Die Bombe im Kino: Warum „Blockbuster“ ein hässliches Wort ist und ein gefährliches obendrein (Friedhof der Wörter)
Was hat Walt Disneys Film „Die Eiskönigin“, nach einem Märchen von Hans-Christian Anderson, gemein mit Bomben im Zweiten Weltkrieg, die Hunderttausenden in Deutschland den Tod brachten?
Beide heißen „Blockbuster“.
Der Anglizismus „Blockbuster“, frei übersetzt: Wohnblock-Knacker, ist auch in Deutschland ein gängiger Begriff für Filme, die – wie „Die Eiskönigin – viele Besucher anlocken und oft eine Milliarde Dollar oder mehr einspielen. Das Wort taucht in TV-Zeitschriften auf, im Privatsender „Pro7“ läuft es als Serientitel wie etwa am Pfingstsonntag mit dem glänzenden Politkrimi „Die Iden des März“ oder mit der vierten Folge des Klimawandel-Zeichentricks „Ice Age“ am Pfingstmontag.
(Übrigens: Traut der deutsche Verleih dem Kinogänger nicht zu, dass er weiß, was die Iden des März sind? Und bringt neben dem englischen Titel „The Ides of March“, den wohl nur wenige verstehen, den deutschen „Tage des Verrats“?)
Wir haben schöne deutsche Wörter für den Blockbuster wie „Kassenschlager“ oder „Kinohit“. Als das Fernsehen noch jung war und nahezu ganz Deutschland – bei fast 90 Prozent Einschaltquote – die „Halstuch“-Krimis schaute, sprachen die Leute vom „Straßenfeger“.
Blockbuster – der Begriff „ist eine Instinktlosigkeit gegenüber den Opfern des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg. Wenn ihn die Nachfahren englischer und amerikanischer Bomberpiloten verwenden, muss man das hinnehmen, von Deutschen jedoch nicht“,
schreibt Gerhard H. Junker, der Herausgeber des „Anglizismen-Index“, der vor einem halben Jahr in hohem Alter gestorben ist.
Als um die Jahrtausendwende in Hamburg zwei „Blockbuster“ gefunden und entschärft wurden, tauchte das Wort auch in seiner ursprünglichen Bedeutung in unseren Zeitungen auf: Solange Bomben im Untergrund unserer Städte schlummern, werden wir diese Blockbuster nicht aus unserer Sprache vertreiben können.
Junge Leuten allerdings denken beim „Blockbuster“ nicht mehr an den Krieg, den selbst ihre Eltern nicht erlebt und erlitten haben. Reicht aber das Unwissen über die Bombennächte aus, um den „Blockbuster“ zu verzeihen oder gar zu dulden?
Wann befreit sich ein Wort von seiner historischen Last? Aber unabhängig von dieser Frage: „Blockbuster“ ist ein häßliches und unnötiges Wort, das auf den Friedhof der Wörter gehört – aber immer wieder aufstehen wird, da es auch der Duden aufgenommen hat ohne jeden Hinweis auf seinen zweifelhaften Ruf.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 2. Juni 2014 (hier erweitert)
Kopflose Enthauptung oder – Zwei Fallen bei Sprachbildern: Schief oder überladen (Friedhof der Wörter)
Was wäre unsere Sprache ohne Bilder? Aber Vorsicht! Es gibt zwei Fallen, mindestens, in die wir stolpern können:
Erstens: Falsche oder unlogische oder schiefe Bilder.
> Brigitte Pothmer brachte in der Mindestlohn-Debatte des Bundestags einen toten Gaul zum Laufen: „Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich auf ein totes Pferd einrede. Dass dieser Gaul jetzt doch in Trab kommt, halte ich für einen extremen gesellschaftlichen Fortschritt.“
> Eine Zeitung schrieb in der CDU-Spendenaffäre 2000: „Die ohnehin kopflose CDU ist durch Schäubles Rücktritt zusätzlich enthauptet.“
> Und eine Nachrichtenagentur meldete zum Ärzte-Streik: „Ärzten rennen mit geschlossenen Praxen offene Türen bei Patienten ein.
Zweitens: Zu viele Bilder, so dass der Leser nicht weiß, welcher Film in seinem Kopf laufen soll. Der Journalist Robert Domes schreibt in seinem Krimi „Voralpenphönix“:
„Was erzählte der Vater von früher, und was erzählte er nicht. Oli hatte das Gefühl, als wäre da ein dunkler Fleck, eine faule Stelle im Apfel, ein Riss im Vorhang.“
Drei Bilder legen sich übereinander: Welches Bild soll er in seinem Kopf malen? Eine Jacke mit Fleck? Einen Apfel? Einen Vorhang?
Drei Bilder für ein- und dieselbe Sache verwirren den Leser. Also – nicht der Leser muss sich für das trefflichste Bild entscheiden, sondern der Autor.
Trefflich ist dieses Bild, mit dem Thomas Mann in die Frühzeit unserer Kultur führt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen.“ So beginnen seine Josephs-Romane.
Tröstlich für uns, die wir alle keine Dichter sind, ist der folgende Satz in Manns Roman, den hoffentlich jede Deutschlehrerin und jeder Journalist verwerfen würde:
„Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein…“ Wir lesen eine banale, ja sinnlose Reihung von zwölf Wörtern, die meisten Adverbien, als Neben- und Beiwörter, die für sich ohne Bedeutung bleiben. Auch Nobelpreisträger können nach einem glänzend formulierten Satz gleich abstürzen – wie (naja, wem fällt dazu das treffende Bild ein).
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 10. Juni 2014
Alexander Marinos hat auf Facebook kommentiert:
Lufthansa zieht die Notbremse oder Porsche im Sinkflug …
Sind Leserbrief-Schreiber eher unglückliche Menschen?
Ein Leser fragt sich: Bin ich ein unglücklicher Mensch? Er ist sich sicher: Nein! Er stellte diese Frage, als er am Sonnabend vor der Europa- und Kommunalwahl den Leitartikel in der Thüringer Allgemeine las, der so begann:
„Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.“
Der Leser aus Weimar macht sich seine Gedanken:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bürger, die gern Leserbriefe schreiben, Pessimisten und unglücklich sind. Ich schätze es sehr, wenn Menschen ihre politischen Standpunkte einer größeren Öffentlichkeit vorstellen und somit auch zur Diskussion anregen. Dazu gehören sicher Mut, Einfühlungsvermögen und Überzeugtheit.
Wenn dabei mitunter ein gewisses Maß an politischer Weitsicht fehlt, so ist doch ein hoher Grad an Vertrauen gegenüber der Zeitung zu erkennen.
Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, das mir nicht nur verfassungsmäßig Meinungsfreiheit garantiert, sondern diese auch in vieler Hinsicht fördert. Das ist gut so und kann noch besser werden, wenn die Gedanken der Bürger in Wort und Schrift eine gewisse Wirksamkeit erreichen.
So sehe ich in vielen „Leserbriefschreibern“ Optimisten, die an Veränderungen im positiven Sinne glauben und zum weiteren Nachdenken anregen. Wenn ich morgens meine „Thüringer Allgemeine“ aufschlage, interessieren mich zunächst die Meinungen meiner Mitbürger in ihren Leserbriefen, und wende mich dann intensiv den Kommentaren zu.
Natürlich sehne auch ich mich in der Zeitung nach mehr Beiträgen, die Optimismus und auch Freude ausstrahlen.
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Ihr Brief beschämt mich. Ich bin offenbar zu sehr von uns Redakteuren ausgegangen:
Wir sehen, oft notgedrungen, die dunklen Seiten der Welt. Wir decken auf, wenn die Mächtigen übermütig werden, und schreiben selten nur, dass sie – wie die meisten Menschen – ihre Arbeit anständig erledigen. Es ist wie beim Klempner: Er kommt, wenn der Wasserhahn tropft – und nicht, wenn alles in Ordnung ist.
Uns irritiert schon, dass unsere Recherchen in vielen Leserbriefen zu Verdruss, Verdrossenheit und Pessimismus führen – statt zu der Meinung: Gut, dass wir in einem Land leben, in dem Redakteure den Mächtigen auf die Finger klopfen und in dem sich vieles ändern kann.
Sie haben uns überzeugt, dass Leserbriefschreiber eigentlich optimistisch sind. Wir stellen uns nun den Leserbriefschreiber als einen glücklichen Menschen vor.
Thüringer Allgemeine 7. Juni 2014
Der Leitartikel vom 24. Mai, auf den sich der Leser bezieht:
Vertreibung aus dem Paradies
Geht es uns gut? Darauf gibt es keine Antwort, welche die meisten akzeptieren könnten: Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.
Was wir eher akzeptieren, ist der Vergleich: Geht es uns besser? Wenn die Menschen in der DDR Westfernsehen schauten, fiel der Vergleich leicht: Denen drüben geht es besser – größere Autos, schönere Reisen und freie Wahlen.
Und heute? Uns Deutschen geht es besser als den meisten in Europa: Unser Wohlstand, viele Arbeitsplätze, offene Grenzen – und vor allem ein fast siebzigjähriger Frieden waren vor einigen Generationen noch ein Traum, der als unerfüllbar galt.
Uns Thüringern geht es besser als den meisten im Osten und sogar als vielen im Westen: Auch bei uns ist ein Traum wahr geworden. Einspruch!, rufen viele. Was läuft nicht alles schief – und sie präsentieren eine lange Liste des Schreckens von den niedrigen Renten bis zum Regelungseifer in Brüssel.
Doch ein Denken und Reden, das nur Schwarz-Weiß und Gut-Böse kennt, macht uns das Leben schwer. Wir sind aus dem Paradies vertrieben und werden es niemals wieder erreichen. Aber wir können dafür sorgen, dass es besser für uns wird – in unserem Dorf, in unserer Stadt, im Kreis und in Europa.
Die Demokratie hat viele Mängel, aber sie ist die einzige Form des Zusammenlebens, in der jeder über seine Zukunft, die seiner Kinder und der Gesellschaft mitreden und mitentscheiden kann. Geht er nicht zur Wahl, entscheiden andere über ihn. Wer will das schon?
Was wären Zeitungen ohne den Verrat? (Zitat der Woche)
Ohne Verrat, ohne zum Verrat bereite Zeitungen taugt die beste Regierung nichts.
Willi Winkler in der SZ vom 31. Mai zu einem Kommentar der New York Times (Online): Michael Kinsley, „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald besprechend, hatte sich gegen Snowden positioniert und der Regierung allein die Entscheidung zugewiesen, Geheimnisse bekannt zu machen. Das sei nicht Aufgabe und Recht der Presse. Kinsleys Begründung: Niemand hat die New York Times gewählt.
Margaret Sullivan ist Public Editor des NYT, eine Art Ombudsfrau („Mittler zwischen Zeitung und ihren Lesern“): Sie tadelte die Redaktion wegen der einseitigen Rezension des Buchs.
Journalisten schreiben Krimis, und Robert Domes rechnet mit dem Chefredakteur ab
„Voralpenphönix“ spielt im Allgäu, wo Robert Domes lange als Lokalredakteur gearbeitet hatte, bevor er aus Frust über die ständige Teilnahme an Sitzungen und Konferenzen ins schwere Dasein eines freien Autors wechselte. Er will, so sagt er, schreiben und nicht seine Zeit im Management vergeuden.
So rechnet er, nebenbei, mit dem real im Allgäu existierenden Lokaljournalismus ab, der „zwischen Anbiederung an die Honoratioren und blankem Populismus“ schwankt. Zur Karikatur gerät der Chefredakteur, der immer in der ersten Reihe bei den Graureihern sitzt und sich wichtig macht; Oli, die Lokalredakteurin, beschreibt ihn so:
Eine Basisnote aus vorgespielter Sicherheit, in der Herznote ein kräftiger Schuss Angst und Einsamkeit und darüber ein hohes Flirren aus Stolz und Arroganz, die Zwischentöne sind frauenfeindlich, altbacken, intolerant, unterwürfig, distanzlos und geltungssüchtig.
„Voralpenphönix“ ist einer dieser Heimat-Romane, wie sie derzeit zu Dutzenden verlegt werden und offenbar ihr Publikum finden. „Voralpenphönix“ ist allerdings ein besonderer Heimatroman, ein zweifacher Heimatroman:
> Er spielt im Allgäu, in einer der schönsten Landschaften Deutschlands, aber die Romantik der Natur spielt keine Rolle. Wer sich in Urlaubsstimmung lesen will, wird enttäuscht. Für die junge Lokalredakteurin Olivia, die im Fall eines Serienmörders recherchiert, ist das Allgäu Provinz, und Kaufbeuren, ein 40.000-Einwohner-Oberzentrum, ist ein Kaff:
Das Leben war so zugepflastert wie die Kaufbeurer Altstadt. Stein an Stein, überschaubar und sauber, popelig und eng. Bloß keine Überraschung, bloß keine Neuerungen.
> Doch auch die verlorene Heimat spielt eine entscheidende Rolle: Milowitz, ein Dorf in Böhmen. Nachdem die Sowjets, vom Autor auf „die Russen“ verkürzt, das Dorf im Mai 1945 eingenommen hatten, begann die große Vertreibung – und die lange Erinnerung an das beschauliche Leben im Dorf. Für einen, der sich erinnert, ist das Erzählen von der alten Heimat wie ein langer Tauchgang, bei dem er immer wieder Luft holen muss:
Probisch schwebte durch die staubigen Straßen von Milowitz, durch Glasdrückereien und Bauernhöfe, durch Ställe und Stuben, über Bäche und Felder, durch Generationen und Jahreszeiten. Oli konnte die Rapsfelder riechen und die Kartoffelsuppen, den Pferdemist und den Schweiß der Knechte.
Doch kurz vor Ende des Krieges streunten einige Dorfburschen durch die Wälder, sammelten Waffen ein und griffen einen sowjetischen Panzer ab. Die Reaktion folgte prompt: Die Rote Armee schoss den ersten Bauernhof an der Dorfstraße in Brand, in dem eine komplette Familie mit vier Kindern und den Großeltern umkam.
Ein Sohn war nicht zu Hause. Sein Schicksal wird zum Drehpunkt der Handlung, in die sich Schuld und Rache mischen, unbewältigte Geschichte und unterdrückte Geschichten.
Robert Domes bleibt bei seinem Thema: Das Trauma der deutschen Schuld. In seinem preisgekrönten Buch „Nebel im August“, das bald verfilmt wird, recherchierte er die Geschichte eines ganz normales Kindes: Ernst Lossa wird als Kind fahrender Eltern, von Jenischen, geboren, von den Nazis in ein Erziehungsheim gesteckt und als „asozialer Psychopath“ von einem Euthanasie-Arzt in Kaufbeuren ermordet, nicht einmal 15 Jahre jung. Der Arzt, der die Ermordung verfügt hatte, entschuldigte sich vor Gericht: „Wenn ich ihn nicht euthanasiert hätte, dann wäre er halt in eine andere Anstalt gekommen.“
Im „Voralpenphönix“ geht es auch ums Verdrängen, das eine ganze Generation pflegt. „Eine böse Zeit“, sagen sie, „eine schwere Zeit, eine dunkle Zeit“ – wenn sie dem Thema nicht mehr ausweichen können. „Immer wenn es um das Dritte Reich ging, benutzten Zeitzeugen diese Sätze und beendeten damit das Thema, bevor es richtig anfing.“
Sozialkritisch ist Domes‘ Krimi, aber niemals ist das Kritische aufgesetzt; vor allem aber ist der „Voralpenphönix“: spannend. Die Dialoge sind nicht papieren wie in vielen deutschen Regionalkrimis, die Typen stimmen und bieten sich für eine Verfilmung an. Auch wenn dem Autor gegen Ende die Luft ausgeht, ist Robert Domes ein Erstling gelungen, dem eine Fortsetzung unbedingt folgen sollte.
Robert Domes: Voralpenphönix. Allgäu-Krimi. Emons-Verlag, 192 Seiten, 9.90 Euro
LESEPROBE:
Unter den Erinnerungen stieß Oli endlich auf den erhofften Schatz. In einem Briefumschlag steckten die persönlichen Unterlagen des Verstorbenen, alte Ausweise, Rentenbescheide, Zeugnisse und Beurteilungen. Mit zitternden Händen las sie dort zum ersten Mal den Namen Horst Kittel.
Aus den Papieren ließ sich das Leben des Mannes in groben Zügen rekonstruieren. Er war offenbar wirklich den Russen in die Hände gefallen. Die hatten den Sechzehnjährigen jedoch nicht getötet, sondern in ein Lager nach Sibirien geschickt. Dort war er bis 1950, wurde am Ende ideologisch geschult und bekam eine Arbeitsstelle in der DDR. Von nun an trug Horst Kittel den Namen Heinz Krause. Aus den Unterlagen ging der Grund für den Namenswechsel nicht hervor. Oli überlegte, ob die Russen ihn umbenannt hatten. Aber warum sollten sie? Viel wahrscheinlicher war, dass Kittel sich selbst das Pseudonym zugelegt hatte. Hegte er damals bereits Rachepläne, denen er unerkannt nachgehen wollte?
Als Heinz Krause machte er rasch Karriere in der Verwaltung der Nationalen Volksarmee. Den Unterlagen zufolge schien sein Arbeitgeber stets zufrieden gewesen zu sein. Kittel alias Krause war für die Organisation und Verwaltung von zivilen Einsätzen der NVA-Soldaten zuständig, etwa wenn sie bei der Ernte oder in Großbetrieben aushalfen. Zwischen den offiziellen Papieren lagen Fotos von Betriebsfeiern und Ehrungen. Sie zeigten einen groß gewachsenen, etwas feisten Mann mit Stirnglatze, der freundlich in die Kamera lächelte.
Das biedere Dasein hatte mit dem Fall der Mauer ein Ende. Krause wurde zusammen mit der NVA abgewickelt, verlor seinen Arbeitsplatz und ging vorzeitig in Rente. Er zog in den Westen, mietete sich 1995 eine Wohnung in der Nähe von Kaufbeuren.
Drei Jahre später erlitt er einen Schlaganfall und kam ins Heim nach Füssen.
Ein komplettes Leben in einem einzigen Briefumschlag. Das ist also, was von einem übrig bleibt, dachte Oli. Sie wollte die Dokumente wieder zurückstecken, als ihr ein kleines Notizheft in die Hände fiel, auf das mit schwarzem Stift ein Kreuz gemalt worden war. Mit klopfendem Herzen schlug Oli die Seiten auf. Die mit Bleistift geschriebenen Notizen ließen ihr den Atem stocken. Vor ihr lagen die Mordpläne an den Menschen, die Kittels Familie auf dem Gewissen hatten. Kittel musste seine Opfer über längere Zeit beschattet haben. Er hatte alle ihre Eigenheiten und Vorlieben im Telegrammstil notiert.
Wie intensiv soll eine Zeitung über den NPD-Wahlkampf berichten? (Leser fragen)
„Wo waren Sie, als der berüchtigte Thorsten Heise auf dem zentralen Obermarkt der Stadt Mühlhausen auf Stimmenfang ging?“, fragt eine Leserin den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine und bedauert, dass – obwohl durch Bürger informiert – „niemand zur Berichterstattung erschienen ist“.
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue:
Wir wussten in der Tat, dass die NPD praktisch vor den Türen unserer Lokalredaktion Wahlkampf führte. Aber wir haben bewusst auf eine Berichterstattung verzichtet – aus drei Gründen:
1. Eine Fülle von Parteien und Wählervereinigungen trat zu den Wahlen am 25. Mai an. Wir haben alle kurz vorgestellt, auch die NPD und ihre Kandidaten. Dies ist in der Redaktion durchaus umstritten, aber unser Pressekodex, die Berufsethik der Journalisten, mahnt gleich in Ziffer 1 „zur wahrhaften Unterrichtung der Öffentlichkeit“ und noch konkreter in einer Richtlinie:
„Zur wahrhaften Unterrichtung der Öffentlichkeit gehört, dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet,die sie selbst nicht teilt.“
Dies bedeutet aber nicht, dass wir über jeden Auftritt einer Splitterpartei berichten müssen.
2. Wir haben niemals zuvor so intensiv über eine Wahl berichtet wie über diese Kommunalwahl: Einige tausend Kandidaten, etliche Programme und viele Reportagen über den Wahlkampf kamen in die TA, dazu luden wir zu Diskussionen ein.
Auf Hunderten von Seiten konnten sich unsere Leser informieren. Für manche Politiker war dies zu wenig, für die Mehrheit unserer Leser aber genau das richtige Maß: Die Wahlbeteiligung ist jedenfalls spürbar gestiegen.
3. Unter Werbe-Strategen gilt der Satz: Hauptsache, mein Kandidat und meine Partei wird beachtet! Auch eine negative Werbung kann eine Werbung sein – besonders für eine radikale Partei, die sich gerne als verfolgte und unterdrückte stilisiert.
Das Programm der NPD ist eindeutig: Sie will die Demokratie zerstören und die Pressefreiheit gleich mit. Kämen die Neonazis an die Macht, wäre eine Wahlberichterstattung wie zum 25. Mai nicht mehr möglich.
Bei aller Toleranz gegenüber intoleranten Feinden der Freiheit: Worüber sollen wir also berichten, wenn ein mehrfach vorbestrafter Neonazi spricht?
Das bedeutet nicht, dass wir die Feinde der Demokratie nicht aufmerksam beobachten. Wir bleiben wachsam, aber halten es mit dem Politikwissenschaftler Jesse: Der warnte am Mittwoch in unserer Zeitung, die NPD wichtiger zu machen, als sie ist.
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Thüringer Allgemeine 31. Mai 2014
Redaktionen und ihre Angst vor Wahlen: Eine Typologie von Lokalchefs
Es gibt immer noch Lokalredaktionen, die zählen erst die Wochen, dann die Tage bis zur Wahl – mit dem Seufzer: „Noch zwei Tage, dann ist es endlich vorbei!“ Vorbei der Ärger mit Politikern, mit Lesern, mit Erbsen- und Zeilenzählern, mit dem Chefredakteur.
Allerdings sind Lokalredaktionen, die zählen, mittlerweile in der Minderheit. Die meisten sehen eine Wahl, vor allem in den Städten, Dörfern und Kreisen, als politischen Höhepunkt an, im besten Fall sogar als Hochfest der Demokratie.
Wie berichten Lokalchefs vor den Wahlen? Es gibt vier Typen von Lokalchefs:
1. Der Verweigerer
Wahlen sind Sache der „Politik“; „die Politik ist gefordert“ – er meint das Ressort, aber auch das Leitartikel-Lieblingswort, den Überbegriff für alles Schlimme in unserem Land.
2. Der Pflichtbewusste
Er berichtet über jeden Auftritt der Größen aus Berlin und dem Land, reiht Bericht an Bericht, wiederholt deren Wiederholungen, nutzt ungemein ökonomisch Textbausteine – alles nach der Devise: Gestern hat es Frau Merkel auch in Castrop-Rauxel gesagt. Aber er ist fair, behandelt alle gleich.
3. Der Reporter
Er schreibt die Reportagen über die Wahlauftritte, beobachtet genau, etwa: Sigmar Gabriel, gerade Vater geworden, hatte sich wieder seine knallrote Krawatte umgebunden, als er beschwingten Schrittes die Bühne auf dem Marktplatz in Hückeswagen eroberte, aber wer genau hinschaute, der entdeckte einen kleinen gelben Flecken, offenbar vom Babybrei, den der Vater…
4. Der Karrierist
Er versucht alles, am liebsten mit Hilfe der heimischen Abgeordneten, ein 5-Minuten-Interview der Prominenz zu bekommen – damit auch die Leser in Heidelberg aus erster Hand erfahren, welche Strategie die Merkel für Brüssel hat. Wenn es einige Male gelungen ist, hofft er, dass das Politik-Ressort ihn entdeckt – „Ich steige auf!“ – und er vielleicht doch noch Chefredakteur wird.
Europawahl-Parteiprogramme: AfD am unverständlichsten, SPD mit 87-Wörter-Bandwort-Satz (Friedhof der Wörter)
Warum gehen wahrscheinlich nur relativ wenige Bürger zur Europawahl? Weil sie nicht verstehen können, was die Parteien in Brüssel verändern wollen. Die Programme der Parteien sind jedenfalls, wenn es um die Verständlichkeit geht, eine Zumutung – auch wenn im Vergleich von drei Jahrzehnten die aktuellen Programme noch zu den verständlichsten gehören. Zu diesem Urteil kommen die Sprachforscher der Universität Hohenheim um Professor Frank Brettschneider.
Offenbar gehen die Wahlstrategen der Parteien davon aus, dass ihre Programme kaum gelesen werden; oder sie interessieren sich hochmütig nicht dafür, dass sie ihre Wähler in die Verzweiflung treiben mit solchen Begriffen:
> Drug Checking (Linke),
> Transition-Town-Bewegung (Grüne),
> Umsatzsteuerkarusellbetrug (CDU),
> konfiskatorische Staatseingriffe (AfD)
> Subsidiaritäts-Instrumentarium (FDP)
> one man, one vote (CSU)
Das unverständlichste Programm liefert die AfD, die angetreten war, alles besser zu machen als die etablierten Parteien. Alle liefern neben unverständlichen Wörtern auch Sätze mit ungezählten Bandwortsätzen bis zu 50 Wörtern und mehr.
Und wer holte die Europa-Bandwort-Krone? Den längsten Satz finden wir im Wahlprogramm der SPD:
Das Europa derjenigen, die sich mit Energie und Kraft für Frieden und Menschenrechte einsetzen, die ohne Wenn und Aber für gesundes und sauberes Wachstum, gute Arbeit und starke soziale Rechte sind, die sich mit Empörung gegen die Dominanz der Finanzmärkte aussprechen, die sich an Entscheidungen in Europa beteiligen wollen und ihre Stimme zur Geltung bringen wollen, die bei den schrecklichen Fernsehbildern von verzweifelten Flüchtlingen an Europas Grenzen nicht die Augen verschließen, und diejenigen, die in der Europäischen Zusammenarbeit die einzige realistische Chance sehen, all dies zu verwirklichen.
Ein Ungetüm mit 87 Wörtern verstößt gegen die einfache Regel der Verständlichkeit: 20 Wörter reichen!
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Eine redigierte Version in der Thüringer Allgemeine 26. Mai 2014 (Kolumne: Friedhof der Wörter)
Selbstverständnis eines Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Bilder?
„Luther schaute dem Volk auf’s Maul, aber er redete ihm nicht nach dem Mund.“ Diese Einsicht des Braunschweiger Dompredigers ist auch eine sinnvolle für Journalisten, die ihre Leser ernst nehmen. Als Beispiel führt der Domprediger, mit dem ich ein langes Interview führte, ein Erlebnis aus Äthiopien an, wo er noch zu Kaisers Zeiten als Vikar ein Jahr gearbeitet hatte.
Er predigte an Heiligabend in einem deutschen Bau-Camp, fünfhundert Kilometer von Addis entfernt:
„Weihnachten ist nicht wetterabhängig“, so habe ich angefangen. Natürlich waren alle mit ihren Gedanken irgendwie im Harz oder im Schwarzwald, eben in ihrer Heimat. Kein „Kling Glöckchen kling“, predigte ich, „aber wir wissen es besser: Weihnachten findet auch statt, wenn das übliche Ambiente nicht da ist.“ Ich habe die Leute daran erinnert, dass Weihnachten eigentlich aus solchen Verhältnissen wie in Äthiopien kommt.
Wie bekommst du geografisch existentielle Situationen zusammen mit biblischen Texten? Diese Frage hat mich lange beschäftigt. Viele der orientalischen Bilder, die es in der Bibel gibt, sind in Äthiopien oder Arabien leichter verstehbar als bei uns in Deutschland. Dort muss ich doch nicht erklären, was eine Oase ist. Dort muss ich doch nicht erklären: Der Herr ist mein Hirte.
Wo Hirten und Herden zum täglichen Straßenbild gehören, da sind biblische Bilder unmittelbar vor Augen. Du brauchst nur einen, der darauf hinweist, zeigt, dolmetscht, Zusammenhänge herstellt. Daran hatte ich immer Freude!
Für uns in Deutschland ist diese orientalische Bilderwelt eine fremde. Für uns ist sie kompliziert; deswegen haben sich auch Generationen von Predigern geflüchtet in philosophische und pseudo-philosophische Gedankenwelten.
So geht es auch einem Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Erfahrungen, ihre Bilder? Wie verbindest du deine Sicht der Welt, deinen journalistischen Anspruch, deine Erfahrungen mit denen deiner Leser? Der Lokaljournalist ist ein Dolmetscher, der Zusammenhänge herstellt, Welten verbindet.
Schaffst du diese Verbindung nicht, bleibst du abstrakt, blutleer – selbst wenn du ein Leben lang in einer Redaktion arbeitest. Mit dieser lutherischen Einsicht kann man auch achtmal in seinem Leben in eine andere Redaktion wechseln.
Noch einmal Luther: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund.
Journalisten und die deutsche Sprache: Gute Nacht! (Friedhof der Wörter)
Der Bundespresseball ist das, was wir in Deutschland einen gesellschaftlichen Höhepunkt nennen: Prominenz ohne Ende, Fotografen ohne Ende, Eintrittspreise ohne Ende (selbst wenn man nur flanieren möchte und auf einen Sitzplatz verzichtet). Er trägt allerdings, und das ist zu loben, einen schönen deutschen Namen: Presseball.
Thüringen ist zwar bodenständiger als die Hauptstadt, aber wollte auf so viel Glanz nicht verzichten: Der Landespresseball wurde wenige Jahre nach der Revolution gegründet mit weniger Prominenz, weniger Fotografen, weniger Tombola-Gewinnen und weniger Kosten für den Ball-Liebhaber. Für den Preis der teuersten Karte in Erfurt, mit Sitzplatz, bekommt man in Berlin gerade mal einen Parkplatz, naja.
Aber in diesem Jahr wollen es die Thüringer den Hauptstädtern mal zeigen – und geben dem Presseball einen neuen Namen. Und wenn der Thüringer so richtig aus der Haut fährt, wird’s fremdländisch: „Media Night“.
Ein „Facelift“ sei nötig gewesen, heißt es zur Begründung. Einem „Facelift“, also einer Entfernung der Falten im Gesicht, unterziehen sich gut betuchte amerikanische Damen, die ihr Alter verstecken wollen auf der Jagd nach faltenlosen Jünglingen.
Aber lassen wir unserer Sprache doch die Falten, sie stehen ihr gut und machen sie klug und weise. Wenn schon Journalisten der deutschen Sprache nicht mehr trauen und in modischer Verzückung zu Anglizismen flüchten, dann wird es langsam düster.
Da haben wir Journalisten die Bahn in unseren Kommentaren so lange verprügelt, bis sie reuig Besserung gelobte für den „Service Point“, den „Touch Point“ und die „City night line“. Und nun, da die Bahn wieder deutsch spricht, liften wir das Face und tanzen in die Media Night. Gute Nacht, kann ich da nur wünschen.
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