, was Mächtige verstecken wollen. Sie wecken Emotionen in uns. Sie zeigen schöne Momente, aber auch grausame. Sie lassen uns mit anderen Menschen mitfühlen.
Denken Sie an das Schwarz-Weiß-Foto eines vietnamesischen Mädchens. Es rennt schreiend auf den Fotografen zu. Im Hintergrund US-Soldaten und eine bedrohliche, schwarze Wolke. Bis heute prägt dieses Foto unsere Abscheu vor Krieg mehr als jede Politiker-Rede, mehr als jedes geschriebene Wort.
Auch das Foto des ertrunkenen Aylan (3) am Strand ging um die Welt. Es sorgte für Bestürzen und Mitgefühl, rüttelte Millionen Menschen wach.
(in Fettdruck:) Darum steht BILD immer wieder für die Veröffentlichung umstrittener Fotos ein – oft gegen harte Widerstände. Die Welt muss die Wahrheit sehen, um sie zu verändern.
Die Eisbar-Knut-Affäre: Müssen Journalisten eine Sperrfrist befolgen?
Verstößt eine Redaktion, wenn sie die Sperrfrist nicht beachtet, gegen die „journalistische Sorgfalt“? Diesen Vorwurf erheben renommierte Wissenschaftler des „Forschungverbunds Berlin“ gegen die Berliner Zeitung und den Berliner Kurier und beschweren sich beim Presserat.
Worum geht’s? Am Montag, 24. August 2015, erzählten Wissenschaftler aus Berlin, woran Eisbär Knut gestorben sei; sie gaben vorab Informationen weiter unter der Bedingung, bis zur Pressekonferenz drei Tage später nichts zu veröffentlichen. Die beiden Berliner Zeitungen berichteten allerdings schon am Montag auf ihren Internet-Seiten und am Tag darauf in der Zeitung.
Die Wissenschaftler sehen darin einen Bruch „international gültiger Regeln in der Wissenschaftskommunikation“ und „publizistischer Grundregeln“. Die Zeitungsredakteure erhielten Hausverbot, durften an der Knut-Pressekonferenz nicht teilnehmen und bekommen ein halbes Jahr lang keine Informationen mehr. Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Wissenschaftler hier. Wissenschaftsorganisationen wie die Präsidenten der Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft protestierten bei Aufsichtsrat und Vorstand der „DuMont-Schauberg“-Mediengruppe:
Wir sind bestürzt über das Verhalten zweier Zeitungen aus der Mediengruppe M. DuMont Schauberg, die durch Alfred Neven DuMont zu großem Ansehen gelangt ist und sich für uns stets durch seriösen und qualitätsvollen Journalismus ausgezeichnet hat. Da zum Zeitpunkt des Embargobruchs das o.g. wissenschaftliche Manuskript noch nicht veröffentlicht war, bestand für unsere Wissenschaftler die akute Gefahr, dass das Manuskript von der Nature Publishing Group als bereits veröffentlicht zurückgewiesen wird. Die jahrelange Forschung unserer international renommierten Arbeitsgruppen wäre damit entwertet worden.
„Fehler machen wir alle mal, man kann sie aber korrigieren“, so bewerten die Forscher den kurzfristigen Bruch der Sperrfrist durch den Fernsehsender rbb und Focus Online, die ihre Berichte aus der Mediathek und Internet wieder löschten – Focus mit der redaktionellen Bemerkung:
Ein anderes Medium hat die Sperrfrist für die Berichterstattung gebrochen. FOCUS Online wird sich daran halten und veröffentlicht am 27. August zum offiziellen Ende des Embargos ausführliche Informationen zu Knuts Todesursache.
Der Begriff „Embargo“ für Sperrfrist, den die Wissenschaftler hier nutzen, ist in der Schweiz gebräuchlicher, in Deutschland weitgehend unbekannt.
Der Presserat sieht den Bruch der Sperrfrist offenbar als ethisch irrelevant an und strich die Richtlinie 2.5 im Jahr 2007; offenbar berufen sich die Wissenschaftler deshalb bei der Beschwerde auf die Sorgfalts-Pflicht – und da bin ich schon gespannt, wie der Presserat das löst, denn mit Sorgfalt hat der Bruch überhaupt nichts zu tun, die Fakten stimmten ja.
Sie alte Sperrfrist-Richtlinie des Presserats lautete:
Sperrfristen, bis zu deren Ablauf die Veröffentlichung bestimmter Nachrichten aufgeschoben werden soll, sind nur dann vertretbar, wenn sie einer sachgemäßen und sorgfältigen Berichterstattung dienen. Sie unterliegen grundsätzlich der freien Vereinbarung zwischen Informanten und Medien. Sperrfristen sind nur dann einzuhalten, wenn es dafür einen sachlich gerechtfertigten Grund gibt, wie zum Beispiel beim Text einer noch nicht gehaltenen Rede, beim vorzeitig ausgegebenen Geschäftsbericht einer Firma oder bei Informationen über ein noch nicht eingetretenes Ereignis (Versammlungen, Beschlüsse, Ehrungen u.a.). Werbezwecke sind kein sachlicher Grund für Sperrfristen.
Es ist eine Frage des Vertrauens. So schreibt die Leibniz-Gemeinschaft auch, sie sende vorab Studien an Journalisten, „damit diese sich in der Planung ihrer Berichterstattung darauf einstellen und Artikel recherchieren und vorbereiten können“. Sperrfrist gilt also als ein Service – auf Vertrauen.
Und wie reagieren die Redaktionen? Ein „DuMont“-Sprecher schiebt – laut Bülent Ürük im Kress Report – die Schuld auf die Lokalredaktion, die mit gängigen Regeln nicht vertraut sei, und die Wissenschaftler selber, weil die nicht nur Wissenschafts-Redakteure eingeladen habe. Im Hausverbot sieht der Unternehmenssprecher einen Angriff auf die Grundsätze der Pressefreiheit.
Brigitte Fehrle, Chefredakteurin der Berliner Zeitung, verwies laut Kress Report auf den harten Wettbewerb im Berliner Zeitungsmarkt.
Wie gehen andere Länder mit der Sperrfrist um? Während sich englische und amerikanische Zeitungen etwa über die Autorisierung von Interviews in Deutschland wundern, achten sie strikt auf die Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Sperrfristen. Der spektakulärste Fall einer Sanktion ereignete sich am Ende des Zweiten Weltkriegs und zerstörte eine US-Reporter-Karriere:
Edward Kennedy, der Leiter des Pariser AP-Büros, berichtete am 7. Mai 1945 von der Kapitulation Deutschlands, so dass die New York Times titeln konnte: „The war in Europa is endet!“ Allerdings hatte Präsident Truman eine Sperrfrist verhängt – offenbar mit Rücksicht auf Stalin, der die Kapitulation in Berlin als seine Leistung herausstellen wollte. Zudem hatte General Dwight D. Eisenhower auf die dienende Rolle der Journalisten verwiesen: Ihr seid „auxiliary staff officers“!, also Hilfsarbeiter, um den Krieg zu gewinnen durch „objektive“ Berichterstattung. Die Amerikaner haben immer schon gerne die Journalisten in ihre Interessen eingebettet.
Die AP feuerte Edward Kennedy, der den Rest seines Reporter-Lebens verbittert in einer Lokalzeitung zubringen musste – nicht ohne 1948 dem Atlantic Magazin zu sagen: „Ich würde es wieder tun.“
Erst 2012 entschuldigte sich der AP-Präsident Tom Curley in einem Vorwort zu den Memoiren Ed Kennedys, die seine Tochter Julia nach seinem Tod herausgegeben hatte: „Ed Kennedy’s War: V-E Day, Censorship, and the Associated Press“.
„Es war ein schrecklicher Tag für die AP“, sagte Curley in einem Interview, „wir haben es in der schlechtest möglichen Weise gemacht. Kennedy hat alles richtig gemacht: Er war wirklich ein Held.“
Das Foto des kleinen Aylan: Reicht die Kraft der Wörter – oder brauchen wir die emotionale Wucht der Bilder?
Wörter haben unterschiedliche Temperaturen: Die einen lassen uns kalt wie die „Neuordnung der Pensionskasse Deutscher Eisenbahnen und Straßenbahnen“, es sei denn ein Eisenbahner vor dem Ruhestand hört davon; andere erregen uns.
„Liebe“ zum Beispiel ist mehr als ein Wort, es ruft bei jedem Bilder ab aus seinem Leben: Der erste Kuss, der letzte Abschied – all das, was unser Leben radikal veränderte. Immer wenn wir das Wort „Liebe“ lesen oder hören, sehen wir das Bild zum Wort.
So liegen alle emotionalen Wörter in einem Ort unseres Gedächtnisses, alle sind kurz wie Hass und Tod oder Mutter, Liebe und Treue. Diese Wörter sind magisch, wir entkommen ihnen und ihren Bildern nicht mehr.
Es sind nicht nur eigene Bilder, die sich einprägen, sondern auch fremde Bilder aus Zeitungen und Filmen: Nur wenige haben die Flugzeuge gesehen, die am 11. September in die New Yorker Zwillingstürme flogen, aber die Bilder kennen wir alle. So werden wir auch das Bild des dreijährigen Aylan am Sandstrand von Bodrum nicht mehr los.
Es ist eigentlich unspektakulär: Ein Kind, dessen Gesicht wir nicht sehen, liegt wie eine Puppe vor den sanften Wellen des Mittelmeers. Zu einem magischen Bild wird es erst mit den Wörtern, die es erklären: Der Junge ist ertrunken auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien.
Journalisten debattieren: Dürfen wir Lesern das Bild zumuten? Die einen sagen Nein und vertrauen der Kraft des Verstandes, der allein Wörter nutzt, um die Welt besser zu machen; andere setzen auf die Macht von Bildern, die erregen und uns zum Guten leiten.
Eine Leserin schrieb einer Zeitung, die das Foto gedruckt hatte: „Seit Wochen höre ich fast täglich die Nachrichten von ertrunkenen Menschen. Heute habe ich das erste Mal darüber geweint.“
In England erweichte das Foto die Herzen: Der „Mirror“ brachte es groß auf der Titelseite mit der Schlagzeile „Unerträglich“ – und dann das Herz, oder Kalkül, von Regierungschef Cameron. Er will nun doch syrische Flüchtlinge aufnehmen.
**
Die Ruhr-Nachrichten in Dortmund druckten das Foto des roten Aylan verfremdet: Der Körper ist nur als Silhouette zu sehen. Darunter steht eine langer erklärender Text (hier auszugsweise):
„An dieser Stelle liegt ein totes Kind.
Ertrunken auf der Flucht. Angeschwemmt am Strand von Bodrum.
Einem türkischen Urlaubsort…
Wir haben lange in der Redaktion diskutiert. Zeigen wir das Bild, das bald jeder kennt?
Wenn ja, auf welcher Seite? Wie groß? Umgeben von welchen Nachrichten?
Wir haben uns für diese Lösung entschieden.
Wer das ganze Bild sehen will, findet es im Internet. Auch bei uns.
Dieses Bild kann historisch werden. Und vielleicht werden auch wir es dann mit etwas Abstand drucken.
Wichtiger ist, dass diese unfassbare Flüchtlingstragödie ein Ende findet. “
**
Stefan Kläsener schreibt zu dem Foto, das die Redaktion im Flensburger Tageblatt brachte, in seinem Newsletter:
Das Zitat des Tages stammt aus der rabbinischen Literatur, passt aber exakt zu dem kleinen Flüchtlingsjungen von Bodrum: „Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 7. September 2015 (Hier erweiterte Fassung)
Reaktionen per Facebook
„Das Bild ist unerträglich, weil es erträglich ist. Und umgekehrt. Anders als die Aufnahmen von der libyschen Küste ist das Foto von Ailan Kurdi nicht auf den ersten Blick abstoßend, nicht auf den ersten Blick brutal. Sein Körper ist nicht grotesk verrenkt, nicht versehrt. Die Hülle der Alltäglichkeit ist noch unversehrt. Und wir sehen kein Gesicht. Deshalb ist in gewisser Weise nicht nur dieses Kind erbärmlich ertrunken und angeschwemmt wie Strandgut. Es ist mein Kind. Es ist dein Kind. Es ist das Kind schlechthin als Inbild naiver Hoffnung und verratener Zutraulichkeit.“ Arno Frank
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