Occyp-Eye: Wie Manager ihre Redakteure überwachen können
Der Daily Telegraph ist eine englische Zeitung mit etwa einer halben Million Auflage. Redakteure fanden vor wenigen Tagen kleine Boxen der Firma „OccupEye“ unter ihrer Schreibtisch-Platte. Mit dieser Box werden Wärme und Bewegung gemessen: So kann das Management feststellen, ob ein Redakteur an seinem Platz oder wie lange er abwesend ist. Als Buzzfeed die Überwachung öffentlich machte, begründete das Management die Überwachung mit der Energie-Wende: So könne man feststellen, wie viel Energie ein Raum braucht; je weniger Leute anwesend sind, umso weniger muss gekühlt oder geheizt werden.
Nach dem Buzzfeed-Bericht wurden die Geräte wieder entfernt.
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Quelle: http://www.buzzfeed.com/jimwaterson/telegraph-workplace-sensors#.mxJlDOyG
Der Minister antwortet nicht. Oder: Was ist ein gutes Interview? (Teil 1)
Das FAZ-Interview mit Innenminister Thomas de Maizière zu seiner Kritik an der Polizei beginnen die Journalisten mit der Frage „Warum haben Sie das getan, Herr Minister?“ Der Minister beantwortet die Frage nicht, sondern schwadroniert: „Anschließend habe ich mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister telefoniert…“
Die Journalisten lassen dem Minister durchgehen, dass er ihre Frage ignoriert, sie fassen nicht nach, sondern gehen zum nächsten Thema über.
Die dritte Frage besteht aus drei Fragen:
Sollte in Köln etwas unter den Teppich gekehrt werden? Vieles war der Polizei schon in der Silvesternacht bekannt: sexuelle Übergriffe, Verdächtige mit Migrationshintergrund. Führen Sie das auf den Umgang mit Kriminalität zurück, sobald die Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben? Ist das die Kehrseite der Willkommenskultur?
Nur zwei beantwortet der Minister.
Die siebte Frage ist keine Frage, auf die der Minister nicht antworten kann: Also nimmt er die Einladung dankbar an und schwadroniert wieder.
In Köln ist nach außen hin aber das Gegenteil passiert: Die Polizei verbreitete am Neujahrstag eine Darstellung, die all diejenigen bestätigt, die sagen, da wird uns ein Bild präsentiert, das gar nicht der Wirklichkeit entspricht.
De Maizière: Ein Generalverdacht ist genauso wenig der richtige Weg wie das Tabuisieren der Herkunft von Kriminalität. Es darf keine Schweigespirale geben, schon gar nicht darf sie von der Polizei ausgehen.
Die neunte Frage ignoriert der Minister einfach und macht ein eigenes Thema auf:
Gewalt gegen Asylbewerberheime, Gewalt in Asylbewerberheimen, Gewalt auf öffentlichen Plätzen. Hat die Polizei noch die Kontrolle?
De Maizière: Ich will den Bogen etwas weiter spannen. Es gibt weit über die Vorfälle in und um Asyleinrichtungen hinaus eine Tendenz zur Verrohung sowohl der Sprache als auch des Verhaltens in wachsenden Teilen der Gesellschaft. Das hat ein Ausmaß angenommen, das nicht hinzunehmen ist…
Nach der 18. Frage korrigiert der Minister die Journalisten und stellt die Frage, die er für die richtige hält:
Nach den Kölner und anderen gewalttätigen Vorfällen fragt man sich außerdem: Was ist mit dem Entzug des Aufenthaltstitels?
De Maizière: Da stellt sich zunächst die Frage: Wirkt sich die Strafbarkeit auf die Erteilung von Asyl aus? Geltendes Recht ist, dass bei einer Strafe von drei Jahren eine Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist…
Was macht ein gutes Interview aus:
- Die Journalisten fassen nach, wenn die Frage nicht beantwortet wird – solange sie eine Antwort bekommen oder dem Leser klar wird, dass der Gast nicht antworten will. Ein Interview mit einer unbeantworteten Frage zu beginnen, ist zumindest unglücklich.
- Journalisten stellen immer nur eine Frage, sonst laufen sie Gefahr, dass sich der Gast die Frage aussucht, die ihm gefällt.
- Wenn sie keine Frage formulieren, sondern Fakten präsentieren oder Meinungen äußern, müssen sie darauf achten, dass ihr Gast darauf reagiert.
- Korrigiert der Gast eine Frage zu Recht, dann ändert man in der Autorisierung die eigene Frage: Nicht nur der Gast kann seine Antworten ändern, auch die Redaktion ihre Frage – vor der Autorisierung selbstverständlich. Fragen und Antworten müssen aufeinander abgestimmt sein.
Gerade wenn ein Interview autorisiert wird, lassen sich in der zum Druck vorgesehenen Fassung manche Unebenheiten des Gesprächs ausgleichen – auf beiden Seiten. Ein Interview mit einem unsicheren Minister zu einem heftig diskutierten Thema ist nicht einfach zu schreiben, zumal – so ist zu vermuten – nur wenig Zeit bestand, es von einer sperrigen Presseabteilung autorisiert zu bekommen; dennoch sollten einfache Regeln beachtet werden wie „Nachfassen“ oder „klare Fragen stellen“. Der Leser verlangt es.
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Quelle: FAZ, 9. Januar 2016, Seite 2 „Es darf keine Schweigespirale geben“
Vorbildlich: Ein Chefredakteur entschuldigt sich wegen „rassistischer“ Grafik
Die Republik scheint nach den Silvester-Übergriffen in Köln im Ausnahmezustand zu sein, was die Medien und die Politik betrifft. Da reicht ein falsches Bild, ein falscher Satz, und der Sturm bricht los in den Netzwerken, die schnell nicht mehr sozial sind. Da hilft nur eines: Schnell reagieren, auch am Wochenende, so wie es Wolfgang Krach tat, einer der beiden SZ-Chefredakteure. Er entschuldigte sich für zwei Illustrationen, die Leser zum Teil vehement als „rassistisch“ kritisiert hatten. Krach nutzte dafür den Facebook-Auftritt der Süddeutschen Zeitung. Er war schnell und verhinderte so einen langen Shitstorm.
Gut , dass Sie sich entschuldigen. Besser ist noch, wenn Sie wirklich verstehen, warum diese Grafik sowohl rassistische als auch sexistische Stereotype bedient und ab jetzt doppelte Vorsicht walten lassen. Sie sind ein Qualitätsmedium. Ihre Stellungnahme bestätigt das. Viele Kommentare hier lassen mich allerdings an der Qualität ihrer Leser_innen zweifeln.
Die Reaktion von Krach ist vorbildlich; hier im Wortlaut:
Am Wochenende haben wir sowohl in der gedruckten Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ als auch auf SZ.de ausführlich über die Ereignisse der Silvesternacht von Köln und die sexuelle Gewalt berichtet, die dort vielen Frauen angetan worden ist. Wir haben dabei unter anderem zwei Illustrationen verwendet.
Die eine zeigt eine Faust im Kopf, die andere symbolisiert einen sexuellen Übergriff auf eine weiße Frau durch eine schwarze Hand (http://on.fb.me/1SbvU9n). Diese zweite Illustration hat bei etlichen unserer Leserinnen und Leser Unverständnis und Wut hervorgerufen; sie kritisieren sie als sexistisch und rassistisch.
Unsere Absicht war, mit den beiden Illustrationen deutlich zu machen, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen nicht nur aus physischen Übergriffen besteht, sondern meist im Kopf und im Denken beginnt. In den begleitenden Texten haben wir so differenziert wie möglich über die Ereignisse von Köln, die Angriffe auf die Frauen, die Motive und die Hintergründe der Taten, das Versagen der Polizei und auch über die Instrumentalisierung der Taten durch rechte Demagogen berichtet.
Die zweite Illustration läuft dieser differenzierenden Absicht jedoch entgegen. Sie bedient stereotype Bilder vom „schwarzen Mann“, der einen „weißen Frauenkörper“ bedrängt und kann so verstanden werden, als würden Frauen zum Körper verdinglicht und als habe sexuelle Gewalt mit Hautfarbe zu tun. Beides wollten wir nicht. Wir bedauern, wenn wir durch die Illustration die Gefühle von Leserinnen und Lesern verletzt haben und entschuldigen uns dafür.
Wolfgang Krach, Chefredakteur
Unspruch des Jahres: „Ich bin kein Rassist, aber…“ plus Macho-Spruch des Jahres (Friedhof der Wörter)
Wir haben das Wort des Jahres, das Unwort des Jahres und das Jugendwort des Jahres. Die Österreicher haben noch den Spruch des Jahres:
Frankreich wir kommen!
Den werden die meisten Deutschen nicht verstehen: „Frankreich wir kommen“ war das Motto der österreichischen Fußballer, die sich nach über einem halben Jahrhundert wieder sportlich für die Europameisterschaft qualifizieren konnten. Der Spruch macht deutlich: Die Österreicher waren weise, als sie sich von den deutschen Wörtern, Unwörtern und Jugendwörtern lösten – auch wenn sie die gleiche deutsche Sprache sprechen.
Sprache ist an einen Ort gebunden: Manches, was in Deutschland gesagt wird, interessiert in Österreich kaum jemanden – und umgedreht auch. Weise waren die Österreicher auch, als sie nicht nur vom deutschen Wort des Jahres verabschiedeten, sondern auch den Spruch des Jahres von den Bürgern wählen ließen.
In Deutschland wählt den Spruch des Jahres eine „Deutsche Akademie für Fussballkultur“ – ja wirklich: „Fußballkultur“, wobei wohl nicht nur an den Kulturbeutel beim Duschen gedacht ist.
Sind drei Sätze mit 18 Wörtern noch ein Spruch? In der Fußballkultur offenbar:
München ist wie ein Zahnarztbesuch. Muss jeder mal hin. Kann ziemlich weh tun. Kann aber auch glimpflich ausgehen,
sprach Sebastian Prödl , ein Österreicher, vor dem Spiel bei den Bayern.
Zur Wahl stand auch ein 18-Wörter-Spruch von Bruno Labbadia, als er Trainer in Hamburg werden sollte:
„Ich habe meine Frau vor die Wahl gestellt: Mallorca oder HSV? Aber ich habe sie nicht ausreden lassen.“
Der Spruch könnte der Macho-Spruch des Jahres sein.
Den Unspruch des Jahres wählen die Österreicher auch – und die fünf Wörter haben es in sich: „Ich bin kein Rassist, aber …“ In der Regel folgt ein rassistischer Spruch, tausendfach in den unsozialen Netzwerken zu lesen.
Und welcher Spruch wäre der bundesdeutsche des Jahres? Drei Wörter, die man nicht gut finden muss, die aber jeder kennt, jeder zuordnen kann: „Wir schaffen das“.
Die drei Wörter sprach die Kanzlerin in einem größeren Zusammenhang auf einer Pressekonferenz Ende August in Berlin, aber nur drei Wörter blieben haften:
„Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Innenminister de Maiziere gegen den Presserat: Es darf keine Schweigespirale geben
Ein Migrations- oder ein Flüchtlingshintergrund darf nicht verschwiegen werden. Das wäre im Ergebnis nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Politik und Medien bewusste Verzerrung vorwerfen.
Sagt Innenminister Thomas de Maizières im Interview mit der FAZ. Er meint das generell und plädiert indirekt für die Abschaffung von Richtlinie 12.1 des Pressekodex, die eine Erwähnung von Nationalitäten bei Straftätern nur ausnahmsweise gestattet („Erwähnung könnte Vorurteile gegenüber schutzbedürftigen Gruppen schüren.“) Die Tabuisierung der Herkunft von Kriminalität ist laut de Maizières nicht der richtige Weg.
Der Innenminister plädiert dafür, dass der Bürger sich selber eine Meinung bilden solle in Kenntnis aller Informationen:
Wir müssen schon aufpassen, dass nicht vor lauter politischer Korrektheit die Dinge nicht beim Namen genannt werden. Und wir müssen die Bürger auch nicht in Watte packen.
Der Innenminister greift einen Begriff auf, den Elisabeth Noelle-Neumann, Chefin des Allensbacher Meinungsforschungs-Institut, vor gut vier Jahrzehnten geprägt hat: „Es darf keine Schweigespirale geben.“. Medien bestimmen laut Noelle-Neumann die öffentliche Meinung, so dass Bürger, die eine andere Meinung haben, gehemmt werden, diese zu äußern: „Belohnt wird Konformität, bestraft wird der Verstoß gegen das übereinstimmende Urteil“, so Noelle-Neumann in ihrem Buch „Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut“.
Im Interview bezieht de Maizières die Schweigespirale nicht nur auf die traditionellen Medien, sondern vor allem auf das Internet, das seine „große aufklärerische Wirkung“ verloren habe:
Internetforen sind sich selbst bestätigende Zirkel, in denen fremde Argumente als störend empfunden werden.
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Quelle: FAZ 9. Januar 2016, Aufmacher Titelseite und Seite 2
Kriminelle Ausländer: Presserat wirft mehr Fragen auf, als Hilfe zu geben
Dürfen Journalisten erwähnen, dass Nordafrikaner und Araber wahrscheinlich an den Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht beteiligt waren? Der Deutsche Presserat, die moralische Instanz der Zeitungen und Magazine, sagt: „Noch akzeptabel“.
Was bedeutet „noch“? Eigentlich darf man – siehe Richtlinie 12 – die Herkunft von Verdächtigen nicht nennen. Aber es gibt Ausnahmen, so Presserats-Pressesprecherin Edda Eick im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd):
- Es handelt sich um ein Massenverbrechen, das in dieser Dimension so noch nicht stattgefunden hat.
- Möglicherweise steckt eine größere kriminelle Struktur hinter der Tat und die Polizei fahndet mit Täterbeschreibungen.
Nicht erlaubt seien „bloße Spekulation darüber, ob das Motiv für die Taten mit der religiösen Zugehörigkeit etwas zu tun haben könnte; hierfür müsse es konkrete Anhaltspunkte geben“.
Fragen bleiben:
- Dürfen Journalisten bei einer Tat und einem Täter, der eine Frau vergewaltigt, keine Nationalität angeben?
- Oder erst bei der Fahndung?
- Gilt der Polizeibericht, wenn er eine Nationalität erwähnt, als Erlaubnis, diese zu erwähnen?
- Wann wird ein Verbrechen ein Massenverbrechen? Bei fünf, bei fünfzig oder erst bei mehreren hundert Tätern wie in Köln?
- Was sind konkrete Anhaltspunkte für eine religiöse Zugehörigkeit? Wird sie erst konkret, wenn der Täter „Allah ist groß“ gerufen hat oder ein Bekennerschreiben verbreitet?
- Wenn, so Eick, der Pressekodex mit seinem Verbot, die Nationalität zu nennen, die „Belange aller gesellschaftlichen Gruppen, die sich als Opfer tiefverwurzelter Vorurteile fühlen“ berücksichtigt: Wie unterscheidet man zwischen Vorurteilen und Urteilen? Selbst aufgeklärte Muslims beklagen das tief verwurzelte Frauenbild des Islam: Ist das ein Urteil oder Vorurteil oder „Stereotyp“?
Das Sowohl-Als-auch des Presserats macht die Arbeit in den Redaktionen nicht einfacher: „Journalisten dürfen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, Informationen zu verschweigen“, rät der Presserat; andererseits „können auch mit kleinen Meldungen schon starke Ressentiments gegen Minderheiten geschürt werden“.
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Quelle: epd von Mittwoch, 6. Januar 2016; Gespräch mit Referentin für Beschwerdeführung beim Deutschen Presserat, Edda Eick.
In meinem Blog am 7. Januar hatte ich – ohne Kenntnis des epd-Berichts – vermerkt, es gebe keine Reaktion des Presserats. Auf seiner Homepage schweigt der Presserat auch am 8. Januar noch. In der Rubrik „Aktuelles“ stammt die letzte Meldung vom 3. Dezember 2015.
Kriminelle Ausländer und Flüchtlinge: Muss der Presserat seinen Kodex ändern?
Nach dem Silvesterabend auf dem Kölner Bahnhofsplatz werden Medien hart kritisiert: Dürfen sie sexuelle Übergriffe auf Frauen verschweigen oder verharmlosen, um Fremdenfeindlichkeit nicht zu schüren? Dürfen sie die Herkunft der Täter unterdrücken?
Auf der einen Seite sind Medien wie ARD und ZDF, aber auch die taz, die ihre Zurückhaltung verteidigen. Daniel Bax schreibt in der taz:
Unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz, sind auch seriöse Medien im vorauseilendem Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt.
Auf der anderen Seite kritisieren nicht nur Nutzer der sozialen Medien die Zurückhaltung oder gar Einseitigkeit von Journalisten, vor allem im Fernsehen, sondern beispielsweise auch Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer. Er versteht die Menschen, die den „Nanny-Journalisten“ vorwerfen, „eher einem pädagogischen als einem journalistischen Auftrag zu folgen“.
Das sind die Fakten und Fragen:
- Der Presserat zieht diese Grenze in der Berichterstattung:
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
In dieser Richtlinie 12 überwiegt das pädagogische Moment. Der Presserat setzt voraus: Die Leser oder zumindest eine ausreichend große Zahl haben Vorurteile. Daraus folgt er: Der Journalist soll durch Verschweigen bewirken, dass die Leser in ihren Vorurteilen nicht bestärkt werden.
- Wie berichten Journalisten über Debatten, die öffentlich toben, ausgelöst durch die sozialen Netzwerke und einem Aktualitäts-Druck, der kaum Zeit zum Nachdenken lässt? Journalisten haben eine Recherche- und Sorgfalts-Pflicht: Reicht der Hinweis darauf aus, erst spät – vielleicht zu spät – zu informieren und reagieren?
- Gibt es eine Tendenz zur moralischen Zensur in einigen Medien? Hindert diese Zensur an einer intensiven Recherche? Der Vorwurf der Einseitigkeit aus moralischen Gründen trifft vor allen ARD und ZDF. FAZ-Redakteur Michael Hanfeld nennt es das „betreute Fernsehen“.
- Stehen wir vor einer Spaltung der Medien, zumindest im Internet: Die aktuellen, schnellen und vorschnellen, die jede Nachricht sofort raushauen, gegen die seriösen, die auf Sorgfalt achten, den Hintergrund ausleuchten und dem Leser Orientierung geben?
Die Debatte, geführt von Journalisten und in sozialen Netzwerken, sollte der Presserat aufgreifen: Dürfen Journalisten in einer aufgeklärten Gesellschaft zum Vormund ihrer Leser und Zuschauer werden? Sind sie laut Verfassung nicht Treuhänder der Bürger, die selber entscheiden sollen, wie sie Nachrichten bewerten? Hat sich die Öffentlichkeit nicht wesentlich durch die sozialen Netzwerke verändert – und muss nicht der Pressekodex darauf reagieren?
Sieben Tag nach der Silvesternacht in Köln hat sich der Presserat noch nicht geäußert – im Gegensatz zum DJV, der größten Journalistengewerkschaft; ihr Vorsitzender Frank Überall:
Eine nicht durch solide Recherchen gedeckte Verdachtsberichterstattung ist nicht nur unvereinbar mit den Prinzipien des professionellen Journalismus, sondern auch innenpolitisch brandgefährlich.
Barbara Schöneberger und das Übel der Verneinung
Kein normales Frauenmagazin
steht auf der Titelseite direkt unter dem Magazin-Namen „Barbara“: Barbara ist die neue Frauenzeitschrift von Gruner+Jahr mit einer Auflage von 350.000 Exemplaren. Barbara ist die Zeitschrift von Barbara Schöneberger, die einer der schönsten, prominentesten und gefragtesten Moderatorinnen ist, auch Sängerin und bald Wachsfigur im Berliner Kabinett von Madame Tussaud.
Und was ist das Frauenmagazin – außer dass es unnormal ist? Keine Antwort auf der Titelseite, nur noch eine Nicht-Nachricht:
Ohne Botox, Detox und Sex-Tipps
Profis werden kaum diese Titelzeilen erfunden, gar geduldet haben. Nehmen wir einfach an, Barbara habe selbst Hand angelegt und muss Journalismus noch erkunden (und nimmt dabei gleich ihre Fans als Leserinnen mit).
Nicht-Nachrichten sind selten eine Nachricht: Heute kein Wasserrohr-Bruch! Heute kein Brandanschlag! Heute keine Höcke-Rede!
Leser wollen wissen, was ist; sie wollen nicht wissen, was nicht ist. Wolf Schneider zitiert in „Deutsch für Kenner“ eine Studie von „Psychologie today“: Menschen brauchen 48 Prozent mehr Zeit, eine verneinende Aussage zu verstehen als eine bejahende. Von seltenen Ausnahmen abgesehen gilt der Rat für jeden, der seine Leser ernst nimmt: Meide die Verneinung!
Also statt „Keine Waffenruhe mehr in der Ukraine“: „Wieder Krieg in der Ukraine“ (oder wem „Krieg“ zu weit geht: Wieder Kämpfe in der Ukraine); da muss keiner überlegen, was ihm der Redakteur sagen will.
Also Frau Schöneberger: Nur Mut! Sage Deiner Leserin, was sie ohne Sex erwartet!
Begrüßungskultur am Grenzzaun: Wörter und Unwörter in Österreich (Friedhof der Wörter)
Die Österreicher sprechen deutsch, aber sie trauen den Deutschen nicht mehr, wenn es um das „Wort des Jahres“ geht. Sie wählen ein eigenes und haben 2015 die bessere Wahl getroffen: „Begrüßungskultur“. Man mag „Seid nett zu den Fremden!“ gut oder schlecht finden, aber das Wort beherrschte die Debatte des Jahres, drang erst in die Schlagzeilen der Zeitungen vor, dann in den Wortschatz der Politiker und schließlich in unsere Alltagssprache.
Schwer zu entdecken ist, wer das Wort erfunden hat, zumal es aus zwei lange gebräuchlichen Wörtern zusammengesetzt ist. Seitdem die Kultur schon mit dem Beutel vermählt wurde, muss sie für alles Mögliche ihren Namen hingeben. Hundert und mehr Zusammensetzungen sind bekannt von der Pop-Kultur über die Mono-, Nackt-, Primitiv- bis zur Urnenfelder-Kultur.
Zu Flüchtlingen, dem Thema des Jahres auch in Österreich, passt dort auch das Unwort des Jahres: „Besondere bauliche Maßnahmen“, von denen die Innenministerin sprach, um nicht vom Grenz-Zaun sprechen zu müssen an der Grenze zu Slowenien.
Warum sind die Österreicher klüger bei der Wahl zu den Wörtern des Jahres? Nicht ausschließlich Wissenschaftler und Experten, die dem Alltag vielleicht schon entrückt sind, wählen wie in Deutschland, sondern die Bürger selber. 34.000 gaben ihre Stimme ab: Das ist zwar keine Massenbewegung, ist ein halbes Prozent der Bevölkerung, aber entspräche gut 350.000 in Deutschland – die wohl kaum für „Flüchtling“ gestimmt hätten.
Die „Lügenpresse“ ist von Dresden auch nach Wien geschwappt, so dass die Österreicher dem Wort die Silbermedaille umhängen im Wettstreit um das Unwort des Jahres. Bronze gibt es für ein besonders perfides Wort, das Manager erfunden haben, um nicht mehr von massenhaften Kündigungen sprechen zu müssen oder der Schließung von Unternehmen: „Kostendämpfungspfad“.
Das Wort führt in die Irre, meint die Jury der „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“. Sprache allerdings soll die Menschen verbinden, statt in die Irre zu führen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 4. Januar 2016
Lügenpresse (9) Meine Chronik des Jahres: Wie Regionalzeitungen reagieren

So schickte eine Leserin der Ruhr-Nachrichten eine Seite zurück, auf denen Fakten zu Flüchtlingen aufgelistet wurden
„Psychokrieg mit Todesanzeigen gegen Journalisten, die über Neonazis berichten“, so begann der erste von meinen neun Blogs zur Lügenpresse.
Peter Bandermann ist für mich der Journalist des Jahres: Der Reporter der Ruhr-Nachrichten musste im Internet seine eigene Todesanzeige lesen, von Neonazis ins Netz gestellt; der Spruch am Kopf der Anzeige endet mit der Zeile „Endlich einer weniger. Danke Oh Herr“. So will Pegida, so wollen die Neonazis mit dem „Herrn“ das Abendland retten. Peter Bandermanns Haus wurde mit Farbbeuteln beworfen, er macht trotzdem weiter.
Lügenpresse 2 – Chef der Wügida gibt der Main-Post kein Interview
Pegida ist kein ostdeutsches Phänomen, selbst im christlichen Würzburg rüsten die Neonazis auf gegen die Zeitung.
Lügenpresse 3 – Des Lesers Lust an der Verschwörung
Ein Leser schreibt: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit“ und belegt dies mit einer Verschwörungs-Theorie. Die Redaktion in Erfurt widerlegt sie – in der Zeitung
Lügenpresse 4 – Ein Chefredakteur zeigt Haltung
Der Chefredakteur ist Wolfram Kiwit von den Ruhr-Nachrichten, der eine komplette Seite mit Fakten zur Flüchtlings-Devbatte druckt. Eine Leserin schickte die Seite an die Chefredaktion zurück und schreibt quer drüber „Lügenpresse“. Kiwit reagiert in seinem Blog und erläutert die Haltung der Redaktion: „Versachlichen, gründlich recherchieren, Fakten sprechen lassen und nicht auf den Zug eines meist parteilichen Empörungs-Journalismus springen. Wir machen einfach weiter.“
Lügenpresse 5 – Wie sich Spiegel-Reporter von einem Diktator nicht korrumpieren ließen
So arbeitet also die deutsche „Lügenpresse“: Vom Diktator der Ex-Sowjet-Republik Kasachstan lässt sie sich nicht manipulieren, und von prominenten deutschen Ex-Politikern lässt sie sich auch nicht zur Beugung der Wahrheit verführen.
Lügenpresse 6 – Können wir Zeitung machen gegen die Vorurteile der Leser?
Was folgt aus den Vorwürfen der Leser für die Redaktion? Populismus? Nein, aber in Analysen, Kommentaren und Hintergrund-Geschichten soll sie die Erfahrungs-Welt der Leser aufnehmen und einordnen. Dazu gehört vor allem, die Meinungen der Leser ins Blatt zu heben, die Zeitung zum Forum zu machen, auch wenn es bisweilen wehtut.
Lügenpresse 7 – CSU-Friedrich als parlamentarische Pegida, eine rechte APO ahnend
Einfach nur ein Zitat aus Bayern: „Die veröffentlichte Meinung und die öffentliche Meinungen sind 180 Grad auseinander.“ Ein Politiker-Zitat.
Lügenpresse 8 – Wenn Leser lügen
Rund acht Prozent der Leser lobten vor zehn Jahren ein Heft des NZZ-Magazin „Folio“ zum Thema Katastrophen – das es nie gegeben hat.
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Am 30. September reagierte
Thomas Bärsch reagierte mit fünf Punkten in der Zeitung:
1. Unser oberster Anspruch heißt Wahrhaftigkeit
Wer jemanden der Lüge bezichtigt, der beschuldigt ihn, vorsätzlich wahrheitswidrig zu reden oder zu schreiben. Er nimmt zugleich für sich in Anspruch zu wissen, was die Wahrheit ist.Wir Journalisten erheben diesen Anspruch für uns nicht – vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass es die eine objektive und unveränderliche Wahrheit oft nicht gibt. Stattdessen haben wir uns die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Aufgabe gemacht.Wahrhaftigkeit heißt, nach der Wahrheit zu streben. Es heißt nicht, in ihrem vollständigen Besitz zu sein oder dies von sich zu behaupten. Wenn wir berichten, dann im Ergebnis von Recherchen, von Informationen aus verschiedenen Quellen und oft auch auf der Grundlage unserer Beobachtungen – zum Beispiel bei Demonstrationen.
2. Wir reklamieren für uns keine Vollständigkeit
Es gehört zur journalistischen Sorgfalt, dass wir unsere Leser erkennen lassen, was recherchierte Fakten, was Aussagen Dritter und was unsere eigenen Beobachtungen sind. Dabei vermeiden wir es, den Eindruck zu erwecken, der von uns gelieferte Bericht, das von uns gezeichnete Bild spiegele die Wirklichkeit bis ins letzte Detail wider. Vielmehr wählen wir oft aus einer Vielzahl von Fakten und Aussagen aus, die es den Lesern ermöglichen, sich ein möglichst ausgewogenes und umfassendes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu entwickeln.Wichtig ist dabei für uns vor allem, dass wir keine Fakten weglassen, die entscheidend für das Verständnis eines Sachverhalts sind oder diesen sogar konterkarieren.
3. Weglassen ist keine Fälschung und keine Lüge
Immer wieder sehen wir uns mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden die Wirklichkeit verfälschen, indem wir Fakten oder auch einzelne Meinungsäußerungen nicht veröffentlichen. Dann ist das Wort „Lügenpresse“ schnell gesagt.Tatsache ist, dass wir Fakten und Aussagen nach ihrer Relevanz für die Beurteilung eines Sachverhalts wichten. Darüber, ob unsere jeweilige Entscheidung richtig ist, wird vor allem in der aktuellen Flüchtlingsdebatte oft gestritten – übrigens auch während der Entscheidungsfindung innerhalb der Redaktion.Entscheidend ist für uns, ob Informationen nachprüfbar oder glaubhaft sind. Wenn es etwa einen Polizeieinsatz in Flüchtlingsheimen gibt, berichten wir darüber.
4. Facebook & Co. sind nicht die Wirklichkeit
Wir berichten nicht über alles, was wir hören oder lesen. Das gilt vor allem dann, wenn es auf Gerüchten beruht, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Für uns gilt: dass eine Behauptung oft wiederholt wird, macht sie nicht wahr.Leider beobachten wir eine gewisse Neigung mancher Menschen, Gerüchten und Mutmaßungen zu glauben, dagegen aber von Journalisten recherchierte oder hinterfragte Informationen als Lüge abzustempeln. Stammen diese Informationen gar aus offiziellen Quellen – also zum Beispiel von Behörden –, lässt der Vorwurf der Staatsnähe meist nicht lange auf sich warten.
5. Meinungs- und Pressefreiheit sind zwei Dinge
Gern wird jetzt von diesen beiden Freiheiten gesprochen. Die erste ist ein Grundrecht, das den Bürgern garantiert, ihre Meinung frei und offen zu äußern – auch gegen den Staat. Der AfD-Fraktionschef Björn Höcke nutzt dieses Recht, wenn er etwa auf Demonstrationen spricht.Die Pressefreiheit dagegen ist das Recht der Presse auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit – ohne staatliche Zensur oder jedwede andere Form der Einmischung von außen. Zu dieser Freiheit gehört für uns, dass wir selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang wir von der Aktuellen Stunde und der Demonstration am Mittwoch berichten. Schon jetzt können wir versprechen, dass wir dies ausführlich tun werden. Nicht versprechen können wir dagegen, dass unsere Berichterstattung allen passen wird.
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Zum guten Schluss für alle Chefredakteure, die 2015 wenig zu lachen hatten. Thomas Bärsch ist amtierender Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, der das Schmunzeln nicht verlernt hat; er schrieb am 13. Dezember diesen Tweet
Ist das laute Abspielen von Heino eigentlich noch Ruhestörung oder schon Landfriedensbruch?
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Im Dezember ist dieser Blog zum Tausender geworden: Über tausend Blog sind seit der Gründung 2012 von 160.000 Besuchern gelesen worden. Es ist ein kleiner Blog geblieben, bewusst auf eine kleine feine Leserschaft von Journalisten konzentriert und auf Leser, die Journalismus als Garanten der Demokratie verstehen.
Ich wünsche allen Lesern, Kommentatoren und Kritikern meines Blogs ein gutes Jahr 2016, in dem sie das Lachen und Lächeln nicht verlernen sollten.
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