Wenn ein Sprachbild hinkt

Geschrieben am 31. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Angeregt durch nachwachsende Rohstoffe endet der SZ-Leitartikel über die Energiewende mit einem nachwachsenden Bein:

So steht die deutsche Energiewende nur auf einem Bein. Wächst das zweite Bein nicht bald nach, fällt sie irgendwann um.

Bum.

Quelle: SZ, 31. März 2014

In der FAZ ruft das Feuilleton „hü“ und die Wirtschaft „hott“

Geschrieben am 30. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Im Feuilleton kritisiert Schirrmacher massiv den ZDF-Heute-Moderator Kleber, wie er mit dem Siemens-Chef Kaeser umgesprungen sei (siehe meinen Blog: „Schirrmachers Philippika gegen Kleber“).

Auf der ersten Wirtschaftsseite derselben FAZ-Ausgabe kritisiert Holger Steltzner, auch ein Herausgeber, den Siemens-Chef Joe Kaeser – weil ihm im Kleber-Interview die richtigen Worte fehlten, „um das befremdliche Schauspiel dem deutschen Fernsehzuschauer zu erklären“.

Mit dem „befremdlichen Schauspiel“ meint Steltzner – anders als Schirrmacher – nicht das Kleber-Interview, sondern den Besuch von Kaeser im Kreml, wo er sich habe instrumentalisieren lassen und die „Figur einer Krämerseele“ gespielt.

Quelle: FAZ 28.3.2014, „Propaganda mit Bildern“

Ein guter Satz, eine tolle Reportage: Guardiola-Porträt in der SZ

Geschrieben am 30. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Ist dieser Zeitungs-Satz ein guter Satz:

Hermann Gerland, dem große Worte ansonsten so suspekt sind, wie Pep Guardiola rote Meistermützen suspekt sind, Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.

Variante 1 – Nach der reinen Stillehre hätte der Satz geteilt werden müssen:

Hermann Gerland sind große Worte ansonsten so suspekt wie Pep Guardiola rote Meistermützen. Hermann (oder: Dieser) Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.

Variante 2 – Eleganter wäre diese Teilung in zwei Hauptsätze:

Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“. Ansonsten sind Hermann Gerland große Worte so suspekt wie Pep Guardiola rote Meistermützen.

Trotzdem ist der Satz, wie er in der SZ-Reportage von Christoph Kneer steht, ein guter Satz. Dafür gibt es drei Gründe:

  • Wer nur Hauptsätze aneinander reiht, langweilt den Leser – erst recht in einer Reportage, die eben keine Nachricht ist, kein Bericht.
  • Eine Trennung der beiden Sätze durch ein Semikolon oder einen Gedankenstrich funktioniert nicht, weil beide Sätze eine starke, eine eigenständige Aussage enthalten. Allenfalls in der zweiten Variante wäre eine Semiokolon-Lösung denkbar.
  • Wenn ich aus zwei starken Aussagen, die dasselbe Subjekt haben (Hermann Gerland), einen Satz bilden will: Dann darf der eingeschobene Nebensatz maximal fünf bis sieben kurze Wörter enthalten (Drei-Sekunden-Regel). Umfasst er vierzehn Wörter wie in diesem Fall, dann muss ich das Subjekt noch einmal aufnehmen: „Hermann Gerland also…“
    Zum Glück verzichtet Christoph Kneer bei der zweiten Gerland-Nennung auf ein Synonym wie „Der Co-Trainer“; die Wiederholung des Namens erleichtert dem Leser die Einordnung („wer genau ist gemeint?“).

Der Zeitungsleser ist ein schneller Leser im Gegensatz zum Buchleser. Also steht die schnelle Verständlichkeit – also das Verstehen beim ersten Lesen – an erster Stelle. Deshalb ist der Trick der Wiederholung des Subjekts in diesem Fall nicht nur schön, sondern auch notwendig; und er ist sinnvoll, wenn ich den Co-Trainer Gerland besonders herausheben will.

Dagegen ist ein Komma überflüssig (vor: „wie Pep Guardiola“) ebenso wie die „suspekt sind“ am Endes des Nebensatzes:

Hermann Gerland, dem große Worte ansonsten so suspekt sind, wie Pep Guardiola rote Meistermützen suspekt sind, Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.

Christof Kneers Porträt des Bayern-Trainers ist ein lesenswertes Porträt, ja ein vorbildliches, geeignet für die Volontärs-Ausbildung:

> Der Autor nimmt zum Einstieg eine eher beiläufige, aber aktuelle Episode – wie das Auf- und Absetzen der roten Meistermütze – und beschreibt, wie typisch sie für den Porträtierten ist.
> Er lässt dann weitere Prominente auftauchen – van Gaal und Heynkes, Klopp und Neururer – und bindet so schon das Interesse des Lesers.
> Er vergleicht Guardiola mit anderen, hier den Vor-Vorgänger Louis van Gaal, und beschreibt die Unterschiede; er nimmt übrigens nicht den direkten Vorgänger Heynkes, weil der kaum Ecken hatte und für einen Vergleich nicht taugt.
> Er erzählt Episoden, die er selber erlebt hat oder aus zuverlässiger Quelle gehört hat (und die, wenn er sie erzählt, keine Gegendarstellung provozieren). Diese Episoden, wie die erste Begegnung mit Hoeneß, machen klar, wie Guardiola als Mensch und Trainer wirklich ist.
> Er erzählt auch von den dunklen Seiten des Menschen, aber beiläufig: „Natürlich kennen sie in München auch die anderen Geschichten…“. In sieben, nur sieben Zeilen geht es um Doping, Katar-Lobbyist, Bespitzeln. Daraus hätte andere eine ganze Reportage gebastelt.
> Er nutzt noch einen Vergleich: Trainer in Spanien und Deutschland (Klopp und Neururer), Barcelona und München. Vergleiche sind besser als jede Beschreibung.
> Er beginnt die Reportage mit einem aktuellen Ereignis – dem Meisterspiel in Berlin – und endet mit der Vorschau auf das letzte Spiel. Eine tolle Szene mit vielen Anspielungen, die nur versteht, wer die Reportage gelesen hat, ein gelungener letzter Satz:

Am letzten Spieltag, wenn die Meisterschale überreicht wird, werden die Spieler ihren Mister mit Bier überschütten, und Kathleen Krüger, die Frau fürs Drumherum, muss ihm einen neuen Anzug bringen.

Quelle: Süddeutsche 29. März 2014, Seite 3 „Kunstrasen“

Schirrmachers Philippika gegen Kleber und der Unsinn des Echtzeit-Journalismus

Geschrieben am 29. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Ist Claus Kleber, der ZDF-Moderator, ein Strafrichter? Ein Inquisitor? Vaterlands-Rhetoriker? Journalistischer Übermensch? Kurzum: einfach nur peinlich? Einer, für den sich andere Journalisten schämen müssen?

Worum geht es? Claus Kleber führte im Heute-Journal ein Interview mit dem Siemens-Vorstandschef Kaeser, der während der Krim-Krise zu Putin nach Moskau gefahren ist. Nun misslingt den ZDF-Moderatoren manch Interview: Ist der Ehrgeiz übermächtig, durch freche Fragen in den journalistischen Olymp einzufahren? Oder wollen sie allen Kritikern, inklusive des Verfassungsgerichts, beweisen, dass sie frei und objektiv und ohne Ansehen der Person berichten und recherchieren?

Marietta Slomka versuchte vor einigen Wochen Sigmar Gabriel aufs Glatteis zu führen, sagen wir zurückhaltend: eher tapsig als investigativ (darüber gab’s in diesem Blog einen Beitrag). Gabriel wusste sich zu wehren.

Der Siemens-Chef wusste nicht, wie er sich wehren sollte. So geriet ein harmloses Interview zu einem misslungenen Interview, das man Volontären zu Übungszwecken lieber nicht zeigen sollte – es sei denn in pädagogischer Absicht: So nicht! Zu Übungszwecken geeignet ist die nachrichtliche Zusammenfassung des Interviews im ZDF-Online-Auftritt – als wäre nichts geschehen.

FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat sich offenbar derart über das Interview geärgert, dass er eine Philippika, eben: Inquisitor usw., gegen den ZDF-Mann hielt. Darf man sie maßlos nennen? Eine „Sternstunde der Selbstinszenierung des Journalismus“?

Schirrmachers „Strafgericht“ reiht sich ein in eine endlose Folge von Journalisten-Demütigungen, die wir oft auf den Medien-Seiten ertragen müssen und die das staunende Publikum zur Überzeugung bringen: Journalisten, das ist ein einziger Klub von Fälschern, Manipulatoren und Idioten (Medienjournalisten ausgenommen); die guten kommen meist nur in Nachrufen vor.

Wenn ein nachdenklicher Journalist, einer der besten der Zunft wie Frank Schirrmacher, die Keule schwingt, lohnt ein genauer Blick auf Motive und Argumente. Der Vorspann des FAZ-Artikels verrät das Motiv: Am Beispiel der Krim-Krise zeigt Schirrmacher die Gefahren des Echtzeit-Journalismus auf.

Offenbar beim Schreiben des Essays schaut Schirrmacher Kleber zu und ärgert sich zuerst über seine Fragen: Er, Schirrmacher, hätte andere gestellt, in der Tat bessere. Dann ärgert er sich über den Mann, der ein Journalist ist wie er: Da fährt offenbar der Schrecken in seine Glieder und leider auch in den Kopf. Und schließlich schlägt er eine Brücke zu seinem Thema, das ihn gerade umtreibt: Glanz und Elend des Echtzeit-Journalismus.

Fünf lange Absätze, mehr als ein Drittel des gesamten Essays, drischt Schirrmacher auf den Kleber ein – um dann festzustellen: „Es nutzt gar nichts, Klebers High Noon inhaltlich zu debattieren“ – noch einmal: Nach fast siebzig Zeilen Debatte um Inhalt und Person. „Der Nachrichtenwert ist gleich null“, schreibt Schirrmacher. In der Tat.

Der Sprung von der Kleber-Kritik zum Echtzeit-Journalismus ist hart, geradezu abenteuerlich. Als der EDV-Fachbegriff „Echtzeit“ bei Journalisten noch „Direkt“ oder später „Live“ hieß, interviewten Moderatoren schon mächtige oder einfach prominente Leute und sendeten es sofort. Das erleben wir seit, sagen wir: einem halben Jahrhundert. Peinlich war da auch manches, vor allem in den Interviews mit Fußballern und Trainern – die sich auch nicht zu wehren wussten, aber treue Fans hatten, die jeden Unsinn schätzten und offenbar immer noch schätzen.

Das hat sich nicht „formal“, wie Schirrmacher es nennt, geändert, sondern atmosphärisch: Früher war das Fernsehen seriöser, liefen Gespräche ab wie in Höfers „Internationalem Frühschoppen“ am Sonntagmittag. Das änderte sich mit dem Privatfernsehen, das amerikanische Formate übernahm und Promis auf heiße Stühle setzte (dagegen ist heute Kleber geradezu erfrischend harmlos); das Internet samt Twitter und anderen Echtzeit-Hektikern spielte keine Rolle.

Zudem geriet der Journalismus in eine Identitäts-Krise. Viele wollten nur noch kritisch, super-kritisch und investigativ sein: Wallraff wurde zum Supermann stilisiert und zum Vorbild für Generationen von Volontären. Die meisten konnten es nicht, hatten weder die Fähigkeiten für eine tiefe Recherche noch die Geduld wie die Watergate-Helden; sie wählten und wählen als Ersatz das Überfall-Interview mit vielen geschlossenen Fragen: Sagen Sie einfach Ja oder Nein! Interviews waren oft, zu oft mehr Demagogie als Aufklärung, mehr Mission als Journalismus.

Die „permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus tickt“ – die Schirrmacher entdeckt -, ist nicht neu; sie ist eine Entdeckung der Achtundsechziger-Generation. Was neu ist: Erstens die Geschwindigkeit, das Rasen des Herzens; zweitens die Fülle, denn irgendwo auf der Welt erregt sich immer etwas – und wir erfahren es sofort.

Schirrmacher zitiert Karl Kraus, und der schrieb’s vor knapp einem Jahrhundert: Massenmedien lancieren alles gleich, Operette oder Krieg; das ist ihr Kennzeichen. Nur haben wir heute mehr Masse als Medien.

Was Schirrmacher umtreibt, treibt viele nachdenkliche Journalisten um: Was setzen wir der Hektik der Nachrichten entgegen, die unrecherchiert um die Welt jagen? Ich hätte gern ein Plädoyer für nachdenklichen Journalismus gelesen, für nachdenkliche Journalisten, die sich Zeit lassen. Ich hätte gern ein Plädoyer für die Zeitung gelesen – und gerne erfahren, wie sich Schirrmacher einen Journalismus vorstellt, der nachdenklich ist und gleichzeitig Massen erreicht, auf jeden Fall mehr als die Hälfte der Wahlbevölkerung.

Über die „neue automatisierte Medienökonomie“ zu jammern, so es sie überhaupt gibt, hilft so wenig, wie die Klebers dieser Welt zu verachten. Übrigens kritisiert dieselbe FAZ die ARD und das ZDF, wenn sie statt Direkt-Übertragungen vom Maidan oder anderen Schauplätzen lieber im vorherbestimmten Programm bleibt und die Redakteure nachdenken lässt bis zum nächsten Brennpunkt.

Im letzten Satz fordert Schirrmacher „Entschleunigung“ und im vorletzten: Rationalität. Nur bitte: Wie?

Quelle: FAZ 28.3.2014 „Dr. Seltsam ist heute online“ (Feuilleton)

Auf der Suche nach schönen Wörtern: Bauchgefühl-Demokratie

Geschrieben am 29. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Bauchgefühl-Demokratie

Ein schönes neues Wort, erdacht von  Guenter Hack @guenterhack

 

Flugzeug-Absturz vor Gran Canaria: Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie

Geschrieben am 28. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Eigentlich gilt in Agenturen die Regel: Jede Nachricht, erst recht eine brisante, muss durch zwei unabhängige Quellen bestätigt werden. Diese Regel einzuhalten, braucht Nerven und Geduld im hektischen Echtzeit-Journalismus und in der Twitter-Anarchie.

Was passierte im Newsroom von dpa am Donnerstag kurz nach 16 Uhr? Eine Meldung der spanischen dpa-Partneragentur EFE ging ein: Der Rettungsdienst der Kanaren, unterstellt der Regionalregierung, gab bekannt, ein Passagierflugzeug sei ins Meer gestürzt; der Rettungsdienst rief alle verfügbaren Kräfte zum Einsatz auf.

Um 16.11 Uhr veröffentlichte dpa die Eilmeldung und berief sich als Quelle auf den Rettungsdienst.

Warum reichte für diese Eilmeldung eine Quelle? Für dpa-Nachrichtenchef Jens Dudziak – wie auch für andere Nachrichtenagenturen – reichte die offizielle Information einer Behörde. Das entspricht laut Dudziak den dpa-internen Standards: „Solange keine akuten Zweifel an amtlichen Erklärungen aufkommen, dürfen dpa-Journalisten diesen vertrauen.“

Nach der Eilmeldung ging im Newsroom die Recherche nach weiteren Quellen und Fakten weiter. Jens Dudziak:

Knapp 20 Minuten nach Auslösung des Alarms veröffentlichte die Flughafenbehörde AENA die Mitteilung, dass kein Flugzeug abgestürzt sei. Die Behörde, die dem spanischen Verkehrsministerium unterstellt ist, erklärte, sie habe nach der Auslösung des Alarms durch den Rettungsdienst das übliche Krisenprotokoll eingeleitet. Dabei sei festgestellt worden, dass kein Flugzeug abgestürzt sei. Bei dpa lief die Meldung über den falschen Alarm um 16:33 Uhr unter Berufung auf die AENA.

Offenbar spielte für dpa das Foto keine Rolle, das einen Lastkahn auf dem Meer zeigte, ähnlich einem ins Meer stürzenden Flugzeug.

Hat dpa professionell entschieden? Offenbar ja. Gleichwohl zeigt der Absturz, der keiner war, wie schwierig Entscheidungen für Agenturen werden – die vor allem für die Seriosität von Informationen stehen; dennoch verlangen vor allem Rundfunk- und die Online-Redaktionen eine Aktualität, die sich mit der Twitter- und SMS-Hektik misst. Die Arbeit im Newsroom wird immer schwieriger.

Flugzeugabsturz: Auch dpa fiel auf Falschmeldung rein

Geschrieben am 28. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Zu diesem Beitrag gibt es einen neuen Blog mit zusätzlichen, zum Teil korrigierenden Informationen: „Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie“.

**

16.12 Uhr: Flugzeug bei Gran Canaria ins Meer gestürzt.

16.35 Uhr: Flughafenbehörde: Angeblicher Absturz bei Gran Canaria falscher Alarm

Zwei Meldungen der dpa am 27. März 2014: In nicht einmal zwanzig Minuten taucht ein Flugzeug wieder auf und fliegt weiter. In dieser Zeit huschten Tausende von Tweets über die Bildschirme: aufgeregt und falsch. „Da sieht man mal, wie Redaktionen voneinander abschreiben“, twitterte einer. Ein Spanier folgte: „Viva la republica bananera!!“ Auch wenn man der Fremdsprachen nicht sicher ist, ahnt man, was der Spruch bedeuten soll.

Die 20-Minuten-Aufregung zeigt die Kehrseite der schnellen Welt: Aktualität ist gut, aber Wahrheit ist besser. Im Handbuch des Journalismus zitieren wir im Kapitel 19 „Nachrichtenagenturen“ die oberste Regel:

Be first, but first be right.

Ausgelöst hat die Falschmeldung offenbar ein Foto, das einen Schleppkahn zeigt, der wie ein Flugzeug aussieht, das gerade ins Meer stürzt.

Verfassungsgericht geht nicht weit genug: Alle Politiker müssen raus aus den ZDF- und ARD-Gremien

Geschrieben am 26. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Staat darf sich die Medien nicht zur Beute machen. Er darf weder in die Redaktionen des MDR hineinregieren noch in die Redaktion einer Zeitung. So bestimmt es unsere Verfassung. In Artikel 5 reichen fünf Wörter aus, um die Pressefreiheit zu garantieren: „Eine Zensur findet nicht statt.“

„Zensur“ bedeutet in unserer Verfassung: Der Staat darf vorab weder kontrollieren noch bestimmen, was der MDR senden will und die TA drucken. Diese Freiheit gab es – beispielsweise – nicht für Redaktionen in der DDR. Das Zentralkomitee der Partei rief jeden Tag in den großen Redaktionen an und bestimmte, was berichtet wird, wie berichtet wird und welche Sätze in den Kommentaren zu stehen hatten.

Ansagen gab es auch für die Lokalredaktionen. „Meine Meinung kommt um zwei Uhr aus Berlin!“, witzelten die Redakteure, die bisweilen kuriose Anweisungen zu befolgen hatten wie „Keine Rezepte mit Haselnuss vor Weihnachten veröffentlichen!“ Hintergrund war ein Versorgungs-Engpass.

Bei einer Zeitungsredaktion rufen gerne auch Minister und andere Politiker an, manchmal erregt, manchmal fordernd; andere rufen nie an, verweigern jede Auskunft und zeigen so ihre Missbilligung einer freien Presse, die sie gerne ein bisschen unfreier hätten. Poltern wie schweigen – alles bleibt wirkungslos.

Das ist bei Rundfunk und Fernsehen anders: Politiker üben einen starken Einfluss aus. Wenn der Regierungssprecher zu einer Reise mit der Ministerpräsidentin einlädt und eine Absage bekommt, dann rutscht ihm schon mal ein Satz raus wie: „Das ist nicht schlimm. Wir nehmen ja den MDR mit.“

Nun arbeiten in TV- wie in Zeitungsredaktionen selbstbewusste Journalisten, die auf Unabhängigkeit großen Wert legen. Aber sie haben es bei ARD und ZDF schwerer: Dort sitzen Politiker in Gremien, die sie und ihre Arbeit kontrollieren.

Der Anruf eines Ministers oder der wöchentliche Telefon-Termin mit der Staatskanzlei hinterlässt schon tiefe Spuren: Bei politischen Berichten sitzt schnell die Unsicherheit im Nacken, manchmal schon die Angst.

Das Verfassungsgericht hat die Nöte der Redakteure und die Gefahr für die Demokratie erkannt. Es begrenzt den Einfluss der Politiker. Ob das reicht?

Einem Verfassungsrichter geht die Entscheidung nicht weit genug: Er will die Politiker komplett verbannen. Er hat Recht – auch mit der Befürchtung: Das Versprechen eines staatsfernen Fernsehen bleibt weiter unerfüllt.

(erweiterte Fassung eines Leitartikels der Thüringer Allgemeine, 27. März 2014)

FACEBOOK von Thomas Platt (27.43.):

Dass es in einem freien Land Staatsfernsehen gibt – noch dazu in schockierendem Ausmass -, das ist der Skandal.

Politiker als attraktives Freiwild für Journalistinnen – im neuen Wickert-Krimi

Geschrieben am 24. März 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 24. März 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Francoise Giroud, die Mitbegründerin des Wochenmagazins L’Express und überzeugte Feministin, hatte schon vor vierzig Jahren ganz bewusst junge, schöne Journalistinnen angestellt, um sie auf Politiker anzusetzen.
Voraussetzung: Minirockfigur.
Motto: Auf den Kopfkissen erfahrt ihr alles.

Ulrich Wickert, Ex-Tagesthemen-Moderator, erzählt in seinem neuen, wieder lesenswerten Paris-Krimi, „dass Politiker, je höher sie steigen, immer attraktiveres Freiwild für Journalistinnen werden“. Im Kapitel „Die Amazonen der Republik“ zählt er auf:

> Anne Fulda vom Figaro, die sich Innenminister Nicolas Sarkozy angelte;
> Die „äußerst attraktive“ Laurence Ferrari zog zum Interview mit Sarkozy eine tief ausgeschnittene Bluse an – „und schon war es um ihn geschehen“;
> Valerie Trierweiler von Parris-Match bandelte mit Francois Hollande an.
> Michele Cotta erfuhr viele politische Geheimnisse auf dem Kopfkissen von Jacque Chirac und Francois Mitterand – und moderierte ein Fernsehduell zwischen dem aktuellen und dem abgelegten Liebhaber.

Berlin ist wohl nicht Paris – die Stadt, wo man es laut Wickert mit dem Sex nicht so genau nimmt.

Quelle:
Ulrich Wickert: Das marokkanische Mädchen. Hoffmann und Campe, 318 Seiten, 19.99 €

Wann ist der „Scheißtag“? Ein Besuch in der Sprache von Schlampatatsch und Karfiol (Der Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. März 2014 von Paul-Josef Raue.
2 Kommentare / Geschrieben am 23. März 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

„Sie sprechen ja ein verrostetes Deutsch!“ So schüttelten die Lehrlinge den Kopf, als Eduard Seifert vor sechzig Jahren seine Berufsausbildung in Tschechien begann. Dabei war er  Klassenbester in Deutsch gewesen.

Wenn die Herrschaft wechselt, wechselt auch die Sprache – aber nie so vollkommen wie das Personal auf den Polsterstühlen der Mächtigen. In Reichenberg wuchs Eduard Seifert auf: Seine Eltern waren kaiserlich und königlich erzogen. Im großen  Reich der Wiener Monarchie  sprachen sie  deutsch mit österreichischem Einschlag.

Eduard Seiferts Geburtsurkunde ist zweisprachig, denn in der neu gegründeten Tschechoslowakei achtete man zwei Sprachen. Auch als Nazi-Deutschland 1938 für knapp sieben Jahren das Land eroberte, blieb die gemischte Sprache:  Deutsch mit tschechischen und österreichischen Einsprengsel.

„Den Klang dieser Sprache habe ich  ein ganzes Leben im Ohr,“ sagt Eduard Seifert, der nach seiner Vertreibung in Mecklenburg wohnte und seit sechzig Jahre in Großlohra, im Norden Thüringens. Er hatte bisweilen  das Europaparlament in Straßburg und Brüssel besucht,  wenn es um die Landwirtschaft ging: Dann hatte er stets die österreichische und nicht die deutsche Übersetzung auf den Kopfhörer geschaltet.

Er freute sich, wenn er die Wörter seiner Jugend hörte:  „Karfiol macht doch den Blumenkohl viel schmackhafter und Ribisln schmecken sprachlich viel besser als Johannisbeeren.“ 91 Seiten stark ist das  „Österreichisch – Deutsche Wörterbuch“, das er vor kurzem gekauft hat. 

Darin blätterte er, als er in der Kolumne der vergangenen Woche von der „Schlampenschleuder“ las; das Wort fehlt im Wörterbuch. „Ich  müsste es hinter „Schlampatatsch“ einordnen. Das ist ein für  deutsche Zunge etwas schwer auszusprechendes Wort und wird deshalb von meiner Frau mir gegenüber auch nur seltener als nötig gebraucht.“

Ein „Schlampatatsch“ ist ein „Mensch mit mäßig ausgeprägtem Ordnungssinn“. Und noch ein Wort fällt Eduart Seifert ein, das ich nicht mehr auf dem Friedhof beerdigen möchte – weil ich jetzt die österreichische Bedeutung kenne:

Der Scheißtag ist der 29. Dezember: An diesem Tag mussten die  Dienstboten das nacharbeiten, was sie während des Jahres an Zeit durch Verrichten der Notdurft versäumt hatten. „Glückliches Österreich!“, kommentiert Eduard Seifert.

 
 

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