Textbausteine, Satzbaukasten, Klischees: Wenn einer schreibt wie Tausende vor ihm
Als die Zeitung noch im Bleisatz hergestellt wurde, stellten Techniker aus Papier-Fotos Druckplatten her, die Klischees; ein Klischee konnte, auch im Buchdruck, tausendfach genutzt werden. Wer vor dreißig Jahren das Wort „Klischee“ nutzte, hatte also ein reales Bild im Kopf. Wer von den Jüngeren „Klischee“ gebraucht, kennt meist nur noch den übertragenen Sinn: Abgegriffene Wörter oder Wendungen, in der Regel im abwertenden Sinn.
Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegel, nutzt in seinem formidablen Newsletter „Checkpoint“ den Begriff „Satzbaukasten“, auch ein Bild aus der alten Druckersprache des Bleisatzes. Als Beispiel nennt er den BZ-Kolumnisten Ulrich Nußbaum mit seiner Kolumne, aus der er zitiert:
> „Mächtig auf den Senkel“,
> es „tickt die Uhr“,
> der „Kapitän muss auf die Brücke“,
> da zittert die Politik (fragt sich nur, vor was, wirft Maroldt ein).
Und als Klimax: „Wer Schultoiletten zur Chefsache macht, der kann bei Olympia nicht kneifen“. Maroldt kommentiert: „Zum Start (der Olympia-Kolumne) ein Griff ins Klo.“
Klischee, Satzbaukasten – und noch ein dritter Begriff für abgegriffene und damit nichtssagende Wendungen: Textbaustein – der moderne Begriff aus der Word-Familie. Man legt in einen Speicher Wörter und Sätze ab, die man beliebig oft nutzen kann, ohne Aufwand und meist ohne Verstand.
Das längste deutsche Wort: Zwei Beispiele aus dem Westen und der DDR
Noch zwei Wortschlangen! Ein 86-jähriger Leser aus Erfurt-Melchendorf schickte zu dem Artikel „Andrea Nahles auf Rekordjagd“ zwei weitere Beispiele:
> Jahreslohnsteuerausgleichsantragsformular (40 Buchstaben) aus dem früheren bundesdeutschen Steuerrecht
> Kartoffelvollerntemaschinenersatzteilhersteller (45 Buchstaben) aus dem Vokabular der Wirtschaftsstatistik der DDR
Angela Nahles schaffte 58 Buchstaben.
Richard von Weizsäcker, eine Sprachmacht: Parteien machen sich den Staat zur Beute (Friedhof der Wörter Extra)
Bisweilen ist es ein Wort, das alles verändert, ein einziges Wort. Vierzig Jahre lang hatten die meisten Bürger im Westen Deutschlands den 8. Mai, am dem der Weltkrieg zu Ende ging, als Tag der Niederlage gesehen.
Am 8. Mai 1985 sprach Richard von Weizsäcker als Bundespräsident nicht mehr von der Niederlage, sondern von einem „Tag der Befreiung“. Es war dies eine Wort „Befreiung“, und es zog – zumindest für den Westen Deutschlands – einen Schlussstrich unter das brutalste Kapitel der deutschen Geschichte.
Die „Befreiung“ war eine doppelte: Ein neues Wort für ein neues Denken von höchster Stelle; und der Abschied von dem lähmenden oder gar aggressiven Trauma der Niederlage, gar von Schmach oder . Die als historisch geltende Rede des Bundespräsidenten beschreibt auch Glück und Leiden der kollektiven Erinnerung: Wer ehrlich zurückblickt, wird freier, sich den Folgen verantwortlich zu stellen.
Erinnerung kann für die einen Verbitterung bedeuten, wenn Illusionen zerrissen sind, und für den anderen Dankbarkeit, wenn er einen neuen Anfang sieht. Wie in der persönlichen Erinnerung so ist es auch in der Erinnerung eines Volks nach dem Ende einer Diktatur: Der eine ist verbittert, der andere beglückt.
Richard von Weizsäcker starb am Sonnabend. Er war der Bundespräsident der Einheit: In seiner Rede zum 8. Mai 1985 sprach er auch von der Einheit, die viele im Westen schon aufgegeben hatten: „Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.“
Er war der Bundespräsident, der wie kein anderer verständlich und gewaltig sprach, sich keinem anbiederte und so unter den Politikern wenig Freunde fand – auch wenn die Nachrufe anderes vermuten lassen. Er sprach von den Parteien, die sich den Staat zu Beute machen. Das ist selbst Pegida nicht eingefallen.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 2. Februar 2015
Ramelow, Staatsfernsehen und die Kontrolle der Macht: Bestialisch (Leser fragen)
Der neue Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) hat im Weimarer Privat-Sender Salve TV eine Sendung, in der er seine Politik ohne lästige Fragen von Journalisten preisen kann. Die Sendung „Ramelow & Co“ wird gerade von Medienrechtlern scharf kritisiert als „Staatsfernsehen“. Leser der Thüringer Allgemeine sehen das anders, so schreibt ein Leser aus Apolda:
Mit mir fragen auch viele Leser, was die Hetzkampagne gegen Salve-TV und gegen den neuen Ministerpräsidenten Ramelow bezwecken soll. Soll eine wahrheitsgetreue hautnahe Darstellung der Tagesarbeit des Neuen an der Spitze Thüringens, die durchaus interessant ist, verhindert und er in seiner freien Meinungsäußerung beschnitten werden?
Und eine Leserin aus Erfurt stellt fest: „Das ist doch dann endlich mal nachvollziehbare Demokratie.“
Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“
Sie gehen beide davon aus, dass Politiker prinzipiell die Wahrheit sagen, uneigennützig sind und nicht ihre eigene Macht im Sinne haben, sondern stets das Wohl des Volkes. Man muss ihnen nur zuhören und schon kennen wir die Wahrheit und können Demokratie nachvollziehen.
Das wäre schön, aber die Erfahrung zeigt: Politiker mögen zwar über ein reines Herz verfügen, das allein die Wahrheit liebt, aber dennoch ist eine gute Kontrolle sinnvoll im Namen der Bürger und zum Nutzen der Demokratie.
Diese Kontrolle üben Medien aus – und nicht Politiker selber. So sieht es auch unsere Verfassung.
Jürgen Brautmeier ist ein unverdächtiger Zeuge. Er leitet die Direktorenkonferenz der Medienanstalten, also der Anstalten, die Rundfunk und Fernsehen in privater Hand zu kontrollieren haben. Er sagt: „Es gehört zu den Grundlagen unserer Verfassung, dass sich der Staat aus dem Rundfunk herauszuhalten hat. Deshalb wäre ich Ministerpräsident Ramelow dankbar, wenn er von sich aus seine Sendungsabsichten aufgibt. Alles andere wäre ein Tabubruch.“
Wenn ein Ministerpräsident kontrolliert wird, ist das weder eine Hetze noch eine Beschneidung seiner freien Meinungsäußerung. Er verfügt über eine eigene Abteilung, die seine Meinungen – oder auch Wahrheiten – der Welt mitteilt und den Presse-Stellen in den Ministerien Sprachregelungen verfügt wie etwa zu Salve-TV: „Der Vorwurf der staatlichen Einflussnahme ist nicht zutreffend.“
Wir alle sollten wachsam bleiben. Wer wachsam ist, sollte auch nicht der Hetze verdächtigt werden – auch nicht als „bestialisch“ eingeordnet, wie Salve-TV die Berichterstattung unserer Zeitung nannte. Wächter können irren, aber Bestien sind wir nicht.
**
Thüringer Allgemeine 31. Januar 2015
Pegida und die Sprache der Politik: Redet so, dass wir euch verstehen! (Friedhof der Wörter)
Ob man die Demonstranten mag oder nicht: Pegida hat den Unmut in die öffentliche Debatte befördert. Wir sprechen wieder über Politik.
Aber hat der Unmut nur mit dem Inhalt von Politik zu tun, mit Fremden, dem Islam und anderen Themen? Oder auch mit der Sprache der Politiker?
Die Ebert-Stiftung hat über dreißigtausend Jugendliche befragt: Warum tut ihr euch so schwer mit der Politik? Warum gehen immer weniger zur Wahl?
Das Interesse an der Politik ist viel höher, als wir vermuten. Acht von zehn jungen Leuten stimmen dem Satz zu: „Ich finde es wichtig, dass sich Menschen mit Politik auseinander setzen“. Und woran scheitert das Interesse? An der Sprache der Politiker: Unverständlich, mit Fremd- und Kunstwörtern sowie Beschönigungen durchsetzt; so klagen fast achtzig Prozent der jungen Frauen und fast siebzig Prozent der Männer. Dies sind einige der Beispiele, die Berufsschüler wählten:
> Das heißt nicht Nullwachstum, das heißt Stagnation.
> Warum heißen Hausmeister Facility Manager?
> Früher hat man von einem Ausländeranteil gesprochen und jetzt spricht man von Migrationsanteil. Wofür jetzt diese Schönrednerei?
Spricht Pergida verständlicher? Schauen wir uns die Forderungen an:
> Was ist „christlich-jüdisch geprägte Abendlandkultur“?
> Was sind „Parallelgesellschaften“?
> Was bedeutet „Genderisierung“?
„Redet so, dass wir euch verstehen!“, fordern nicht nur junge Leute – auch von Zeitungen. Knapp die Hälfte hält die Sprache der Redakteure für zu kompliziert.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 16. März 2015
Wie denkt der Bundespräsident über unsere Jugend?
Wir brauchen diejenigen, die aus unserer sitzenden, auf Bildschirme glotzenden jugendlichen Gesellschaft bewegungsfähige Individuen machen.
Wäre das nicht eine Aufgabe für gute Zeitungsredaktionen? Wer Zeitung liest, muss sich bewegen und wird beweglich – zumindest im Kopf. Das Zitat stammt von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Verleihung der „Sterne des Sports“ in Berlin über die Bedeutung des sozialen Engagements in Sportvereinen (nach Newsletter von RN-Chefredakteur Wolfram Kiwit 29.1.14)
OTZ-Chefredakteur wehrt sich in seiner Zeitung gegen den Vorwurf „Lügenpresse“
„Es ist nicht verboten, sich über die Zeitung zu beschweren. Die Aufregung über das örtliche Blatt gehört gewissermaßen zum Kulturangebot einer aufgeklärten und meinungsfreudigen Gesellschaft“, schreibt Chefredakteur Jörg Riebartsch in einem langen Seite-Drei-Beitrag der OTZ, der in Gera erscheinenden Ostthüringer Zeitung: „Gegendarstellung – Ungewöhnlich: Eine Zeitung wartet mit einer Gegendarstellung an ihre Leser auf. Aber nur an die, die die Redaktion derzeit mit Unterstellungen, Verschwörungstheorien und Kolportagen überziehen“.
Er geht auf den Vorwurf der Lügenpresse ein und nimmt sich detailliert die Kritik der Leser vor:
> Wenn wir Leserbriefe ablehnen, hat das gute Gründe: Beleidigungen zum Beispiel oder unbewiesene Behauptungen.
> Gelenkte Medien gibt es heute nicht; die gab es beispielsweise in der DDR.
> Fehler machen auch Zeitungen. Weiß die Redaktion davon, wird sie diese korrigieren.
> Redaktionen lassen sich nicht einschüchtern – auch nicht von Anwälten, die statt Gegendarstellungen immer öfter Unterlassungserklärungen verlangen.
> Geschäftsführer und Verleger dürfen in die Arbeit der Redaktion nicht eingreifen und auf Willfährigkeit bestehen.
Dies ist der komplette Beitrag von Jörg Riebartsch; die in seinem Text erwähnte Volkswacht ist die SED-Zeitung, die in der DDR erschien.
Wer als Journalist schon mehrere Berufsjahre auf dem Buckel hat, der weiß, mancher Leser ist mit Kritik schnell zur Hand. Wer an der Dienstleistung „Zeitungmachen“ teilnimmt, sollte da zuweilen nicht zart besaitet sein. Ein dickes Fell hilft. Manche Hinweise aus der Leserschaft haben ihre Berechtigung, anderes beruht auf Nichtwissen. Oft macht auch der Ton die Musik. Da sind die Reaktionen gegenüber der Zeitung auch nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der der Umgangston zunehmend rauer und aggressiver wird.
Seit einigen Monaten aber nimmt die Zahl der Unterstellungen, Mutmaßungen und kruden Verschwörungstheorien, die die Redaktion erreichen, bedenklich zu. Auch als „Lügenpresse“ musste sich die Ostthüringer Zeitung vereinzelt schon beschimpfen lassen. Nachstehend gehen wir auf die häufigsten Behauptungen ein und stellen diese damit gern zur Diskussion.
Zensur, Meinungs- und Pressefreiheit
Diese Begriffe werden oft in einem Atemzug genannt und falsch verwendet. Die OTZ zensiert Leserbriefe heißt es dort. Das ist falsch. Zensur beschreibt den Umstand, wenn staatliche Stellen den Informationsfluss lenken. Der Staat übt dann Zensur aus. Die OTZ kann keine Zensur ausüben.Verwendet wird dieser Vorwurf meist von Leserbriefschreibern, deren Leserbrief wir ablehnen mussten. Der Ärger ist verständlich. Man setzt sich hin, gibt sich Mühe, schreibt einen Brief – und die Zeitung lehnt es auch noch ab, diesen zu veröffentlichen. Diese Ablehnung ist keine Zensur. Wir nehmen an dieser Stelle unsere Freiheit als Presseorgan wahr. Die OTZ veröffentlicht gern Leserbriefe. Schließlich wollen wir die Meinungsvielfalt befördern. Da liegt es in unserem eigenem Interesse möglichst viele Zuschriften zu publizieren.
Wenn wir Leserbriefe ablehnen hat das gute Gründe. Der Inhalt des Briefes kann strafrechtlich relevant sein oder er enthält Beleidigungen, bösartige Unterstellung oder unbewiesene Tatsachenbehauptungen. Könnte der Zeitung doch egal sein, mag mancher Leser einwenden. Ist es aber nicht. Der Gesetzgeber hat uns nämlich dazu verpflichtet, alles was die Redaktion veröffentlicht auch presserechtlich zu verantworten. Obwohl unter den Leserbriefen der Name des Autoren steht, trägt trotzdem die Redaktion die presserechtliche Verantwortung für das Veröffentlichte – auch wenn wir ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Leserbrief nicht die Meinung der Redaktion wieder gibt.
Weitere Gründe zur Ablehnung von Leserbriefen können Wiederholungen sein oder wenn sich Diskussionen um ein Thema im Kreis drehen und nach zahlreichen bereits publizierten Leserbriefen keine neuen Argumente mehr auftauchen.
Hin und wieder fordern uns wiederum Leser auf die Leserbriefe zu zensieren, weil ein bestimmter Autor nur „dummes Zeug schreibt“ oder eine „falsche Meinung“ hat. Kürzlich hat ein Abonnent sogar die OTZ abbestellt, weil er die Leserbriefe eines anderen Lesers nicht mehr ertrage.
Wir werden dennoch auch in Zukunft keine Zensur bei Leserbriefen ausüben.
Verwechselt oder missverstanden werden die Begriffe von Meinungs- und Pressefreiheit. Einzelne Leser meinen, wir verstießen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit, wenn wir ihren Brief nicht veröffentlichen. Die Meinungsfreiheit kann die OTZ gar nicht beschränken, weil jeder Mensch das Recht hat sich auf den öffentlichen Marktplatz zu stellen und unbehelligt seine Meinung zu sagen. Das ist Meinungsfreiheit.Pressefreiheit meint etwas anderes, im Grunde genau das Gegenteil was der eben erwähnte Leser glaubt. Die Pressefreiheit liegt bei der Presse. Die Presse ist frei darin zu entscheiden, was sie veröffentlicht und was nicht. Damit soll gerade verhindert werden, dass Leser, Politiker, Verbände, Gewerkschaften, Vereinsvertreter oder andere Interessengruppen nach eigenem Gutdünken Einfluss darauf nehmen, was in einer Zeitung steht.
Vorwürfe in diesem Zusammenhang, die Zeitung sei parteiisch, beziehen sich in der Regel auf Kommentare, die optisch bewusst anders gekennzeichnet sind als normale Berichte in der Zeitung. Kommentare stellen ein Meinungsangebot dar, dem man folgen kann oder auch nicht. Die Zeitungsmacher der OTZ sehen sich nicht als Missionare und wollen niemanden bekehren. Aber zur Meinungsvielfalt, die der Ostthüringer Zeitung sehr wichtig ist, gehört es zunächst einmal, dass Meinungen geäußert werden. Ohne Meinung kann es keine Meinungsvielfalt geben. Wer anderer Meinung ist, schreibt dazu gern einen Leserbrief. Und natürlich kann man auch schreiben, wenn man der gleichen Meinung ist.
Gelenkte Systemmedien
Die pauschale Behauptung, die Medien – wer immer „die Medien“ auch sein sollen – seien gelenkt vom System, ist falsch, wird aber immer wieder gern wiederholt. Was sind Systemmedien? Die Vorgängerzeitung der Ostthüringer Zeitung, davor kurz Ostthüringer Nachrichten, die „Volkswacht“ , war eine vom System des DDR-Regimes gelenkte Zeitung. Sie diente dazu im Sinne der Partei, der SED, den Lesern das Bild vorzugaukeln, was die Staatsführung gern von ihrem Staat vermitteln wollte.Was nicht sein durfte, wurde ausgeblendet. Kritik fand nicht statt. Wenn es Engpässe beim Fleisch gab, wurde der Volkswacht vorgegeben nur noch Rezepte für Gemüsegerichte zu veröffentlichen. Regelmäßig wurde die Redaktionsleitung der Volkswacht nach Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, vorgeladen. Dort teilte das System der Redaktion dann mit, wie man in der nächsten Zeit zu berichten habe.
So was gibt es heute nicht mehr. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird zwar wissen, dass es eine Ostthüringer Zeitung gibt, sie wird aber selbst in ihren kühnsten Albträumen nicht daran denken, der OTZ irgendwelche Weisungen zu geben. Sie liest noch nicht mal die Kommentare, die sich mit Ihrer Politik befassen.
Die Wahrnehmungsschwelle für Zeitungen wie der OTZ sind gestiegen. Und deshalb versuchen allenfalls Parteienvertreter auf Landesebene, Druck auf Zeitungen auszuüben, und zwar alle Parteien. Das muss die Redaktion, insbesondere der Chefredakteur, aushalten, darf sich nicht einschüchtern lassen, wenn Kommentierungen oder Berichte kritisiert werden.
Es ist nicht verboten, sich über die Zeitung zu beschweren. Die Aufregung über das örtliche Blatt gehört gewissermaßen zum Kulturangebot einer aufgeklärten und meinungsfreudigen Gesellschaft. Und tatsächlich erscheinen in der Zeitung, auch in der OTZ, Fehler. Beispielsweise weil der Redakteur einen schlechten Tag hatte und eine Zahl falsch verstanden hat, weil die Redaktion von einem Veranstalter mit falschen Daten versorgt wurde, weil die Quelle selbst schon falsch informiert war. Dann gibt es die Möglichkeit eine Richtigstellung oder eine Berichtigung zu verlangen. Die OTZ wird Fehler, soweit bekannt, immer berichtigen.
Wenn sich die Zeitung stur stellt, eine Berichtigung nicht bringen will, hält Deutschland eine Fülle von Möglichkeiten bereit, sich gegen die Berichterstattung in der Zeitung zu wehren. Beispielsweise mit einer Beschwerde beim Deutschen Presserat. Oder mit der guten, alten Gegendarstellung, die in jedem Landespressegesetz steht, aber eher aus der Mode gekommen ist. Mit einer Gegendarstellung kann man falsche Tatsachenbehauptungen gerade rücken.
Abgelöst wurde die Gegendarstellung mehr und mehr von der strafbewehrten Unterlassungserklärung, häufig von Prominenten oder Unternehmen als Instrument eingesetzt, wenn man durch die Berichterstattung in der Zeitung sein Image beschädigt sieht oder vorgibt, Schadensersatzansprüche zu haben. Um Druck auf den Chefredakteur auszuüben und in dem Gedanken, ihn einzuschüchtern, kommen Unterlassungserklärungen häufig am Freitagnachmittag mit Fristsetzung bis Montag früh und werden von Kanzleien verschickt, bei denen schätzungsweise 20 Anwälte rechts auf dem Briefbogen stehen. Da aber Chefredakteure meistens zu den eher erfahrenen Journalisten gehören, klappt das mit dem Einschüchtern nicht recht. Zudem hat die Funke Mediengruppe, zu der auch die OTZ gehört, natürlich eine versierte Rechtsabteilung, die meist deutlich machen kann, wie rechtlich zweifelhaft das Begehren der gegnerischen Partei ist. Die Berufserfahrung zeigt, dass nicht alle, aber die meisten Fehlervorwürfe, unberechtigt sind.
Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing
Wenn schon die Politik der Zeitung nicht sagen kann, wo es lang geht, dann doch bestimmt der Besitzer, mutmaßen manche Leser und schreiben deshalb zur Einleitung einer Kritik an der Zeitung vorwurfsvoll: Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing.Auch hierzu ist zunächst eine Besonderheit des deutschen Pressewesens zu erklären. Wenn in einer Fabrik Erbsen eingedost werden, dann ist der Geschäftsführer der Erbsendosenfabrik verantwortlich dafür, was in der Dose drin ist. Bei Zeitungen ist das bewusst nicht so. Nicht die Geschäftsführung trägt die presserechtliche und publizistische Verantwortung für die Inhalte der Zeitung, sondern der Chefredakteur. Man wollte auf diesem Weg nach den historischen Erfahrungen mit den Diktaturen in Deutschland die Unabhängigkeit von Redaktionen in Zeitungen stärken.
Inhaltliche Eingriffe von Geschäftsführern in das redaktionelle Programm bei der OTZ gibt es nicht. Die in diesem Zusammenhang zuweilen geäußerte Mutmaßung, die Geschäftsführer oder Herausgeber wählten die Journalisten nach inhaltlichen Kriterien der Willfährigkeit aus, sind ebenfalls falsch. Die Kaufleute von Unternehmen bestimmen natürlich das Budget der Zeitung und damit wie viel Redakteure bei einer Zeitung wie der OTZ beschäftigt sein können. Welche das sind, obliegt in der Auswahl aber dem Chefredakteur.
Um Redaktionen vor der Einflussnahme andererseits auch von Gewerkschaften, also Arbeitnehmervertretern inhaltlich ebenso zu schützen, sind Zeitungen sogenannte Tendenzschutzbetriebe. Das heißt, es sind sogar bestimmte Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes außer Kraft gesetzt.
Putin ist der Gute, nur die gelenkten Medien begreifen es nicht.
Hier wird die Verschwörungstheorie der Systemmedien auch noch in einen globalen Zusammenhang gestellt. Wer Kritik an Putin äußert, ist von den imperialistischen US-Amerikanern gelenkt und es wäre nicht verwunderlich man äußere auch noch die These, der US-Präsident Barack Obama bestimme selbst, was zu Russland in der OTZ steht und was nicht. Dies wird in einzelnen Fällen noch von der Behauptung gestützt, es gäbe eine Anweisung, in der OTZ dürfe nichts mehr Gutes über Russland stehen und selbst über Naturkatastrophen dort werde nicht mehr berichtet. Eine solche Anweisung gibt es nicht. Das Meinungsbild der OTZ zum Konflikt in der Ukraine ist differenziert und bleibt es auch.
**
OTZ 24. Januar 2015, Seite 3
„Wehe, wenn die Medien losgelassen“, klagt ein MAZ-Studienleiter
Die Zuger Sex-Affäre hat es über die Weihnachtstage wieder einmal gezeigt: Wehe, wenn die Medien losgelassen. Dann wird in intimsten Details gewühlt, kommen anonyme Augenzeugen zu Wort und die Betroffenen verlieren Ehre, Ruf und Ansehen – auch wenn noch gar nicht klar ist, was überhaupt vorgefallen ist.
Genau hier wollen Medienethik und Medienrecht Pflöcke einschlagen, die nicht nur die Menschen in ihrer Persönlichkeit schützen, sondern auch die Medien selbst in ihrem Ruf. Denn berichten Journalisten hechelnd über Verdächtigungen, die in sich zusammenfallen oder die man gar nicht überprüfen kann, verlieren die Medien ihr wichtigstes Gut: Die Glaubwürdigkeit. Jenes Gut, das sie von andern Informationsträgern wie Kommunikations- oder PR-Agenturen und Einzelstimmen im Internet unterscheidet. Darum sind Medienrecht und Medienethik wichtiger denn je. Damit jeder Medienschaffende nicht nur seine Rechte, sondern auch die Grenzen kennt.
Dominique Strebel, Co-Studienleiter Diplomausbildung der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern; MAZ-Newsletter im Januar 2015
**
Die Zuger Sex-Affäre: Ein Kantonsrat und SVP-Politiker wurde verhaftet, nachdem eine Grünen-Politikerin nach einem durchzechten Abend kurz vor Weihnachten mit Unterleibsschmerzen, aber ohne Erinnerung aufgewacht war. Zuletzt war sie mit dem Kantonsrat gesehen worden.
Gauck gegen „Lügenpresse“: Medien berichten meistens korrekt und ausgewogen
Wer den Medien hierzulande unterstellt, sie verbreiteten systematisch Lügen, der sollte sich daran erinnern, wie es früher in Deutschland zuging. Eine gleichgeschaltete Presse im Nationalsozialismus hat ungeniert gelogen und manipuliert. Auch die Medien der DDR haben das SED-Regime stabilisiert, indem sie systematisch Unwahrheiten verbreiteten. Dagegen können die Medien in Deutschland heute frei arbeiten. Trotz mancher Irrtümer, die auch Journalisten manchmal unterlaufen, trotz gelegentlicher Unwahrheiten, die einige wenige von ihnen in die Welt setzen, wird doch meistens korrekt und ausgewogen berichtet.
Bundespräsident Joachim Gauck hat das von Pegida-Demonstranten benutzte Wort „Lügenpresse“ als „geschichtsvergessener Unsinn“ zurückgewiesen.
**
Quelle: Zeit online 22.1.15
Andrea Nahles auf Rekordjagd: Das längste deutsche Wort 2015 (Friedhof der Wörter)
Politiker sind eitel wie alle Menschen, die sich in der Öffentlichkeit präsentieren müssen, Journalisten inklusive. Herr Gauck will der beliebteste sein, Frau Merkel die erfolgreichste, Herr Steinmeier der bekannteste.
Frau Nahles, die Arbeitsministerin, möchte in den Umfragen auch nach oben steigen, will die bekannteste Politikerin werden, zumindest vor den Damen von der Leyen und Schwesig. Wie es ihr gelingen wird?
Mit Worten, genauer: mit dem längsten deutschen Wort 2015, das nicht einmal in eine Druckzeile passt: „Mindestlohndokumentationspflichteneinschränkungsverordnung“. Mit 58 Buchstaben übertrifft das Wort den 36-Buchstaben-Rekordhalter im Duden um Längen: Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung.
Selbst der legendäre „Donau-Dampfschifffahrtsgesellschafts-Kapitän“ umfasst gerade mal 42 Buchstaben, wird als Wortungetüm diffamiert und Schülern zur Abschreckung vorgeführt.
„Wer nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Begriff, wie verwirrend diese Sprache ist“, notierte Mark Twain, der amerikanische Dichter des Tom Sawyer, als er vor gut hundert Jahren durch Europa reiste. Er versammelte die „Schrecken der deutschen Sprache“, die er konzentriert im längsten ihm bekannten Wort fand: „Gegenseitigengeldbeitragendenverhältnismäßigkeiten“.
Er kannte Andrea Nahles und ihre Wortgewalt noch nicht.
PS. Es geht noch länger: 85 Buchstaben sind in diesem Blog als der Allzeit-Rekord notiert.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Januar 2015
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?