In Luthers Sprach-Werkstatt: Chaos, Tohuwabohu und schlechte Übersetzungen (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. November 2015 von Paul-Josef Raue.
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„Tohu wa-bohu“ ist ein hebräisches Wort, das für Durcheinander und Chaos steht. Es ist ein schönes Wort, das mit den Tönen spielt und mit fünf Vokalen singt – und deshalb auch in die deutsche Sprache eingedrungen und geblieben ist: Es wird öfter gesprochen als geschrieben, denn kaum einer kann Tohuwabohu fehlerfrei auf Papier bringen, ohne im Duden nachzuschlagen.

Mit dem „Tohu wa-bohu“ beginnt der Teil der Bibel, der vor 33 Jahrhunderten entstand: So war unsere Welt zu Beginn, als Gott sie erschuf. Martin Luther übersetzte in Wittenberg mit seinen humanistischen Freunden das Alte Testament, aber er traute dem „Tohuwabohu“ nicht, er wollte es dem Volk nicht zumuten.

Luther war nicht der erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte. Vor ihm gab es schon ein gutes Dutzend deutscher Bibeln, die gedruckt ein gutes Geschäft für die Verleger waren.

Auch die Übersetzer vor Luther mieden das Tohuwabohu: „Die Erde war leer und eitel“, übersetzen sie und blieben nahe am lateinischen Text: „Terra autem erat inanis et vacua“, wobei „inanis“ für die Eitelkeit steht und „vacua“ für die Leere, das Vakuum, das heute noch in unserer Sprache lebendig ist.

Luther dagegen nimmt nicht die Vulgata, die lateinischen Übersetzung, zur Hand wie die meisten seiner Zeit. Er geht zurück zur Quelle, zum hebräischen Urtext und übersetzt: „Die Erde war wüst und leer“. Der Übersetzer Josef Winiger lobt Luther für diesen „schlichten, klaren Schöpfungsbericht von poetischer Kraft“ im Vergleich zum „unfreiwillig dunklen Geraune“ der Übersetzer vor ihm.

„Tohuwabohu“ war unübersetzbar. Luther musste also ein leicht verständliches Wort finden für die Welt vor ihrer Erschaffung: Er fand also „wüst“, ein Adjektiv, das für Josef Winiger bildhafter ist und stärker als das abstrakte lateinische Wort.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 2. November 2015

Quelle: Diese Kolumne folgt einem Essay von Josef Winiger in „Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro).

 

Terror in Paris, die ARD, Twitter und Journalismus: Be first, but first be right

Geschrieben am 15. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Tagesschau ParisGeduld soll der Zuschauer haben. Geduld, wenn bei einem Länderspiel Explosionen zu hören sind und online die ersten Nachrichten über Attentate zu lesen sind. Geduld, fordert Udo Stiehl, freiberuflicher Nachrichtenredakteur für den Hörfunk (WDR und DLF) – als heftige Kritik an der Langsamkeit der ARD in den sozialen Netzwerken zu lesen war. Als ob der Nutzer von Facebook & Co noch Geduld hätte: Das Netz hat ihn zur sofortigen Nachrichten-Aufnahme dressiert, unverdaut, aber schnell, nur schnell.

„Da ist er nun passiert, der so genannte K-Fall (Krisen-Fall)… und die Erwartungen an die Medien sind unerfüllbar hoch… so viele absurde Forderungen habe ich noch nie gelesen“, schreibt Stiehl leicht zornig im Tagesschau-Blog: „Terrorismus in Paris – und eine unerfüllbare Anspruchshaltung“. Stiehl ist – erstaunlich – erstaunt, ja verwirrt über die heftigen Reaktionen in Twitter und auf Facebook. Das erstaunt: Stets nach schockierenden Ereignissen bricht eine solche Kritik über ARD und ZDF herein, aber auch über die meisten anderen Medien.

Stiehls Reaktion ist teilweise devot, teilweise realistisch:

  • Devot: Wenn er die Sportreporter, die das Länderspiel moderierten, in Schutz nimmt, aber ihnen auch journalistische Kompetenz abspricht: Die Moderatoren hätten sich auf das Spiel konzentriert – „und nun müssen die Kollegen plötzlich über Entwicklungen berichten, die nicht vorhersehbar sind“.
    Journalismus hat stets mit dem Nicht-Vorhersehbaren zu tun, und es ist eine Frage der Professionalität, damit schnell und kompetent umzugehen. Sind Sportjournalisten Fachidioten, die alles, was nicht rund ist, überfordert? Nein, meint Stiehl, und schreibt das Gegenteil: „Die Kollegen vom Sport sind Journalisten, aber sie haben sich – verständlicherweise – nicht zusätzlich auf eine Krisenberichterstattung vorbereitet.“
    Als ob sich Attentate und Katastrophen  per Telefon zu normalen Redaktionszeiten ankündigen, damit sich Journalisten darauf vorbereiten können!
  • Realistisch: „Es kann nur noch improvisiert werden.“ Dabei bleiben die Grundsätze seriösen Journalismus unangetastet: Recherche und gesicherte Informationen. „Aber das dauert! Und diese Geduld müssen nicht nur wir aushalten, sondern auch Sie“, schreibt Stiehl.
    Seriöse Medien brauchen Zeit, um die Wahrheit zu erkunden – anders als im Netz. „Auf sämtlichen Kanälen können Spekulationen stattfinden“, so Stiehl, „ohne dass es Fakten bedarf. Aber ist das Journalismus? Reicht Ihnen das aus? Ich hoffe nicht. Ohne journalistische Überprüfung, ohne redaktionelle Bearbeitung und ohne intensive Recherche ist das alles nicht mehr als Voyeurismus. Und das kann es doch nun wirklich nicht sein.“
    Also: „Wer verlässliche Berichterstattung wünscht, braucht vor allem eines: Geduld. Und wer die nicht aufbringen möchte, weil er glaubt, Journalisten könnten hexen, zaubern oder sonstige Wunder vollbringen, dem können wir – ganz ehrlich – nicht helfen.“

Und so schwach, wie die Kritiker meinen, war die ARD nicht: Nach dem Länderspiel gab es eine kurze Tagesschau-Sonderausgabe mit dem ersten Bericht der Frankreich-Korrespondentin; es folgten weitere Sonderausgaben. Am nächsten Abend schmiß die ARD das gesamte Abendprogramm um und zeigte Informationen und Analysen statt eines Spielfilms.

Stiehls Hinweis ist richtig: Das Fernsehen lebt von Bildern. Nur: Wenn es die nicht gibt, reichen Sätze, als Laufband ins laufenden Programm eingeblendet, so wie es an Wahlabenden passiert, wenn der Ausgang unklar ist und der „Tatort“ läuft.

Oder die Zentrale blendet kurz einen Sprecher ein, vielleicht in einem kleinen Fenster, der die wenigen Fakten von den vielen Gerüchten trennt, um Geduld bittet, aber den Zuschauern das sichere Gefühl gibt: Wir sind dabei, wir recherchieren – und wenn ihr dabei bleibt, bekommt ihr wirkliche Informationen!

Darauf könnte man sich vorbereiten. Und mit den Sportjournalisten müsste man trainieren: Das ist nichts Ungewöhnliches, weder  im Sport und im Journalismus.

Unantastbar bleibt das eherne Gesetz des Journalismus, das in Nachrichtenagenturen jedem Praktikanten am ersten Tag eingebimst wird: Be first, but first be right. „Sei der Erste, aber der Erste, der’s richtig bringt“ – So steht es auch im Nachrichten-Kapitel des „Neuen Handbuch des Journalismus“ auf Seite 116.

Nachtrag: ARD-Moderator Matthias Opdenhövel twittert: „Danke für Schlaumeierkritik aus D. Tut gut nach so einer Nacht im Auge des Terrors.“

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Screenshot Tagesschau

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Facebook-Debatte über Sinn und Übersetzung von „Be fist, but first be right“

Peter Huberth Vielleicht würde eine Nachhilfestunde in Englisch nicht schaden.

Anton Sahlender Dann geben Sie doch gleich den Nachhilfelehrer für diesen Fall, lieber Herr Peter Huberth

Moritz Cremers „Sei der Erste, aber zuerst gehe sicher, dass du das Richtige berichtest.“ Klingt zwar nicht mehr so schön wie die englische Version, trifft aber den Sinn.

Anton Sahlender Ich meine, so bekomme ich es soeben von jemanden erklärt, der das studiert hat, dass auch die Paul-Josef Raue – Version zutreffend ist. Die vorliegende komprimierte Version, wie sie die englische Sprache erlaubt, kann ohnehin nicht wörtlich, sondern nur sinngemäß ins Deutsche übersetzt werden. Deshalb ist die Raue-Version ok. Die Moritz -Version ist gleichermaßen zutreffend, wohl aber sprachlich sehr ausführlich. Sie nimmt nicht die prägnante Kürze aus der englischen Fassung mit. Die bleibt auf der Strecke.
Ich bestehe nicht auf die Richtigkeit dieser Erklärung, sondern nur auf die journalistische Korrektheit der Ausgangs-Aussage und auf die kommt es hier an.

Moritz Cremers Ich sehe das anders. Leider. Denn es ist nun mal eine Abwägung, ob ich der Erste bin, oder ob ich alle meine Informationen überprüfe. In diesem Sinne würde ich sogar sagen „Sei nicht der Erste, sondern sei der Erste, der es richtig bringt“, auch wenn das dem „ehernen Gesetz“ des Herrn Raue widerspricht.
Was die prägnante Kürze angeht, sollte die nach meiner Ansicht zugunsten der Verständlichkeit zurücktreten.

Anton Sahlender Die Verständlichkeit ist in Raues Version vorhanden. Ich füge ihr absichtlich aber den journalistischen Grundsatz an: „Richtigkeit vor Schnelligkeit“.
Während Raues Version weiterhin demgegenüber auch eine sehr ehrgeizige Priorität dabei setzt, trotz Richtigkeit doch der Erste zu sein, setzt ihre Version die Priorität bei der Richtigkeit vor der Schnelligkeit. Sie kommt damit dem von mir genannten Grundsatz näher. Sie gibt damit vielleicht aber die ehrgeizige Intention der englischen Aussage nicht wieder. Die will offenbar beides.

Peter Huberth Danke Herr Cremers für ihre Unterstützung.

Peter Huberth Lieber Anton, meine nur noch rudimentär vorhandenen Kenntnisse der englischen Sprache qualifizieren mich nicht für eine Aufgabe als Nachhilfslehrer.

Anton Sahlender Peter, dann qualifizieren sie Dich eigentlich auch nicht für deine Empfehlung …

Wie derbe darf ein Ministerpräsident sprechen? Luther hätte kein Problem mit dem „Dreckarsch“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 14. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Der „Dreckarsch“ steht nicht im Duden, dafür die „Drecksau“, der „Drecksack“ und das „Drecknest“. Der Duden notiert, was die Deutschen so sprechen und schreiben, und distanziert sich auf seine Weise: „derb abwertend“ schreibt er in Klammern hinter solche Dreckswörter.

Im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache hat der „Dreckarsch“, der männlichen Geschlechts ist, schon seinen Platz gefunden: „niederträchtiger Mensch“. Im Rheinischen Wörterbuch wird der „Dreckarsch“ als „schwere ehrenrührige Beleidung“ eingestuft.

Dennoch hat der „Dreckarsch“ eine Chance, in die nächste Ausgabe des Dudens aufgenommen zu werden. Immerhin hat der thüringische Ministerpräsident das Wort zwar nicht in den Mund genommen, aber per Twitter in die Welt gesandt: Berlusconi sei „ein Oberrassist und Dreckarsch“.

Berlusconi war etwas, was der Thüringer Bodo Ramelow gerne noch werden möchte: Viermal Ministerpräsident. Noch berühmter wurde Italiens Regierungschef jedoch durch seine „Bunga Bunga Partys“, auf denen auch Minderjährige mit den Herren gespielt haben sollen.

Reicht das, um ihn einen „Dreckarsch“ zu nennen? Die Bildzeitung ist nicht gerade das Zentralorgan der feinen deutschen Sprache, aber sie griff das derbe Ramelow-Wort auf und fragte: „Darf sich ein Regierungschef so äußern?“

Fragen wir Martin Luther um Rat, immerhin eine moralische Instanz seit einem halben Jahrtausend. Luther mochte es gerne derb und schätzte das, was wir streng wissenschaftlich „Fäkalsprache“ nennen: „Ich kann dem Teufel den Hintern zeigen und ihn mit einem einzigen Furz vertreiben.“

Über den Berlusconi seiner Zeit, den mächtigen Herzog Heinrich von Braunschweig, schrieb er: „Unsinniger, wütender Tyrann, der sich voll Teufel gefressen und gesoffen hat und stinkt wie ein Teufelsdreck.“

Als ich 2012 in der Festrede beim Neujahrs-Empfang der Stadt Eisenach das Zitat vorlas, erschrak das vornehme Publikum, so dass ich schnell anfügte: „Schreibt so heute ein Journalist über einen Oberbürgermeister, Minister oder Präsidenten, ruft der den Chefredakteur oder Verleger an, droht mit dem Presserat.“

So viel Scheiß war allerdings auch den Zeitgenossen Luthers schon zuwider. Johann Pistorius schrieb 1595 in den „Anatomia Lutheri“ nach der Lektüre einer Luther-Schrift: „Wie oft Luther das Wort Dreck braucht, ist nicht vonnöten nachzulesen.“ Doch ein halbes Jahrhundert später kann sich jeder Redakteur nicht nur auf Luther, sondern auch auf einen leibhaftigen Ministerpräsidenten berufen.

Noch mehr Dreck? Das Rheinische Wörterbuch listet allein 167 Drecks-Wörter auf. Eine Auswahl?

Dreckfresse, Dreckkriecher, Drecklümmel, Dreckmaul, Dreckwühler, Dreckwutz – und sogar Dreckmike, wobei die Westerwälder dabei bestimmt nicht an den Thüringer Oppositionsführer Mike Mohring gedacht haben.

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 16. November 2015 (erweiterte Fassung)

 

 

Helmut Schmidt: Politiker und Journalisten teilen sich das Schicksal…

Geschrieben am 11. November 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 11. November 2015 von Paul-Josef Raue in B. Die Journalisten, D 12 Durchsichtige Sätze.

 Politiker und Journalisten. Das sind beides Kategorien von Menschen, denen gegenüber größte Vorsicht geboten ist: Denn beide reichen vom Beinahe-Staatsmann zu Beinahe-Verbrechern. Und der Durchschnitt bleibt Durchschnitt.

Helmut Schmidt In einer Rede vor Studenten in Freiburg, 1995, nach Spiegel Online)

Wolfram Kiwit, Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten, hat für seinem Newsletter Zitate von Helmut Schmidt gesammelt, der am 10. November 2015 gestorben ist:

  • Politiker und Journalisten teilen sich das Schicksal, dass sie heute über Dinge reden, die sie erst morgen ganz verstehen.
  • Wer die Vergangenheit nicht studiert, wird ihre Irrtümer wiederholen. Wer sie studiert, wird andere Möglichkeiten zu irren finden
  • Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen
  • Ohne Kenntnis unserer Geschichte bleibt die Gegenwart unbegreifbar
  • Großes wird auf Gipfeltreffen nicht bewegt, aber Schlimmeres verhindert
  • Wer Kritik übel nimmt, hat etwas zu verbergen
  • Die Eltern haben ihren Erziehungsauftrag an 25 Fernsehkanäle und die Video-Industrie abgegeben
  • Ehrlichkeit verlangt nicht, dass man alles sagt, was man denkt. Ehrlichkeit verlangt nur, dass man nichts sagt, was man nicht auch denkt
  • Die Toleranz ist nicht grenzenlos. Sie findet ihre Grenze, vielleicht ihre einzige Grenze, in der etwaigen Intoleranz des anderen
  • Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden
  • Wenn man einen Fehler gemacht hat, muss man sich als erstes fragen, ob man ihn nicht sofort zugeben soll. Leider wird einem das als Schwäche angekreidet
  • Wer nicht redet, wird nicht gehört

 

„Sie gehen mir auf den Sack“ – Til Schweiger und Luther: Schön vulgär (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 7. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Darf man sich so  öffentlich empören: „Ach ey, Sie gehen mir auf den Sack – echt“? Selbst wenn Til Schweiger so schimpft: Darf man ihn in einer seriösen Zeitung zitieren? Ist das nicht Gossensprache, einfach vulgär?

Ende August ging es in der Maischberger-Talkshow um Hetze im Internet gegen Flüchtlinge. Als CSU-Generalsekretär Andreas Schweiger dem Schauspieler Til Schweiger ins Wort fiel, pöbelte der ihn an, aber entschuldigte sich am Ende der Sendung: „Mein kleiner Ausraster eben tut mir leid. Dafür möchte ich mich entschuldigen.“

Doch zurück: Dürfen wir zitieren? Ja, sagt der Chrismon-Chefredakteur Arnd Brummer, tut es auch in seiner Kolumne und nimmt sich als Verbündeten – Martin Luther. Der „hätte die Reaktion des Schauspielers schenkelklopfend erfreut: Grober Keil auf groben Klotz!“

In der Tat schaute Luther dem Volk so genau aufs Maul, dass er manch vulgäres Wort aufnahm ohne Wenn und Aber. Vulgär kommt aus dem Lateinischen: „vulgus“ meint das gemeine Volk.

Seine Kritiker, die ihm eine „Kuhstall-Sprache“ vorwarfen, nannte Luther „unverschämte Tröpfe“ oder „Rotzlöffel“, den Papst einen „Esel“. Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott meint denn auch: „Was Diplomatie ist, weiß Luther nicht. Für seine Tiraden bewundern wir ihn. Cholerik schadet nicht, wenn man die Welt verändern will.“

Hätte also Til Schweiger in Luther Schriften geblättert, wäre ihm die Entschuldigung nicht in den Sinn gekommen: Grober Keil auf groben Klotz. Schweigers Entschuldigung hätte Luther allerdings nicht akzeptiert: Selber kann sich kein Mensch entschuldigen, also von Schuld freisprechen, dazu bedarf es schon einer höheren Macht. Wer Schuld auf sich geladen hat, kann nur um Entschuldigung und Verzeihung bitten. Und dies ist mehr als ein Streit um Worte.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 9. November 2015

Luthers Sprache ist das Thema des „Friedhofs“  im Luther-Monat November. Karl-Heinz Otts Essay „So will er’s haben, so und nicht anders“ erscheint im  Sammelband „Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro).

Arnd Brummers Kolumne „Frohe Botschaft heißt: Menschen abholen, wo sie sind“ erschien im Oktober-Heft von Chrismon

Zündeln Redakteure, wenn sie über Gewalt in Flüchtlings-Unterkünften berichten?

Geschrieben am 28. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Erst verfügte laut Gewerkschafts-Angaben der Innenminister in Thüringen, die Polizei solle nicht mehr über Einsätze in Flüchtlings-Unterkünften berichten, nun enthüllen auch die Kieler Nachrichten solch ein Schweigen der Polizei in Schleswig-Holstein. FDP-Chef Kubicki postet in Facebook:

Sollte es zutreffen, dass die Redaktion der „Kieler Nachrichten“ tatsächlich von der Landespolizei aufgefordert wurde, nicht über Fälle in der Flüchtlingsthematik zu berichten, die von der Landespolizei selbst als ‚relevante Ereignisse‘ eingestuft wurden, dann wäre das ein Skandal. Ressortleiter Michael Kluth berichtet dies in seinem Kommentar von heute.

Die Begründung für solch ein Vorgehen, die Presse ‚zündele‘, rechtfertigt in keinem Fall die Geheimhaltung offensichtlicher Tatbestände. Sie ist sogar doppelt skandalös. Denn erstens ist die Meinungs- und Pressefreiheit in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Sie bildet damit einen der Grundpfeiler unserer Republik. Zweitens dürfen wir nicht jeden, der Kritik übt, ja nur kritische Fragen stellt, in den Senkel stellen und mit dem Vorwurf der Zündelei belegen.

Wenn die Verantwortlichen den Eindruck vermitteln, es würden wesentliche öffentlichkeitsrelevante Fakten verschleiert und die Debatte unehrlich geführt, sorgt dies für einen massiven Vertrauensverlust der Menschen in unsere demokratische Ordnung. Es verhindert nicht nur eine sachliche Auseinandersetzung, sondern macht die Menschen erst empfänglich für antidemokratische Kräfte.

Neonazis stellen Lokalredakteur unentwegt nach: Die ganze Geschichte

Geschrieben am 27. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Dortmunder Neonazis brandmarken den Ruhr-Nachrichten-Redakteur Peter Bandermann im Netz als „Volksverräter“, stellen eine Todesanzeige mit seinem Namen ins Netz, werfen Farbbeutel auf sein Haus. Als Peter Bandermann ein Brötchen beim Bäcker kaufen will, wird er von statdtbekannten Neonazis umstellt, bedrängt und genötigt. Er zeigt sie an, doch die Staatsanwaltschaft sieht nur eine subjektive Belästigung und keine „schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“. Sein Chefredakteur Kiwit veröffentlicht in seinem Newsletter den Brief der Staatsanwaltschaft und  kommentiert: „Ein rechtsstaatliches Armutszeugnis und ein Freibrief für die Neonazis“.

Nachdem in diesem Blog der Fall dokumentiert worden war, gab es auch kritische Stimmen und den Vorwurf, unfair gegenüber der Staatsanwaltschaft zu sein: Was ist genau passiert? Was heißt „bedrängen und nötigen“? Hat die Staatsanwaltschaft nicht einfach „vorschriftsmäßig“ gehandelt?

Peter Bandermann selber schildert ausführlich die Anfeindungen der Neonazis in einer Mail an diesen Blog:

Bis dahin ertragene Anpöbeleien auf Demonstrationen oder Verunglimpfungen im Internet waren Vorläufer für eine Verschärfung der Repressionen. Ende November 2014 veröffentlichten Dortmunder Neonazis im Internet eine Liste mit 10 Dortmunder Namen, die als Volksverräter gebrandmarkt wurden. Vor ihren Privathäusern sollten Demonstrationen stattfinden. Über die Auswahl von drei „Nominierten“ sollte abgestimmt werden.

Die Wahl fiel auf den Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau, auf ein weiteres SPD-Mitglied und auf mich als Redakteur der Ruhr Nachrichten. Ich beobachte und berichte in Dortmund seit 15 Jahren.

Nach einem von der Polizei ausgesprochenen Verbot gegen den Demo-Anmelder, die Versammlung direkt vor meiner Haustür stattfinden zu lassen, gab es Aufrufe im Internet, mich dennoch zu „besuchen“. Zunächst wurden in meiner Nachbarschaft Flugblätter über mich verteilt. In der Nacht zum 2. Weihnachtstag 2014 kam es zu einem Farbanschlag auf das Haus, in dem ich zur Miete wohne. Die Täter wurden nicht ermittelt. Das Verfahren wurde sechs Wochen später eingestellt.

Im Februar 2015 wurden im Internet eine Todesanzeige mit meinem Namen und die Ankündigung meines bevorstehenden Todes veröffentlicht. Ein Ermittlungsergebnis gibt es bislang nicht.

Ende August 2015 veranstaltete das Zentrum für politische Schönheit in Berlin vor einem von mehreren Neonazis bewohnten Haus im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld ein Schauspiel. Dafür war ich als Reporter eingesetzt. Nach Beendigung dieser Kunstaktion war ich auf dem Weg zum versteckt abgestellten PKW. Neonazis erkannten, verfolgten und stellten mich überraschend in einem Ladenlokal und veröffentlichten die gefilmte Szene im Internet.

Wir erhalten anonyme Anrufe mit elektronisch verstellten Anrufen und erhalten Post, u. a. ein Infoblatt über das Gefängnis in Bautzen sowie Kataloge mit Nazi-Devotionalien. Hinzu kommen online veröffentlichte „Hinweise“ auf den Umgang mit Volkverrätern in früheren Zeiten.

In einer der Anzeigen ist umfangreich dargestellt worden, welche Methoden die Bedroher wählen.

 

 

Neonazis stellen Redakteur nach – Staatsanwalt zuckt mit den Schultern: „Nicht schwerwiegend“

Geschrieben am 26. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Peter Bandermann schreibt in der Dortmunder Lokalredaktion der Ruhr-Nachrichten über Neonazis. Denen gefällt das nicht: Als er vor einigen Wochen beim Bäcker ein Brötchen kaufen wollte, umstellen ihn einige stadtbekannte Neonazis, bedrängten und nötigten ihn.

RN und Neonazis

RN und Neonazis

Peter Bandermann informierte die Staatsanwaltschaft, die keine Beeinträchtigung von Arbeit und Leben des Redakteurs sieht und nur mit den Schultern zuckt:

Nicht ausreichend ist, dass die Belästigungen subjektiv als nachteilig empfunden werden. Die von Ihnen geschilderten Beeinträchtigungen sind nicht als schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung anzusehen.

Wolfram Kiwit, RN-Chefredakteur, veröffentlicht in seinem Newsletter das Schreiben im Original und kommentiert: „Ein rechtsstaatliches Armutszeugnis und ein Freibrief für die Neonazis“.

 

Nico Fried tritt zurück: Der letzte „Spreebogen“ mit viel Geschwurbel

Geschrieben am 25. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Als Kurt Kister seine Samstags-Kolumne in der SZ  aufgab, um sich als Chefredakteur in vielen  Konferenzen zu langweilen, da war ich sicher: Das ist der Tod der besten Politik-Kolumne unserer Republik. Wer konnte es wagen, sich mit Kisters feiner Ironie und seinem Wissen des Politik-Betriebs zu messen, mit Kisters eigenem Erzähl-Ton und einer Melancholie, die überdeckt, wie einer an dieser Demokratie und ihren Akteuren leidet.

Fried NicoNico Fried wagte es, ein Kister-Schüler, der in die meisten seiner „Spreebogen“-Kolumnen einen Satz einschob als Running-Gag: „Wenn man einen Chefredakteur hat, der früher mal mein Büroleiter war…“ Nico Fried, seit acht Jahren SZ-Chef in Berlin, hat nicht versucht, Kister zu kopieren; er hat seinen eigenen Ton gefunden, ein wenig milder, ein wenig liebevoller. Er selbst sah sich so in einem „Spreebogen“, als sein Kollege Hulverscheidt nach Amerika ging:

Gelegentlich haben Claus Hulverscheidt und ich auch gemeinsam Artikel geschrieben, besonders gerne über Wolfgang Schäuble. Hulverscheidt war für die Fakten zuständig, ich fürs Geschwurbel. Einmal kamen wir mit so einem Text unter die letzten ichweißnichtwievielten beim Henri-Nannen-Preis, einer renommierten Auszeichnung für Journalisten. Weil die Geschichte keine Reportage war, nahm uns die Jury in die Kategorie Essay. Das war ungefähr so, als würde man bei einem Kochwettbewerb einen Toast Hawaii mit Knäckebrot zulassen. Wir haben den Preis am Ende nicht gewonnen, uns aber gegenseitig fortan voller Ehrfurcht als Essayisten angesprochen.

Eines hat Fried mit Kister doch gemeinsam: Die Liebe zu unserem Land, zur Freiheit und zur Demokratie. Beide würden abstreiten, dass es Liebe ist, Kister noch mehr als Fried. Liebe wäre zu viel Gefühl, meinten sie, wahrscheinlich.

Nun hört auch Fried auf: Welch ein Verlust! Der Samstag hatte immer ein großes Versprechen parat: Den „Spreebogen“. Wer klug war unter den Lesern, überblätterte fünfzig Seiten und schaute zuerst auf den linken Rand im Gesellschaftsteil. In seinem letzten „Spreebogen“ spricht Fried über – Rücktritte; er erzählt von den Politikern, mit denen er über ihren Rücktritt gesprochen hat: Müntfering, Merkel, Seehofer. Und dann verkündet ein großer Kolumnist seinen Rücktritt, seinen eigenen:

Ich habe neulich ein ernstes Gespräch mit mir geführt. Ich habe nicht gesagt: Tritt zurück. Ich wollte nicht blöd dastehen, wenn ich geantwortet hätte: Nö. Stattdessen habe ich mich dazu gebracht, von selbst draufzukommen. Deshalb ist dieser Spreebogen der letzte. Sonst schreibt noch einer, es sei auch höchste Zeit gewesen.

Ich schreibe es nicht, ich weiß, mir wird etwas fehlen am Samstagmorgen.

Wer war Luther? Ein Urviech? Ein wortgieriger Mann? Mit Luther Wörter erfinden (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Natürlich war der Mann ein Naturereignis, ein Sprachfex.

So beginnt die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihren Essay über Martin Luthers Wortgewalt – und scheitert gleich im ersten Satz. „Sprachfex“? Was bedeutet das Wort?

Der „Sprachfex“ schlummert am äußersten Rand unserer Sprache, er taucht nur selten auf. Selbst bei Goethe, der gern mit den Wörtern spielte, entdeckt man nur einmal einen Fexen – im „Faust“. Der Teufel spricht von „Hexenfexen“ und vergleicht sie mit „Gespenstgespinsten“ und „kielkröpfigen Zwergen“.

Schlauer ist man nicht: Ist der Sprachfex also ein Hexenmeister der Sprache? Einigen wir uns darauf: Ein Hexenmeister.

Nur – passt der zu Martin Luther, dessen 498. Reformations-Gedenken am kommenden Sonnabend ansteht? Kaum. Doch wer über Luther und die Sprache schreibt, will ihm folgen und kräftige Wörter erfinden.

Aber Vorsicht! Nicht jeder, auch nicht jeder, der schreiben kann, hat Luthers Format. Sibylle Lewitscharoff erfindet ein Synonym nach dem anderen für Luther:

Erst das Naturereignis, dann der Sprachfex, gefolgt vom großen Reformator, dem entlaufenen Mönch, dem sprachlichen Urviech, dem Judenhasser, dem außerordentlich begabten Mann, dem wortgierigen Mann, dem Unruhestifter, dem Prophet des Weltendes. So viele Wörter für einen Mann – wer will sie alle verstehen?

Und was hat Luther mit unserer Sprache getan?

Er hat mit seinen kräftigen Händen darin herumgerührt, sie mit einer nicht scheuen Zunge unter die Leute gebracht, ein enormes Sprachgewitter erzeugt, ein dunkeldrohendes Saftdeutsch mit hellen Aufflügen geschrieben und die Wörter am Zügel der Knappheit laufen lassen.

Genug der Bilder! Genug der Sprachgewalt! Es ist noch viel Platz auf dem Friedhof der Wörter.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Oktober 2015

Sibylle Lewitscharoffs Essay „Von der Wortgewalt“ eröffnet den Sammelband „Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro)-

 

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