Das Kreuz mit der Überschrift: Wie vital ist ein Toter?
Vitaler Künstler
Titel einer Zeitung über einem Nachruf auf Günter Grass. Vital stammt aus dem lateinischen Wort für Leben und kam, laut Pfeifers Etymologischem Wörterbuch, wohl um 1800 aus dem Französischen in unsere Sprache in der Bedeutung „voller Lebenskraft“.
Dazu passt ein Facebook-Eintrag von Mario Schattney
Die Titelseite der BZ hat mir am besten gefallen: GÜNTER GRASS mit Hemd und rotem Pullunder im Halbprofil, ein Riese – die ganze Seite ausfüllend, mit einem Streichholz in seiner bereits rauchenden, schmauchenden Pfeife stochernd. Dazu die Headline DAS ERLOSCHENE GENIE.
(15. April um 10:19)
Eine neue Regel: Das Wichtigste steht am Schluss? Spiegel-Online macht’s vor
Spiegel Online zeigt einen lächelnden VW-Chef Winterkorn im Foto, schreibt in die Schlagzeile: „Er lächelt gegen seine Demontage an“, wiederholt sich im Vorspann: „Nur lächeln, nicht reden“ – nur wer kurz und knackig wissen will, was geschehen ist, der erfährt am Ende des kurzen Vorspanns:
Wenig Zeit? Am Textende gibt’s eine Zusammenfassung.
Und so läuft der Text auch ab: Nach rund fünfzig Zeilen im XL-Format und einer halben Internet-Ewigkeit gibt es die versprochene Zusammenfassung. Ist das eine neue Regel: Das Wichtigste oder die Zusammenfassung steht nicht mehr am Beginn eines Artikels, sondern am Ende?
So endet der Spiegel-Online-Artikel:
Zusammengefasst: VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch hat sich von Vorstandschef Martin Winterkorn distanziert. Bisher stellen sich andere wichtige Aufsichtsräte hinter Winterkorn, darunter Niedersachsens Ministerpräsident Weil. Doch der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer glaubt, dass letztlich Piëch den Machtkampf gewinnen wird.
Torsten Beeck, Sozial-Media-Chef des Spiegel, bestätigt per Tweets das Experiment: „Das Wichtigste steht im Artikel, der letzte Absatz ist die Zusammenfassung für alle, die keine Lust haben zu lesen.“ Das Experiment sei auch sehr gut bei den Nutzern angekommen laut Befragung auf verschiedenen Kanälen: „Sehr viel Feedback via E-Mail durch Blogpost des Chefredakteurs.“
Offen ist: Steigert oder senkt die Zusammenfassung am Ende die Verweildauer? „Die Zahlenbasis ist noch zu klein“, twittert Torster Beeck, der allerdings hofft, dass die neue Regel die Zufriedenheit steigert.
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Quelle: Spiegel Online, Montag, 13.04.2015, 10:38 Uhr
Der letzte Absatz hinzugefügt am 15. April (Zitate Beeck)
„Um alles in der Welt“ – das Multi-Wort „um“ (Friedhof der Wörter)
Ein Leser ärgert sich und schneidet diese Überschrift zur Sonnenfinsternis aus:
„Um kurz vor elf blieb es überraschend hell“.
Er streicht das „Um“ weg und schimpft: „Da sträuben sich einem die Nackenhaare! Ausdruck mangelhaft! ,Um‘ hat hier nichts zu suchen!“
Schimpft unser Leser zu Recht?
Ja, weil der Satz ohne „um“ kürzer und somit verständlicher wird – und angenehmer im Rhythmus.
Nein, weil der Satz grammatisch korrekt ist. In der Wendung „Um elf“ beispielsweise könnte der Schreiber nicht auf „um“ verzichten.
„Um“ ist eines der Multi-Talente in unserer Sprache. Wir brauchen es
> als Präposition vor einem Objekt: „Ich gehe um zehn Uhr ins Bett.“ Goethe legt im 13. Kapitel des „Faust“ der lachenden Marthe in den Mund:
„Denk, Kind, um alles in der Welt!
Der Herr dich für ein Fräulein hält.“
> als schlichtes Adverb in der Bedeutung von „vorbei“: „Seine Zeit ist um gewesen“; oder in der Bedeutung von „ungefähr“: „Erfurt hat um die 200.000 Einwohner“; oder als Aufruf: „Rechts um!“
> als Konjunktion und Auftakt eines erweiterten Infinitivs: „Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen“, schreibt Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahre.
> als österreichische Besonderheit, um im Urlaub die Einheimischen zu verstehen, die Milch kaufen wollen: „Ich gehe um Milch“, notiert der Duden. Der Österreicher sagt auch nicht „das Auf und Ab“, sondern „das Um und Auf“ – das wäre auch der einzige Fall, in dem „Um“ groß geschrieben wird, vom Satzanfang abgesehen.
Gleichwohl folge ich unserem Leser, der anonym schreibt, aber zu Recht den Präpositions- und Adverbien-Salat rügt: „Um kurz vor“ – das ist ein Wort zu viel. Wir brauchen Adverben, Konjunktionen, Subjunktionen und Präpositionen, um präzise zu sprechen. Aber sie gehören eben nur zum Beiwerk unserer Sprache.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 12. April 2015
Redaktionen verstoßen nach Airbus-Absturz gegen ihre Regeln: Trauernde ungepixelt auf Titelseite (Leser fragen)
Ein Leser aus Erfurt beklagt sich bei der Thüringer Allgemeine über das Foto auf der Titelseite, das die Zeitung am Tag nach dem Absturz der German-Wings-Flugzeugs veröffentlichte:
Als wenig rücksichtsvoll, ja pietätlos, empfinde ich die Veröffentlichung eines von Alejandro Garcia angebotenen Fotos. Es gehört sich nicht, das Foto trauernder Menschen nach einem solchen Unglück sowie nach dem Verlust eines Angehörigen in der Zeitung zu präsentieren. Sie bewegen sich damit auf der Ebene von Boulevardjournalismus. Das muss zukünftig unterbleiben.
Der Leser fragt:
War Ihre Zeitung überhaupt autorisiert, dieses Foto zu veröffentlichen? Wo bleibt die Selbstkontrolle der Journalisten? Wo bleibt der Schutz des persönlichen Bilds? Oder gilt das nicht, weil die abgebildeten Personen aus Spanien sind und sich gegen die Veröffentlichung in Thüringen kaum wehren können?
Der Chefredakteur antwortet:
Sehr geehrter Herr K.,
Sie haben Recht! Wir haben gegen unsere eigenen Grundsätze verstoßen, von denen einer lautet: Wir zeigen keine Familienangehörige oder Freunde im Bild, die nach einer Katastrophe trauern, einem Unglück, einem Mord oder Attentat.
Für diesen Regelverstoß bitten wir um Entschuldigung.
Ich möchte Ihre Fragen beantworten und erklären, wie es zu unserer Entscheidung kam – an einem Tag, der uns alle verwirrt hat.
Das Foto stammt von der seriösen spanischen Nachrichten-Agentur Efe, die in 110 Ländern mit 3000 Mitarbeitern vertreten ist. Wir müssen feststellen: Die moralischen Maßstäbe sind offenbar im vereinten Europa recht unterschiedlich. Außerhalb Deutschlands ist es in vielen Ländern üblich und weder ethisch noch rechtlich umstritten, dass Agenturen und seriöse Zeitungen Opfer von Unfällen oder Verbrechen sowie deren Angehörige abbilden. Das gilt auch für Spanien.
So schickte die Agentur eine Serie von Bildern von Angehörigen aus Barcelona – ohne jegliche Bedenken. Dazu kam: Einige Bilder aus dem Flughafen wurden mit verpixelten Gesichtern gesendet, andere gar nicht. So sind wir davon ausgegangen, dass die Trauernden ihre Zustimmung zum Druck gegeben haben.
Dies Verfahren ist nicht ungewöhnlich: So hat beispielsweise die Opern-Sängerin Maria Radner im Stern über Karen Cargill geschrieben, mit der sie zusammen auf der Bühne gestanden hat – und dabei wie selbstverständlich ein Archiv-Foto des Absturz-Opfers veröffentlicht.
Dies ist eine Erklärung und ein Blick in das Innenleben einer Redaktion an einem ungewöhnlichen Tag – aber kein Wegreden der Entschuldigung. Wir hätten trotz allem richtig entscheiden müssen.
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 11. April 2015
Lügenpresse (3): Des Lesers Lust an der Verschwörung
Ein Leser greift die „Lügenpresse“ auf, den Ruf der Pegida-Demonstranten: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit.“ Er nennt ein Beispiel:
„Ein Reporter befragt 100 Leute über das Freihandelsabkommen mit den USA. 80 Leute sind dagegen, 20 sind dafür. In der Presse werden die Meinungen der 20 Befürworter bekannt gegeben. Zwei Kommentare der Gegner. Es erweckt nun den Anschein, dass die Meistbefragten dem Abkommen zustimmen. Die Presse hat somit nicht gelogen. Sie hat nur nicht die Wahrheit berichtet.“
Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Vor gut zwei Jahrtausenden stritten sich in Griechenland die Philosophen darüber: Was ist die Wahrheit? Die einen, Sophisten genannt, schätzten die schöne Rede, die ironische Wendung, die List und die Tücke – um den eigenen Standpunkt zu stärken und Macht zu bekommen; die Wahrheit dürfe so lange gebogen werden, bis sich die eigenen, die guten Interessen durchgesetzt haben.
Sokrates war der Gegenspieler der Sophisten, ein Liebhaber der Wahrheit, der lehrte: Ein guter, ein moralischer Mensch verdreht nicht die Wörter, bis sie ihm passen; er verführt nicht die Menschen mit falschen, aber schön anzuhörenden Geschichten.
Es gab offenbar zu allen Zeiten eine Lust an Verschwörungs-Theorien, die meist gründen in der Vorstellung: Es gibt die Bösen, und es gibt die Guten, zu denen ich gehöre.
Die Wirklichkeit ist dagegen eher grau, mal ein wenig heller, mal ein wenig dunkler. Diese Wirklichkeit ist die Welt der seriösen Medien, sie macht Mühe, und sie fordert die Kunst der Unterscheidung.
Die Wahrheit ist stets die Suche nach der Wahrheit.
Die Geschichte von dem Reporter, der eine Umfrage manipuliert – und das wäre eine Lüge -, ist schön erzählt und wäre in mancher Runde von beifälligem Kopfnicken begleitet. Nur – woher hat der Erzähler das Beispiel?
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 28. März 2015
Absturz von 4U9525 und der Leser Fragen: Was ist Boulevard?
Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:
Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.
Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:
Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:
„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“
In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.
Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.
Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.
In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.
Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.
Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.Wie würden Sie entscheiden?
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THÜRINGER ALLGEMEINE, 4. April 2015, Leser fragen
Nach dem Airbus-Absturz: Sehnsucht nach Betroffenheit (Friedhof der Wörter)
Ein Flugzeug stürzt ab, dabei sind viele Opfer aus Deutschland. Wie reagiert der Bundespräsident: „Mit größter Bestürzung habe ich von dem schweren Flugzeugunglück erfahren. Meine Gedanken sind bei den Familienangehörigen und Freunden der vielen Opfer. Ihnen gilt meine tief empfundene Anteilnahme.“
Es sind Worte aus dem Floskel-Repertoire: Bestürzung und Anteilnahme, alles stets groß oder größer und tief empfunden; es fehlt nur das Allerweltswort „Betroffenheit“. So oder ähnlich reagieren fast alle Politiker: Unser Vorrat an Worten für Trauer und Tod ist endlich und mittlerweile aufgebraucht. Unsere Sprache hat auch ihre Grenzen.
Offenbar meinen Politiker und Funktionäre, dass die Öffentlichkeit von ihnen Bestürzung und Betroffenheit erwartet. Dank Facebook und Twitter ahmen Tausende mittlerweile die sprachliche Hilflosigkeit unserer Politiker nach:
Gabi schreibt in Großbuchstaben: „FASSUNGSLOSIGKEIT. TRAUER“. Matthias Opdenhövel ist auch „fassungslos“ und Andy wünscht „Good night. Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen des Flugs“ und fügt an „traurig, nur traurig“.
Wer braucht diese tausendfache Betroffenheit? Wer die Fassung verloren hat, sollte besser schweigen und – so er es kann – beten.
Es melden sich allerdings auch die Zyniker der Betroffenheit. Ines Pohl, die Chefredakteurin der taz twittert:
fast scheint es, als könnte Deutschland endlich die dringende Sehnsucht erfüllen, auch mal eine Katastrophe für sich zu beanspruchen.
Und ein Verwirrter verschwört sich schon: „Warum gibt man nicht zu, dass es ein missglücktes Manöver der US-Streitkräfte war???“ Und ein Pegidianer, der gern über die Lügenpresse schimpft, weiß, dass der Kopilot vorher zum Islam konvertiert ist.
Da bleibe ich doch lieber bei unserem bestürzten Bundespräsidenten.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 7. April 2015
Mario Schattney per Facebook am 7. April um 16:04
Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen unserer Welt(erfahrung)? Ludwig Wittgensteins Postulat: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!
Hat ein Toter mit seinem Namen noch Persönlichkeitsrechte? Zur Debatte um den Namen des Kopiloten
Verbietet der Pressekodex die Namens-Nennung des Kopiloten? Ja und nein. Wie bisweilen auch bei den Grundrechten muss man zwischen zwei sich widersprechenden Regeln abwägen: Welche wiegt schwerer?
Annette Baumkreuz hat in ihrem Blog die Gründe aufgelistet, die nach Artikel 8 des Pressekodex für oder gegen eine Namensnennung sprechen:
Zwei Gründe sprechen dafür:
>Die Intensität des Tatverdachts, ausgesprochen durch den französischen Staatsanwalt, der auch den vollen Namen des Kopiloten nannte.
> Die Schwere der Vorwürfe: Der Staatsanwalt spricht von absichtlichem Mord.
Ob es Absicht allerdings war, ob der Mann krank war und schuldunfähig, das wird kein Richter mehr entscheiden; ein Selbstmörder entzieht sich dem irdischen Richter.
Die übrigen Gründe sprechen laut Baumkreuz gegen die Namensnennung:
> Der ungewisse Ausgang der weiteren Ermittlungen, zum Beispiel durch die Auswertung des Flugschreibers, so er gefunden werden sollte.
> Der fehlende Bekanntheitsgrad des Kopiloten sowie fehlende Vorstrafen.
> Der Kopilot hat nicht die Öffentlichkeit gesucht.
Ich halte die beiden ersten Punkte, die für eine Namensnennung sprechen, eher stärker als die Punkte, die dagegen sprechen, zumal ein Mann, der 150 Menschen in den Tod stürzt, die öffentliche Wirkung nicht verdrängt haben dürfte.
Um Persönlichkeitsrechte geht es nicht: Sie kann ein Toter nicht mehr geltend machen. Das „postmortale Persönlichkeitsrecht“ bezieht sich nicht auf den Namen, sondern auf künstlerische Urheberschaft und Verunglimpfung, gegen die Angehörige klagen dürfen. Eine andere Frage ist die Frage der Moral:
> Kann man den Angehörigen des Kopiloten die Namensnennung zumuten?
> Hilft es den Angehörigen der Opfer, wenn sie möglichst genau erfahren, warum ihre Angehörigen oder Freunde gestorben sind?
Und juristisch?
Zur Nennung des Piloten-Namens wird die Rechtsanwalt-Kanzlei Nesselhauf tätig: Sie warnt in einem Schreiben an Redaktionen vor den Folgen der Namensnennung – wohlgemerkt: beim Piloten, der zu den Opfern des Attentats gehört.
Airbus-Absturz in Frankreich: Dürfen Redaktionen den Namen des Ko-Piloten nennen?
Nachdem wir den Nachnamen des Co-Piloten zunächst abgekürzt haben, schreiben wir ihn nun, ebenso wie der an diesem Freitagabend digital erscheinende Spiegel, aus. Die bisher veröffentlichten Ergebnisse der Ermittler lassen keine Zweifel zu: Andreas Lubitz führte diese Katastrophe herbei, aus welchen Gründen er auch immer handelte. Der Pressekodex fordert für eine identifizierende Berichterstattung, es müsse „eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat“ vorliegen. Diese Voraussetzung sehen wir erfüllt.
Was wir auf Spiegel Online auch weiterhin nicht zeigen, sind Nahaufnahmen von Angehörigen der Opfer. Denn dafür gibt es, solange die Personen nicht von sich aus an die Öffentlichkeit gehen, keinen Grund. Wir respektieren ihre Privatsphäre.
Von den Tücken der deutschen Sprache: Kindertauschbörsen und Stapel-Hauptwörter (Friedhof der Wörter)
Im Frühjahr werden nicht nur Kirschbäume und Gänseblümchen wach, sondern auch die Menschen. Alle, fast alle erwachen aus dem Winterschlaf – und räumen auf. Wer nicht zur Wegwerfgesellschaft gehören will, schließt sich der Tauschgesellschaft an.
Überall wird getauscht: Alte, aber nie gehörte CD, neuwertige Skihosen, Wasserpfeifen aus Istanbuls Basar und Matroschkas von der Krim. Immer beliebter werden „Kindertauschbörsen“. Was wird da getauscht? Bei der CD-Börse werden CD getauscht, bei der Matroschka-Börse die Matroschkas – aber bei den Kindertauschbörsen?
Als die Gemeinde Ostramondra kurz vor Weihnachten zu solch einem Basar einlud, wunderte sich Armin Burghardt über die Unlogik unserer Sprache. Er ist Lokalredakteur der Thüringer Allgemeine in Sömmerda und dachte über die Tücke der Sprache in der „Guten Morgen“-Kolumne nach:
„Schon klar dass da keine Kinder getauscht werden sollen, können, dürfen. Dass es auf einem Kuchenbasar Backwerk gibt, versteht sich von selbst. Dass auf einem Babybasar dagegen kein Handel mit Neugeborenen betrieben wird, ist auch jedem klar. Nur der Begriff unterstellt anderes.“
Wenn unsere Sprache nur immer logisch wäre! Gerade die Möglichkeit, Hauptwörter endlos stapeln zu können, unterscheidet die deutsche Sprache von den meisten anderen. Sie führt zu sinnvollen neuen Wörtern wie „Elterngeld“, umstrittenen wie „Unrechtsstaat“, widersprüchlichen wie „Jägerschnitzel“ und „Kalbsschnitzel“, praktischen wie „Hausschlüssel“, langen wie „Heuschreckenkapitalismus“, scherzhaften wie „Liebestöter“, schönen wie „Liebstöckel“ und zärtlichen wie „Lächelmund“, den Goethe erfunden hat.
Eindeutig ist keine Zusammensetzung, weder die „Kindertauschbörse“ noch das „Kindbett“, denn in dem liegt nicht das Kind, sondern die Mutter. Als jüngst in Dresden die witzigste Karikatur des Jahres gesucht wurde, zeigte eine den Arzt, der ein Haus abhorcht. Eine Frau fragt ihn: „Was machen Sie denn da?“ Er antwortet: „Ich bin der Hausarzt.“
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 30. März 2015 (Neufassung einer früheren Kolumne, die nicht erschienen war)
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