Darf man in einem Nachruf nachtreten?
Die Neue Zürcher Zeitung tritt nach: In der Nachricht über den Tod des Journalisten und Schrifdtstelles Fritz J. Raddatz erinnert sie gleich im zweiten Satz:
Der langjährige Feuilletonchef der Zeit war einst über ein nicht ausgewiesenes Zitat aus der NZZ gestolpert.
Dann druckt sie noch einmal in der Original-Fassung die Kulturnotiz über die Ablösung von Raddatz bei der Zeit:
Raddatz hatte ein angebliches Goethe-Zitat aus der Neuen Zürcher Zeitung übernommen, ohne zu merken, dass es sich um eine parodistische Erfindung handelte. Dies brachte ihm nicht nur Hohn und Kritik in anderen Medien ein, sondern auch einen Rüffel der Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, die ihm in der eigenen Zeitung „Schludrigkeit“ vorwarf.
Wolf Lotter, herausragender Brand-Eins-Autor, nennt dies in einem Tweet „ganz schlechten Stil“.
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Facebook von Alexander Will am 1. März um 13:10
Kann man auch anders sehen: Das ohnehin im Deutschen fast immer falsch verstandene „de mortuis nil nisi bene“ dient doch viel zu oft zu heuchlerischer Verfälschung der Vergangenheit…
„Landespolitiker lesen die Lokalzeitungen wie die Bibel“ (Zitat der Woche)
Im Moment wird ja viel über den angeblichen Bedeutungsverlust der Printmedien geredet. Also, was die Landespolitik angeht, kann ich das nicht bestätigen. Die Abgeordneten im Thüringer Landtag, die ich erlebt habe, lesen die Lokalzeitungen wie die Bibel. Was darin steht, ist relevant. Was außerhalb von Thüringen passiert, ist für die meisten vollkommen uninteressant.
Dietmar Herz, seit über vierzig Jahren SPD-Mitglied, hat an der Erfurter Universität einen Lehrstuhl für Regierungslehre. Fünf Jahre lang hatte er die Seiten gewechselt und war in der Landesregierung Justiz-Staatssekretär. Im Spiegel-Interview erzählte er, warum ein Intellektueller fremdelt in der Politik: „Es gibt in der Politik einen Abstoßungsreflex gegen alles, was von außen kommt.“
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Quelle: Spiegel 9/2015
Kommt herunter vom Thron, verehrte Bischöfe und Journalisten!
Die sozialen Medien zwingen uns, herunterzukommen vom Thron, den Menschen zuzuhören und interaktiv zu werden.
Sagt Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Der Spruch passt auch auf eine Reihe von Journalisten – mit der Einschränkung: Um den Thron zu verlassen, braucht man keine soziale Medien. Zweitens: Viele lassen sich auch durch Facebook & Co nicht zwingen. Drittens eine Frage: Wie wird man interaktiv?
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Quelle: RN-Kiwits Newsletter vom 27. Februar 2014 (Abschluss der Frühjahrsvollversammlung der Bischöfe in Hildesheim)
Menschen mögen gute Nachrichten und glückliche Wörter (Friedhof der Wörter)
Es gibt warme Wörter wie Liebe, Lachen und Frieden, und es gibt kalte Wörter wie Mord, Terrorist und Krebs. Welche Wörter nutzen wir am meisten – die warmen oder die kalten?
Wissenschaftler der Universität Vermont haben Milliarden von Wörtern gesammelt, aus Filmen und Büchern, aus Musikstücken und Tweets, also jenen Kurznachrichten, die junge Leute mögen; und sie haben die Temperatur der Wörter gemessen. Menschen in Vermont, im Nordosten der USA, dürften glückliche Menschen sein: Ahornbäume, die sich im Herbst romantisch verfärben, idyllische Hügel und klare Seen.
Schätzen glückliche Menschen die schönen Wörter? Da wäre naheliegend, aber – auch unglückliche Menschen nutzen überwiegend die warmen und nicht die kalten Wörter. Fast alle Menschen tun das. Offenbar gelingt die Kommunikation nur, wenn wir uns an das Schöne und Gute halten. Selbst in Sätzen, die insgesamt negativ sind, überwiegen in der Regel die warmen Wörter; offenbar überbringen wir auch schlechte Nachrichten mit Wörtern, die eher positiv sind.
Allerdings war es nicht eindeutig, die Wörter in warm, kalt und neutral einzustufen, sagt Peter Dodds, der ein Mathematiker ist. Manche Wörter sind für den einen warm, für den anderen kalt – etwa Schwangerschaft oder Alkohol, Religion, Kapitalismus und Sozialismus, Sex, Heirat und Schnellimbiss oder das „iPhone“.
Nachdem die Wissenschaftler hundert Milliarden Wörter in den Texten gefunden und bewertet hatten, stellten sie auch eine Rangliste der Sprachen auf: Spanisch und Portugiesisch sind die glücklichsten Sprachen vor Englisch und Deutsch. Das sage aber wenig über das Glück der Menschen aus, meinen die Forscher. Doch Wörter machen Leute – entweder glücklich oder nicht.
Vielleicht sollten sich Journalisten überlegen, ob wirklich die schlechten Nachrichten nur die guten sind?
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 16. Februar 2015
Korrektur: Vermont liegt, wie bereits korrigiert, im Nordosten der USA, nicht im Nordwesten, wie in der ersten Fassung geschrieben.
Sollen Redakteure ihre Leser belehren? Gibt es einen Bildungsauftrag? (Leser fragen?)
Hallo, Ihr lieben Redakteure, Euer Chef ist unermüdlich dabei, uns Lesern beizubringen, in was für einem diktatorischen Unrechtsstaat mit blutrünstigen Grenzern und linken Diktatoren wir gelebt haben. War das nicht sogar die Steilvorlage für die historische Wahl einer rot-rot-grünen Landesregierung?
So fragt ein Leser der Thüringer Allgemeine. Der Chefredakteur antwortet ihm in seiner Samstags-Kolumne:
Es ist nicht Aufgabe von Zeitungen, den Lesern etwas beizubringen. Ein Vierteljahrhundert Demokratie hat unsere Redaktion ermutigt, von der hohen Warte herabzusteigen und unsere Leser zur Debatte und, wenn es muss, auch zum Streit auf Augenhöhe zu animieren: Leidenschaftlich haben unsere Leser über den Unrechtsstaat gestritten, wobei einige durchaus gelitten haben.
Sie sind offenbar ein Liebhaber des Offensiv-Fußballs und wissen: Die schönste Steilvorlage bringt nichts, wenn es keinen Vollstrecker gibt. „Das Runde muss ins Eckige“ sagte Sepp Herberger, der Bundestrainer der Fünfziger-Weltmeister-Jahre. Die Debatte war der Steilpass, der Torschütze war Bodo Ramelow: Er, der Kandidat der Linken, sprach am Ende vom Unrechtsstaat. Und nicht wir haben die Steilvorlage geliefert, sondern unsere Leser.
Auf der Grenzwanderung mit unseren Lesern haben wir vor einiger Zeit einen Menschen getroffen, der im Todesstreifen ein Bein verloren hat. Ob er über den Spott „blutrünstiger Grenzer“ lachen kann?
Unser Leser Karl-Hugo H. beschwert sich über einen Leser, der in einem Brief geschrieben hatte: „Man drängt die Pegida-Bewegung – wie das schon immer in der BRD mit allen ,unliebsamen Bürgern‘ praktiziert wurde – in die Faschismus-Ecke“.
Das ist für Karl-Hugo H. „offensichtliche Lüge und Verdrehung“, und er kommentiert: „Eine Nazi-Keule hat es nur in der DDR gegeben“ und rät der Redaktion: „Sie müssen doch nicht jede kommunistische Lüge drucken.“
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 15. Februar 2015
Chefredakteure – eine Typologie (1): Sie wirft mit Aschenbechern nach ihren Redakteurinnen
Ihre Mutter warf mit Aschenbechern und Telefonen nach ihren Redakteurinnen und beleidigte sie mit gehässigen Bemerkungen, Ihren Gatten ohrfeigte sie in aller Öffentlichkeit mit einem Rosenstrauß. Noch mit 95 antwortete sie auf Fragen nach ihrem Wohlbefinden mit dem Satz: „Mir geht’s gut, ich hasse!“
Burda Patriarch Hubert Burda über seine Mutter, die Burda Moden leitete. Sein Vater kaufte für seine Geliebte Effi Moden und machte sie zur Chefredakteurin. Im SZ-Magazin 6/2015
Ein Hauch von Anarchie – Vor 25 Jahren: Die Eisenacher Presse war die erste deutsch-deutsche Zeitung
Im November 1989 fiel die Grenze auch zwischen Thüringen und Hessen. Zwei Monate später fuhr ein Lieferwagen aus dem Westen im strömenden Regen über einen kleinen Grenzübergang an der Werra, durch eine Landschaft aus engmaschigen Zäunen und Wachtürmen. Für die Grenzer waren einige Flaschen Wodka eingepackt worden und unter dem Fahrersitz versteckt: Bestechungs-Trunk, es sollte schnell gehen. Doch die Grenzer wollten nur eines der Zeitungspakete, die als Schmuggelware auf der Ladefläche lagen, gedruckt in Marburg, der Partnerstadt von Eisenach.
Es war noch dunkel, auf der Stadt lag der gelb-graue Winterdunst. Der Markt-Platz war rappelvoll, ein Meer aus Regenschirmen. Eine Demonstration? Gegen eine mögliche Schließung des Automobilwerks, in dem der Wartburg gebaut wird? Gegen die alten Genossen?
Es war jedenfalls kein Durchkommen. Der Fahrer des Lieferwagens wollte schon umdrehen, als sich die Menge wie auf einen Ruf hin in Bewegung setzte. Was jetzt passierte, rührte alle Beteiligten zu Tränen: Die Eisenacher hatten stundenlang im Regen auf die Zeitung gewartet, sie waren hungrig auf Nachrichten und Kommentare, die weder einer der Mächtigen lenkte noch zum Zwecke der Propaganda drucken ließ. Sie umlagerten den Lieferwagen, sie wollten nur eins: die Zeitung, die eine richtige Zeitung ist.
Erste Ausgabe der Zeitung war schnell vergriffen
Die Eisenacher waren schon in der Dämmerung auf den Marktplatz geströmt, weil eine Woche zuvor, am 18. Januar 1990, die erste Ausgabe der Eisenacher Presse schnell vergriffen war und sich nicht jeder ein Exemplar einstecken konnte. Schon nach wenigen Wochen war in Thüringen die Auflage der Zeitung höher als die Auflage im heimischen Westen. Die Redaktion mietete einen Raum im „Haus der Dienste“ an, weil es dort ein funktionierendes Telefon gab. Allerdings brach die Leitung immer wieder zusammen, wenn man die Computer-Daten nach Marburg übertragen wollte.
So speicherten die Redakteure ihre Artikel und Fotos auf Disketten und fuhren abends über die Grenze nach Herleshausen, wo sie in einem Einfamilienhaus ein kleines Zimmer gemietet hatten. Dort wurden die Daten mit einem Akustik-Koppler via Telefon an die Druckerei nach Marburg gesendet.
In der Redaktion in der Friedrich-Engels-Straße saßen Journalisten aus dem Westen zusammen mit Journalisten aus dem Osten. Für Konzepte und lange Konferenzen war keine Zeit; statt Marketing-Strategien war Spontanität gefragt. Es war eine bunte Truppe. Von denen, die schon in der ersten Stunde dabei waren, wurden zwei später Chefredakteure, einer in Hanau, einer an der holländischen Grenze; andere sind zum Fernsehen gegangen oder als Pressesprecher geblieben – und die Journalistin, die über einen Zitronen-Skandal auf der Müllkippe schrieb, verkauft heute Wasserbetten.
Schnell sprach sich herum, dass die Zeitung aus der Partnerstadt eine Redaktion eröffnet hatte. Zu Dutzenden standen Bürger in dem stickigen kleinen Raum, in dem im Westen kein Redakteur arbeiten würde. Es war gut, dass die Bürger kamen, denn das Telefon war kaum eine Hilfe. Die Zentrale, welche die Gespräche vermittelte, residierte im Keller und war nur stundenweise besetzt, nach 16 Uhr überhaupt nicht mehr.
In den beiden ersten Ausgaben hieß die neue Zeitung noch Oberhessische Presse – Wochenzeitung für Eisenach, schon im Februar gab es den neuen Zeitungsnamen Eisenacher Presse, der etliche Besitzerwechsel überdauern sollte. Heute gehört die Eisenacher Presse zur TLZ, die in Weimar herausgegeben wird.
Redaktion druckte das „Tagebuch der Revolution“
Worüber schrieben die Redakteure in der neuen Zeitung:
> Willy Brandts Besuch auf dem Marktplatz, bejubelt von 20 000 Menschen;
> die ersten Gewerbe-Genehmigungen;
> die Dreck-Luft in Eisenach, das Verkehrs-Chaos und Giftschlamm auf der Hausmüll-Deponie;
> die Zukunft des „Wartburg“, des Automobil-Werks und seiner Arbeiter;
> die Arroganz der Westdeutschen, die mit ihrem Geld protzen;
> Zitronen, die wegen Verteilungs-Pannen auf die Moosewald-Müllkippe weggeworfen wurden – und das in einem Land, in dem man Südfrüchte nur aus dem West-Fernsehen kannte;
> Hunderte von Anzeigen, in denen Eisenacher und Marburger Kontakt zueinander suchten, Arbeit oder Unterkunft.
Der erste Roman, den die Eisenacher Presse druckte, ist Monika Marons „Flugasche“, der in der DDR nicht erscheinen durfte und der die Geschichte einer Werkszeitungs-Journalistin in Bitterfeld erzählt.
Die erste Kolumne bekam die Eisenacherin Margot Friedrich mit ihrem „Tagebuch der Revolution“, das wenig später als Buch gedruckt wird. „Manchmal denke ich, eine Epoche beginnt zu schwanken“, schrieb die Eisenacher Journalistin.
In den Zeitungen machte sich in den letzten Monaten der DDR eine Spielart der Anarchie breit, wie es sie nur in revolutionären Zeiten gibt. Um die Pressegesetze der DDR kümmerte sich kaum einer. Die westdeutschen Journalisten kannten sie nicht, die Ostdeutschen waren froh, endlich einmal alles schreiben zu können. Wer heute wie damals lange Namens-Listen von Stasi-Spitzeln druckte, würde monatelang mehr Stunden im Gericht als in der Redaktion verbringen.
Diese ostdeutsche Anarchie machte sich nicht nur im Journalismus breit. So berichtete die Eisenacher Presse im März 1990 über Händler, die in Eisenach Kiwis und Ananas nur gegen D-Mark verkauften. Das ist verboten, sagte die „Stellvertreterin für Handel und Versorgung im Rat des Kreises Eisenach“. Eine Ordnungsstrafe bis zu 500 Mark, offenbar Währung der DDR, drohte. Nur, so schränkte die Stellvertreterin ein: „Bis zum heutigen Tag ist noch niemand für so etwas belangt worden – und übermorgen können die Rechtsvorschriften vielleicht schon ganz anders sein.“
Keiner klagte an, keiner beschwerte sich. Das Volk war so forsch, geradezu übermütig, wie die Journalisten – etwa wenn es um die Abrechnung mit den lokalen Mächtigen ging, die sich den DDR-Alltag vergoldet hatten. Das ist eine von vielen Geschichten, wie sie in der Eisenacher Presse stand:
In einem Dorf nahe Eisenach warfen die Bürger dem Bürgermeister Amts-Missbrauch und Korruption in vierzig Fällen vor. Was für eine Szene! Kein Drehbuch-Autor könnte sie erfinden, sie war nur möglich in der Aufbruch-Stimmung einer revolutionären Zeit. Die Kriminalpolizei lud die Bewohner des Dorfes Unkeroda in einen großen Saal und berichtete von den Ermittlungen gegen ihren ehemaligen Bürgermeister, allerdings mit einem für die hundert Zuhörer unbefriedigenden Ergebnis: Für eine Strafverfolgung fehlten die rechtlichen Grundlagen.
Die Leser schrieben sich die Vergangenheit von der Seele. Wochenlang lief die Serie „Leben unter Hammer & Zirkel“, wo die Qual der Erinnerung zu spüren ist – Erinnerungen aus einer Zeit, als kaum einer es wagte, etwas aufzuschreiben und aufzubewahren.
Landrat verpasste seinen Leuten einen Maulkorb
Monatelang hemmte keine Bürokratie und kein Bürokrat die Recherche der Journalisten, und schnell machten die ostdeutschen Journalisten mit. Doch schon am 31. Oktober 1990 – wenige Tage nach der Einheit – berichtete die Eisenacher Presse über den ersten Maulkorb-Erlass aus dem Landratsamt.
Der Landrat verfügte, dass künftig jede Stellungnahme aus seinem Haus über seinen Tisch zu gehen hatte. Vergebens empörten sich die Mitarbeiter, vor allem die leitenden: „Das ist ja schlimmer als in früheren Zeiten“. Der Landrat pochte auf sein Recht als Chef des Hauses.
Doch nicht allein Affären, Missstände und die Skandale prägten die ersten Monate. Das Leben war nicht traurig, die Eisenacher Presse berichtet von der neuen Lust am Konsum und der Lust am Reisen.
Kiloweise Bananen und zehn Stunden Wartezeit bei der Anmeldung des neuen Autos, der erste Tchibo-Stehausschank, gleich von Tausenden gestürmt – und die Kehrseiten des schnellen Konsums: Mikroben in der Thüringer Bratwurst, Ladendiebstahl und die Schrecken der ersten Kaffeefahrt. Für eine Eisenacherin wurde die Fahrt nach Stukenbrock zum Verlustgeschäft erster Güte – mit der Kamindecke „Butterfly“.
Legionen von westdeutschen Versicherungs-Vertretern und Werbern schlüpften durch das kleinste Loch in der Grenze, für Halsabschneider jeder Art begann eine große Zeit ebenso wie für jene kleinen Gauner, die im Westen keine Opfer mehr fanden. Nur informierte Menschen werden nicht zum Opfer, nur wer sein Recht kennt, kann sich wehren.
So war die erste Aufgabe der Zeitung eine Pflicht, der im Westen nur noch wenige nachkamen: Lebenshilfe, verstanden als Service für alle Fragen, eben Ratschläge und Informationen für den Alltag. Es waren meist einfache Fragen, die auf Antworten warteten: Was ist eine Kündigung? Was sind Nebenkosten bei der Miete? Wann gibt es Sozialhilfe?
Die Redakteure wollten helfen in der neuen Marktwirtschaft, die von den meisten als Dschungel erlebt wurde. Die Zeitung schlug Trampelpfade und wählte Experten als Führer – etwa für die Serie „Einführung in die Marktwirtschaft“, die der Direktor des Marburger Arbeitsgerichts schrieb.
Die Redakteure zogen in die Öffentlichkeit, was manche gerne unter der Decke halten wollten: Kaufen und Verkaufen von einst volkseigenem Besitz oder die Beutezüge von Wendegewinnlern aus dem Westen. In den ersten Monaten schien sich kaum einer, der aus dem Westen kam, an die Maxime zu halten, die die Eisenacher Presse aus einem Manager-Seminar berichtete: „Bitte: Geben Sie keinem in der DDR das Gefühl, 40 Jahre umsonst gearbeitet zu haben!“.
Journalisten leisteten sich Ungewöhnliches in dieser Zeit: Gefühle. Sie schrieben davon, ohne Scham, weil sie anders nicht beschreiben konnten, was sich wirklich ereignete in diesem Land, das am ersten Samstag im Juli seine Grenze verlor – und nicht nur die aus Beton und Stacheldraht und Todesstreifen.
Eine Rose zur Erinnerung an das Ende der Grenze
Lokalchef Dieter Schreier schrieb in seinem „Eisenacher Notizbuch“ am 6. Juli 1990:
Unser Leser Karl-Heinz Langhammer aus Kirchhain befand sich per Lkw auf der Rückfahrt Richtung Marburg. Wie so oft in den vergangenen Jahrzehnten bei vielen Reisen in die DDR. Bei den Kontrollen sei er dabei immer „den Umständen entsprechend korrekt behandelt worden“. So auch diesmal.
Am Übergang Eisenach standen vier Grenzbeamte, die sich kurz nach dem Transportgut erkundigten. Dann verschwand plötzlich einer im Kontrollgebäude. Kurze Zeit später kam er wieder, mit einer Rose, die er ins Fahrerhaus reichte. „Zum Andenken an unsre letzte Schicht an der Grenze!“
Realität an der deutsch-deutschen Grenze. Im Juni 1990, fast drei Jahrzehnte nach dem Bau der Mauer und nur ein paar Monate nach der Revolution. Eigentlich unfassbar.
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Thüringer Allgemeine 7. Februar 2015
Auszug aus dem Buch „Die unvollendete Revolution – Die Geschichte der deutsch-deutschen Missverständnisse“, das im Frühjahr im Klartext-Verlag erscheinen wird.
Lügenpresse (2): Chef der Wügida gibt der Main-Post kein Interview
Elias nennt sich der Student im Internet. Er kommt aus Thüringen und ist ein ehemaliger freier Mitarbeiter der Main-Post in Würzberg, die er heute auf Kundgebungen eines Pegida-Ablegers als Lügenpresse beschimpft. Mit den Redakteuren spricht er nicht, verweigert selbst ein schriftliches Interview.
Michael Czygan porträtiert ihn in der Main-Post:
Der blonde Student ist das Gesicht von Wügida, des Würzburger Ablegers der Anti-Islam-Bewegung Pegida. Der Mann, der sich weigert, seinen Namen zu nennen, organisiert die Demonstrationen, hält Kontakt zu den Behörden – und ist der Hauptredner bei den Kundgebungen. Wenn er zu seinen Gesinnungsgenossen spricht, markiert der Student den Kämpfer für Meinungsfreiheit und Demokratie. Doch es kostet ihn sichtbar Mühe, diese Fassade durchgehend aufrecht zu halten. Immer wieder bricht plumpe Hetze in seinen Reden durch, gegen die „Lügenpresse“, gegen Politiker, die er gern mal „Verbrecher“ nennt und gegen Asylbewerber, die pauschal zu „Gewalttätern“ werden. Aber nein, er habe nichts gegen Flüchtlinge und andere Ausländer, sagt er dann, wenn er sich wieder bieder und staatstragend gibt.
So lautstark Kaupert vor seinen Gesinnungsfreunden auftritt, so kleinlaut wird er, wenn er von Journalisten angesprochen wird. Er, der sich in seinen Reden zu den „Mutigen und Ehrlichen“ zählt, weist Gesprächsanfragen der Redaktion zurück. Allenfalls könne er sich vorstellen, auf schriftliche Fragen zu antworten, lässt er einen Mittelsmann ausrichten. Ungewöhnlich für jemanden, der im Schutze seiner Anhänger regelmäßig ruft: „Wir haben die Antworten, wir haben den Weg, wir haben die Wahrheit.“
Statt seiner reagiert eine „Wügida-Mediengruppe“ und gibt sich basisdemokratisch: Erst lese man die Fragen, dann berate man – und dann schweigen sie. Persönliches zu Elias gebe man sicher nicht preis: „Er ist ein eher ruhiger Typ, keinesfalls pressegeil“.
Ruhiger Typ? Michael Czygan recherchierte in den sozialen Netzwerken:
Auf Facebook wettert er gegen „wertelose Homo-Partnerschaften“, verunglimpft Muslime als „Musel“, Gegendemonstranten als „Terroristen“ und „Antifapestilenz“. In einem anderen Post brüstet er sich damit, schon mal „Farbbeutel und Eier“ gegen ein Haus geworfen zu haben, in dem „autonome Linksfaschisten“ wohnen.
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Quelle: Main-Post 5. Februar 2015
Lügenpresse (1): Psychokrieg mit Todesanzeigen gegen Journalisten, die über Neonazis berichten
Sebastian Weiermann ist Journalist im Ruhrgebiet und gewohnt, seinen Namen gedruckt zu sehen. Im Internet las er jetzt seinen Namen in fetten Buchstaben – in einer Todesanzeige: „In Liebe und Dankbarkeit nehmen wir fröhlich bald Abschied. Nationaler Widerstand jetzt!“ Solche Todesnachrichten zu Lebzeiten stellen Neonazis vermehrt ins Netz, berichtet der Blog Ruhrbarone.
Gestaltet sind die Anzeigen wie in einer Tageszeitung. Oben steht ein Spruch, meist schlecht gereimt, der einem Bibelspruch ähnelt – wie bei Sebastian Weiermann:
Und am Ende meiner Reise
hält der Ewige die Hände
Und er winkt und lächelt leise
Endlich einer weniger. Danke Oh Herr
Vor allem Lokalredakteure werden bedroht, und es bleibt nicht bei dem Psychokrieg mit den Todesanzeigen. Peter Bandermann schreibt für die Ruhr-Nachrichten in Dortmund über die Neonazis, die in Dortmund besonders stark und militant sind. Bandermanns Haus haben die Neonazis laut Ruhrbarone mit Farbbeuteln beworfen.
Ein TV-Interview – als abschreckendes Beispiel für Volontäre: Ramelow und die Eier
Herzlich Willkommen in der Serie „Thüringens Minister“ und heute heißt es Thüringer Ministerpräsident. Herzlich Willkommen Bodo Ramelow!
Heute früh musste ich intensiv an Sie denken, als ich ein Rührei gemacht habe. Ich schlug die Eierpackung auf und da war ein großes Ei drin. Das war fast doppelt so groß wie die anderen, und da habe ich mich ganz arg erschrocken und habe gedacht: Das kann ich jetzt nicht essen. Dann habe ich gedacht: Warum eigentlich nicht? Warum müssen wir denn genormt sein? Da habe ich es mutig aufgeschlagen, und da war die Doppelpower drin, nämlich zwei Eidotter. Da dachte ich, es ist ein bisschen wie Bodo Ramelow.
So beginnt ein Interview im Weimarer Lokalsender Salve TV: Geschäftsführerin Judith Noll hat Ministerpräsident Ramelow zu Gast. Jürgen Brautmeier, Vorsitzender der deutschen Medienanstalten, empfiehlt die Interviews des Senders in die Journalistenausbildung zu integrieren – als abschreckendes Beispiel für Hofberichterstattung statt Staatsferne.
Bei Salve TV kommt etwa in der zweiwöchentlichen Sendung „Ramelow & Co“ der Ministerpräsident ausführlich zu Wort. Brautmeier: „Die Öffentlichkeitsarbeit der Politik und der Parteien darf nicht vermischt werden mit der journalistischen Arbeit der unabhängigen Medien.“ So erweise man auch der Politik eher einen Bärendienst. Und bei den Zuschauern werde der Eindruck erweckt, Journalisten und Politiker würden miteinander kungeln. „Dabei haben Journalisten als vierte Gewalt die wichtige Aufgabe, Politik zu kontrollieren.“
Das Rühr-Ei-Interview nahm der Moderator Oliver Welke auch auszugsweise in seine Heute Show beim ZDF und kommentierte: „Ich habe schon viele verstörende Interview-Anfänge gesehen, aber das schlägt alles.“
„Sie wollen aber nicht sagen, dass Sie mich aufschlagen wollen?“ reagiert Bodo Ramelow auf den Rührei-Beginn der Journalistin. So geht das Interview weiter:
Noll: Ich will Sie auch nicht essen, und ich finde sie auch nicht Ihh, aber ich weiß, dass Sie sich mit Hühnern auskennen.
Ramelow: Ich bin gelernter Lebensmittelkaufmann und könnte jetzt anmerken, dass das, was sie in der Packung gefunden haben. nicht den Handelsklassen entsprochen hat, weil es kann immer nur in einer Handelsklassenpackung immer die gleiche Größe nur drin sein. Wenn müsste man eine Doppelhandelsklasse extra ausweisen, oder Sie haben bei einem Bauer gekauft, das wäre ja sehr lobenswert, auf dem Markt – und dann haben Sie von Freilandhühnern die Eier gekauft und dann hoffe ich, dass es auch besonders gut geschmeckt hat.
Noll: Auf jeden Fall habe ich jetzt die doppelte Portion Ei.
Ramelow erzählt von seiner Ausbildung bei Karstadt und scherzt mit der Moderatorin: „Sie erinnern sich gut an Dinge, die ich irgendwann mal erzählt habe aus meinem Leben – das war fahrlässig. Ich hätte Ihnen das nicht erzählen sollen.“ Daraufhin entgegnet die Moderatorin:
„Ich weiß auch, dass irgendwo eine Narbe an Ihrer Hand ist. Aber jetzt müssen wir aufpassen, sonst heißt es: Frau Noll kennt Herrn Ramelow… Aber wie das kommt, dass es inzwischen verwerflich ist, Sie zu kennen – ich darf mich auch noch erinnern an die Zeit, als Sie hier saßen und sagten: Ich will Ministerpräsident werden. Jetzt sind Sie Ministerpräsident, und für viele wird es immer schärfer.“
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Quelle: Thüringer Allgemeine 4 Februar 2015, Salve TV Mediathek, Heute Show, ZDF-Mediathek
Facebook Kommentare
von Joachim Widmann (4. Februar um 10:29)
Die offene Unterwürfigkeit und Kumpelei ist einerseits unerträglich, andererseits aber auch so etwas wie ein Transparenzhinweis. Die Interviewerin versucht ja nicht einmal, es Journalismus ähnlich sehen zu lassen. Dass gerade Regionalmedien sich in Interviews mit Spitzenpolitikern aus oder in ihrer Region als Stichwortgeber für Verlautbarungen verstehen oder sich mangels Recherche gewissermaßen versehentlich als solche verhalten, ist ja leider insgesamt keine Seltenheit.
Alexander Will, 4. Februar um 10:54
Ich bin fassungslos. Kein Wunder, dass die Leute Journalisten immer stärker als Speichellecker und Dummköpfe wahrnehmen. Man kann’s ihnen manchmal wirklich nicht verübeln…
Joachim Widmann 4. Februar um 10:57
Nein, Herr Will: Das ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Diese Frau repräsentiert nicht „die Journalisten“. Nicht einmal ohne „die“. Sie steht erst eimal nur für sich selbst und die eigene Unterwürfigkeit.
Alexander Will 4. Februar um 10:58
Leider eben in der Öffentlichkeit nicht. Das wird anders wahrgenommen. Es wird uns allen angekreidet, da kann man sich noch so sehr wehren…
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