Die Astronautenperspektive ist die beste für einen Journalisten

Geschrieben am 9. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Wichtig war mir, nicht zu werten. Ich versuche beim Schreiben, die Astronautenperspektive einzunehmen: So weit wie möglich weg, erst dann sieht man, dass die Erde eine Kugel ist. Danach nähere ich mich wieder an, doch weiterhin mit dieser Erfahrung des Abstands. Dann kann man differenzieren.

Frank Schätzing, dessen neues Buch „Breaking News“ zum Palästina-Konflikt eine Startauflage von einer halben Millionen hat (Quelle: FAZ, 1.3.2014).

Diese Astronautenperspektive ist auch Journalisten zu empfehlen. In den ersten Auflagen des Handbuch des Journalismus zählten wir zu einer der vier Spielarten des bedenklichen Journalismus den „missionarischen Journalismus“, also Journalisten, die ihren Blick auf die Welt als den einzig gültigen halten: Die Erde ist eine Scheibe. Wir zitierten Johannes Gross, einst Capital-Chefredakteur und Gruner+Jahr-Vorstand:

Der Journalist hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten. Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.

Damit wir nicht missverstanden werden: Dass ein Journalist seine Meinung formuliert und deutlich als Meinung markiert, gehört selbstverständlich dazu.

Wolf Schneider zum Frauentag: „Der Inbegriff aller Weiblichkeit ist immer noch sächlich: das Weib“

Geschrieben am 8. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Gender-Sprache führt zu einer „lächerlichen Verumständlichung“ des Deutschen, so berichtet die evangelische Nachrichtenagentur idea über einen Vortrag Wolf Schneiders beim Christlichen Medienkongress im Januar. Dort bekamen bibeltreue Christen zu hören, was Schneider beim „Luther-Disput“ in Erfurt am 4. Advent schon ausgeführt hatte: Alice Schwarzer und ein kleiner Klüngel von Feministinnen fühlen sich durch die Sprache diskriminiert; das ist aber töricht, denn das natürliche Geschlecht hat nichts mit dem grammatikalischen Geschlecht zu tun. „Der Inbegriff aller Weiblichkeit ist immer noch sächlich: das Weib.“

Beim Medienkongress ermahnt Schneider laut idea Pfarrer und Journalisten: Nehmt Euch ein Beispiel an Luther! Auch wenn Luthers klare Sprache unmöglich zu übertreffen sei, bleibe die Frage: „Muss die Mehrheit der Würdenträger so weit dahinter zurückbleiben, wie ich es hundertfach erlebe.“ Unverständlichkeit gelte inzwischen als Nachweis von Wissenschaftlichkeit gelte. Wenn Bischöfe von „Apostolizität“ sprächen, von „kybernetisch-missionarischer Kompetenz“ oder „situationsbezogener Flexibilität“, dann nutzten sie Wörter, „vor denen es einer Sau graust“. Wörter, die nur fünf Prozent der Deutschen verstünden, seien akademischer Hochmut und „die Pest“.

Schneiders Rat an Prediger und Journalisten:

> Lest täglich in der Lutherbibel!
> Nutzt kurze, konkrete und saftige Wörter!
> Schreibt schlanke und transparente Sätze!
> Sprecht Wörter mit wenigen Silben, denn alle großen Gefühle sind Einsilber wie Hass, Neid, Gier, Qual, Glück oder Lust! „Viersilbige große Gefühle gibt es nicht!“

Wer dagegen verstoßen wolle, dem rät Schneider: „Ehe Sie in einer Predigt fünf Silben verwenden, machen Sie fünf Liegestütze!“

Wer die deutsche Sprache loben und Anglizismen meiden möchte, den erinnert Schneider: Deutsch steht immer noch auf Platz vier der am meisten gelernten Sprachen weltweit – nach Englisch, Spanisch und Chinesisch.

Unwörter zum Frauentag: Glucken und Latte-macciato-Mütter

Geschrieben am 8. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Welche Wörter sollten wir Frauen nie anhaften? Von Dinkelkeksen und Röhrenjeans erzählen die
Unwörter, die Redakteure der FAZ aufgespießt haben:

Glucken ist das Unwort für Mütter, die sich nur um ihre Kinder kümmern und sie niemals in eine staatliche oder kirchliche Einrichtung schicken. Die FAZ-Journalisten beweisen mit einem ironischen Schlenker, das sie Glucken nicht sonderlich schätzen:

„Verabscheut Fertiggläschen, lässt sich jedes Jahr zur Elternsprecherin wählen und fährt ihre Kinder auch noch mit 16 zum Klavierunterricht. Rächt sich für Lästereien von Rabenmüttern mit selbstgebackenen Apfelkleie-Dinkelkeksen.“

Rabenmütter sind schon erwähnt, sie sind das genaue Gegenteil der Glucken: Kaum aus der Entbindungs-Klinik entlassen sitzen sie schon wieder im Büro, machen Karriere und schauen sich allenfalls mal Fernsehfilme an, in denen Kommissarinnen, meist alleinerziehend, einen Mörder laufen lassen, um ihr hustendes Kind aus dem Hort abzuholen.

Latte-macciato-Mutter ist mit Sicherheit eine westdeutsche Wortschöpfung, die Leute im Osten gar nicht erst einführen sollten:

„Großstädterin mit Kleinkind, 1000-Euro-Kinderwagen und Röhrenjeans, die ihre Elternzeit mit ihren Freundinnen (auch mit Kleinkind, teurem Kinderwagen – mit Kaffeehalter – und knallengen Hosen) milchkaffeetrinkend in angesagten Cafes verbringen.“

Offenbar sind Milchkaffee-Frauen für die FAZ-Journalisten nicht nur Unwort-Verdächtige. Sie leben entweder mit ihnen zusammen oder kennen sie von Einladungen bei Kollegen, diese Frauen, „die auf Kosten des Staates und ihres (meist gutverdienenden) Mannes ein vermeintlich schönes Leben führen“.

Quelle: FAZ vom 1. März (Wirtschafts-Teil!) / Ergänzt wird die Unwörter-Liste durch:

> All-Nighter (Leute, die die Nacht durcharbeiten und bisweilen den Morgen nicht mehr erleben)
> Herdprämie („Ungefähr so sinnvoll, als würde man Fahrradfahrern dafür Geld geben, dass sie keine Autobahnen benutzen“)
> Nine-to-five-Job („Inbegriff der beruflichen Langeweile“)
> Vollzeitvater („Dreht das klassische Geschlechtermodell um: Nun ist er es, der sich beschwert, warum in Teilzeit keine Karriere möglich ist“).

Wer ergänzt die Liste der weiblichen Unwörter?

Redigierte und erweiterte Kolumne „Friedhof der Wörter“, Thüringer Allgemeine 10. März 2014

Wie viel Leser-Meinung verträgt eine Zeitung im Osten? Oder: Wer sehnt sich nach der DDR zurück?

Geschrieben am 1. März 2014 von Paul-Josef Raue.

In der Thüringer Allgemeine erschien am 24. Februar 2014 auf der Leser-Seite ein großer Beitrag eines Lesers aus Erfurt, der sich „gerne und dankbar“ an seinen beruflichen Werdegang in der DDR. Er endete mit den Worten: „Ich bereue nichts.“

Mit leisem Humor reagiert darauf ein anderer Leser:
„Aus Versehen habe ich heute wohl eine Ausgabe ,Das Volk‘ vom 24.2.1984 mit dem Leserbrief vom Genossen Otto Semmler erhalten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die TA-Ausgabe von heute nachsenden würden.“

In der Samstagausgabe reagiert Chefredakteur Paul-Josef Raue in seiner Kolumne so:

Ich mag solch feine Ironie, auch wenn sie nicht für jeden verständlich sein wird. In der Tat mutet der Leser-Beitrag an wie ein Text aus längst vergangenen Zeiten – als unsere Zeitung „Das Volk“ hieß und den Verfassungs-Auftrag hatte, Propaganda für die Partei zu machen.
Selbstverständlich war die TA auch am Montag eine aktuelle Zeitung, die den Verfassungs-Auftrag ernst nahm, die Mächtigen zu kontrollieren und die Leser umfassend und objektiv zu informieren. Zu unseren Pflichten gehört auch die Meinungsbildung.

In einer Demokratie ist nicht nur die Mehrheits-Meinung entscheidend und druckbar, die man gerne als die öffentliche Meinung bezeichnet, sondern sind auch Meinungen von Minderheiten und Querdenkern wichtig. Der Ort für all diese Meinungen ist diese Leserseite – auch wenn manche Positionen bisweilen nur schwer zu ertragen sind.

In der nachrevolutionären Epoche im Osten ist die Gesellschaft gespalten; es gibt eine starke Minderheit, die sich nach der DDR zurücksehnt – und diese Minderheit scheint besonders meinungsstark zu sein. Gut zwanzig Prozent der Thüringer stimmt der Aussage zu: Wir sollten zur sozialistischen Ordnung zurückkehren. Sogar die Hälfte ist überzeugt, dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte.

Man könnte der Hälfte der Gesellschaft also den Mund verschließen. Ein überzeugter Demokrat will das nicht, eine gute Zeitung macht das nicht. Zumindest sollten alle zur Kenntnis nehmen, wie Thüringen denkt.

In einer offenen, einer freien Gesellschaft überwiegen die Vorteile gegenüber einer geschlossenen Gesellschaft. Wenn es viele Meinungen gibt, wird es immer Meinungen geben, über die man sich ärgert: Der eine schimpft auf den Professor, der über die DDR forscht; der andere über den Genossen, der über sein schönes Leben in der Diktatur schreibt. Aber das ist eben Thüringen, ein Vierteljahrhundert nach der Revolution.

Karl-Heinz Schmidt, der verantwortliche Redakteur der Leserseite, kommentiert die Kritik an seiner Entscheidung mit einem Satz des Philosophen Voltaire: „Denken Sie, was Sie wollen, und lassen Sie andere sich daran erfreuen, es auch zu tun“. Und er fügt an: „Warum nur werden solche Sätze gern vergessen? Nach dazu in einer Gegend, in der sie jahrzehntelang nicht hochgehalten wurden.“

**

Auszüge aus dem Leserbeitrag von Otto Semmler (24.2.14):

Der Leserbrief von Karl Heinz Schmidt aus Nordhausen zum Thema „20 Jahre Abriss und Diebstahl“ ist mir zu Herzen gegangen, weil er die Wahrheit über den Staat Deutsche Demokratische Republik zum Ausdruck brachte.

Ich sage das, weil der Staat DDR mir von der Kindheit an alles in der Entwicklung meiner Person gegeben hat, was ich heute auch im Jahr 2013 noch bin. Ich bin ein Nachwuchskader der DDR, der vom VEB Bau (K) Sömmerda, als späterer Nachfolger eines juristisch selbstständigen Kombinatsbetriebes des VEB Wohnungsbaukombinat Erfurt, nach der Abschlussprüfung als Maurer auf eine Laufbahn der Weiterentwicklung zum Leitkader geschickt wurde.

Diese Weiterentwicklung begann für mich im Jahr 1959 an der „Arbeiter- und-Bauern-Fakultät“ als gesonderte Fakultät der „Hochschule für Architektur und Bauwesen“ in Weimar.

Für diese Entwicklung legte der Staat DDR für mich bis 1962 mit Sicherheit mehr als 150.000 Mark auf den Tisch. Nun hatte ich neben dem Beruf als Maurer auch noch die Ausbildung als Student mit einem Prädikat „Hochschulreife“ in der Tasche. Es folgten weitere Jahre Ausbildung zum Erwerb der Berufsbezeichnung „Bauingenieur“. Diese Urkunde, nach der ich die Berufsbezeichnung „Bauingenieur“ tragen darf, erhielt ich 1967 von der „Ingenieurschule für Bauwesen“ Gotha.

All das geschah für mich als Arbeiter- und Bauern-Kind der DDR, wobei ich vermerken möchte, dass ich als Kind ohne Eltern diese Entwicklung erhalten habe. Heute im vereinigten Staat Deutschland unvorstellbar. Ich habe auch über sieben Ausbildungsjahre hin Stipendium und Leistungsstipendium erhalten…

Das Fazit ist: Ich habe mit Freude am Aufbau der DDR im wahrsten Sinne des Wortes als Bauingenieur aktiv mitgewirkt und bereue es nicht. Weil das alles nur geschehen konnte – weil die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt worden war.

Die Unlogik der Sprache: Ist die Untiefe seicht oder tief? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 1. März 2014 von Paul-Josef Raue.
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„In einer Untiefe kann man nicht ertrinken“, tadelt ein Leser aus Weimar, nachdem er in einer der „Friedhof“-Kolumnen vom Ertrinken in den „Untiefen von Begriffen” gelesen hatte. „Die Vorsilbe ,un‘ verneint“, schreibt der Leser.

Das wäre schön und logisch, aber die zwei Buchstaben „un“ sind das Unsinnigste, was es in unserer Sprache gibt. Kaum eine andere Silbe hat mehr Bedeutungen:

• Sie bedeutet eine Verneinung wie in „unmöglich“, also: nicht möglich; oder in „unfreundlich“, also: nicht freundlich.
• Sie bedeutet eine Bejahung im Sinne einer Verstärkung wie in „Unmenge“, also: eine besonders große Menge.
• Sie bedeutet noch etwas anderes, etwas Unbestimmtes wie in „Unrat“, das den Rat weder verneint noch verstärkt.

Die „Untiefe“ ist die Krönung der Unlogik:

• Sie bedeutet – als Verneinung – sowohl „eine seichte Stelle“, etwa eine Sandbank;
• wie auch – als Verstärkung – eine „besonders tiefe Stelle“, einen Abgrund.

Der Duden lässt beide Bedeutungen zu, die Umgangssprache ebenfalls: Ein Kapitän mag nur die eine Untiefe, die besonders tiefe; ein Kind, das nicht schwimmen kann, mag nur die andere Untiefe, das seichte Wasser, in dem es stehen kann.

Der Dichter Hermann Conradi verwandelte das Hauptwort „Untiefe“ sogar in ein Adjektiv und schrieb diesen schönen, offenbar nicht mehrdeutig gemeinten Satz: „Bekanntlich bedanken sich ehrsame Bürgermädchen für allzu tiefes Eindringen in ihre, meistens untiefenhafte Persönlichkeit.“

Nichts für ungut, würde der Volksmund zu diesen Untiefen der Verneinung sagen. Der Liebhaber der Sprache resigniert eher und stöhnt: Wer beweisen will, wie unlogisch die deutsche Sprache sein kann, der stürze sich in die Untiefe.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 2. März 2014

Müssen sich Journalisten bei Wulff und ihren Lesern entschuldigen? Nein – warum auch

Geschrieben am 28. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Denken Journalisten nie über sich  und ihre Ethik nach? Machen sie sich nur her über andere, vor allem Mächtige und Möchtegern-Mächtige, haben keine Regeln und sind unfähig zur Selbstkritik?

Der Tag nach dem Wulff-Freispruch ist der große Tag der Hohepriester in unserer Zunft, die ihren  Zeigefinger in die Höhe recken. Günther von Lojewski, Ex-Intendant des SFB,  schreibt in der FAZ über „Wir Journalisten“:

Es ist wohl an der Zeit, dass wir, wir Journalisten, die wir so gern alles (besser) wissen und jeden kritisieren, einmal uns selbst zum Gegenstand öffentlichen Diskurses machen, unsere Standards, unser Ethos und unser Verhältnis zu Freiheit und Macht.

Das Büßergewand steht uns nicht, ist heuchlerisch. Wir haben Standards: Der Pressekodex regelt, wie wir mit unserer Macht umzugehen haben; er sanktioniert jeden, der dagegen verstößt; er regt immer wieder Debatten an über Persönlichkeitsrechte, Schleichwerbung, Vorverurteilung, Diskriminierung von Ausländern usw. 

> Frage an den (Besser-) Wisser von Lojewski: Gegen welche Regel im Pressekodex haben Journalisten in der Wulff-Affäre verstoßen? Wenn es solche Regelverletzung gegeben hat: Haben Sie Beschwerde eingelegt?

> Zweite Frage: Debattieren Journalisten nicht unentwegt über ihre Profession? Gibt es irgendeine Akademie, die Journalismus und seine Ethik nicht mindestens einmal im Jahr zum Thema macht? Diskutieren – beispielsweise – nicht Lokaljournalisten mehrmals im Jahr in einwöchigen Modellseminaren  über ihre Profession (organisiert vom Lokaljournalistenprogramm)? Etablieren nicht immer mehr deutsche Zeitungen einen Ombudsmann, der sich um Fragen und Beschwerden von Lesern kümmert? Ist es nicht eher ein Problem, dass sich die Öffentlichkeit kaum oder gar nicht für unsere Debatten interessiert?

> Dritte Frage: Klärt nicht unser Grundgesetz das Verhältnis der Presse zu Freiheit und Macht? Hat nicht unser Verfassungsgericht klar bestimmt, wie wertvoll die Presse ist in der Kontrolle der Macht? Wollen Sie Artikel 5 ändern? Korrigieren? Einen staatlichen Presserat einrichten?  (Keine Sorge: Es geht nicht.)

> Vierte Frage: Gehört die Kontrolle der Mächtigen nicht zu unseren wichtigsten Aufgabe? In Ihrer Aufzählung der „Grundregeln“ kommt sie nicht vor – aus Versehen?

Schauen wir uns Lojewskis Grundregeln an, die angeblich alle in der Wulff-Affäre von „zahllosen Journalisten“ verletzt wurden:

1. Fakten vor Gerüchten. Das einzige schwerwiegende Gerücht, an das ich mich erinnere, betraf die Vergangenheit der Ehefrau; aber das hat Wulff selber im TV-Interview thematisiert. Journalisten in Niedersachsen war das Gerücht schon lange bekannt; keiner hat es öffentlich gemacht.

War nicht das Problem, dass zu viele Fakten über Wulffs Leben bekannt wurden und vor allem über sein Verhältnis zum Geld?  Fragen konnte man sich in der Tat, ob manche Fakten eine öffentliche Diskussion wert waren.

Übrigens hatte der Bundespräsident ein gestörteres Verhältnis zu Fakten als Journalisten. Wenn wir Halbwahrheiten als Gerücht klassifizieren, dann war darin Wulff der Meister.

2. Sorgfalt vor Schnelligkeit.  Da hätte ich gerne Beispiele. Schauen Sie sich den Fragekatalog der Journalisten an, im Internet  zu lesen: Sie haben in der Regel auf Wulffs Antworten gewartet. Das Problem war bisweilen die Dumpfheit der Fragen, um nicht von Dummheit zu schreiben, aber nicht die Geduld und die Sorgfalt der Journalisten. Das Problem waren die Antworten Wulffs. 

3. Nachricht vor Meinung. Die Regel ist unsinnig: Ein guter Journalist trennt deutlich Nachricht und Meinung, aber er bietet beides an.

4. Unparteilichkeit vor Vorurteil. Die Regel verstehe ich nicht. Ein Journalist ist unparteilich in der Recherche und parteilich im Kommentar. Was das mit Vorurteilen zu tun hat, erschließt sich nicht.

Ob sich wohl ein einziger Journalist öffentlich entschuldigen wird, bei ihm (Wulff) und bei seinem Publikum?

fragt Günther von Lojewski. Ist in Hannover ein Prozess gegen Journalisten geführt worden? Oder hat die Staatsgewalt einen Prozess gegen den Bundespräsidenten vorangetrieben? Und eine andere Staatsgewalt ihn freigesprochen?

Ich fand es unsinnig, dass gegen Wulff ermittelt wurde. Ich finde es meist unsinnig, wenn sich Staatsanwälte in das politische Geschäft einmischen; Politik gehört in Parlamente und in Untersuchungsausschüsse und nicht in Gerichtssäle. Ich finde es richtig, ja notwendig, wenn Journalisten die Mächtigen kontrollieren, auch den Bundespräsidenten. Wir schaden der Demokratie, wenn wir es nicht tun.

Ich entschuldige mich nicht.

Revolte in der Ukraine – und das deutsche Fernsehen verschläft wieder Geschichte

Geschrieben am 23. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Klage ist nicht neu: Immer wenn die Welt aus den Fugen gerät, wie zur Zeit in der Ukraine, bleibt das deutsche Fernsehen außen vor, sendet weiter „Donna Leon“ und „Wetten daß“, „Wallander“ oder Olympia. Außer einem „Brennpunkt“ und einer kurzen Sonderausgabe der Tagesthemen fällt dem Staatsfernsehen mit seinem aufwändigen Korrespondenten-Netz nichts ein, auch nicht in den Info-Programmen.

Der Rundfunk-Journalist Knut Kuckel beschreibt das TV-Desaster in seinem Blog:

das Informationsfernsehen Phoenix.de entführte auf eine Entdeckungsreise durch die Wunderwelten der “Wiese”. Während Julija Tymoschenko, sichtbar geschwächt, aus dem Rollstuhl über auf dem Maidan in Kiew zu den hoffentlich erfolgreichen Revolutionen sprach, blieb den Interessierten am Geschehen nur Twitter, France 24, CNN oder BBC World…

Fairerweise sei angemerkt, das die deutschsprachigen Nachrichten-Fernsehformate n-tv und N24 auch ihre geplanten Schubladen-Dokumentationen mit den üblichen Werbeunterbrechungen sendeten. Das German Television verschlief weitgehend Geschichte.

In der 20-Uhr-Tagesschau versprach die Redaktion: Wer statt Donna Leon lieber den Maidan sehen will, der bekommt im Netz einen Livestream aus Kiew. Knut Kuckel hat ihn sich angeschaut: Unkommentiert, Redner auf Ukrainisch, schlechte Standbilder.

Kritik kam sogar von ARD-Korrespondenten per Twitter:

Annette Dittert, London (@annettedittert):

Am #Maidan geht die Post ab. Und im deutschen Fernsehen herrscht Funkstille. Also @FRANCE24 @CNN.

Die designierte WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich ‏(@SoniaMikich):

Wer hat Geduld für Donna Leon?

Und noch einmal Sonia Mikich an die beiden ARD-Korrespondenten in Lemberg und Kiew:

ich beneide euch, dass ihr zur geschichtsschreibung beitragen dürft. das sind sternstunden eines korrespondenten.

Wie miserabel Kommunikations-Wissenschaft kommuniziert (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 22. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Wie informieren sich Bürger über Politik? Wie kommen Politiker mit Bürgern ins Gespräch? Wie reagieren die Bürger, viele verdrossen, auf Politik?

Intensiv informieren sich Bürger in ihren Zeitungen, vor allem wenn es um die lokale Politik geht. Nur lesen die Jungen immer weniger und wandern ab ins Internet. Verändert das nicht nur die Gesellschaft, also unser Zusammenleben, sondern auch die Politik?

Solche und ähnliche Fragen soll die Wissenschaft von der „Politischen Kommunikation“ beantworten – und zwar so, dass sie jeder in einer Demokratie verstehen kann.

Schauen wir in ein Buch, dass der Chef der „Thüringer Landesmedienanstalt“ herausgibt und vom Bürger, genauer: vom TV-Gebührenzahler, bezahlen lässt. Das Versprechen des Buchtitels ist groß: „Die politische Kommunikation in Deutschland“.

Wer so angespornt durch 350 Seiten stolpert, liest vom „plastischen Bild der Typologie individueller politischer Kommunikation“, von der „Stabilität auf der Aggregatebene“, von „Internetdiffusion“, von der „begrenzten Zukunft für den Organisierten Extrovertierten und eine bedeutende Zukunft für den Bequemen Modernen“ – und das und noch viel mehr in einem 108 Wörter umfassenden Satz. Der Rest des Buchs ist ähnlich, ist wortschwallendes Schweigen, ist „liquide Demokratie“, die irgendwo ins Nichts fließt.

Am Ende bekommt das liquide Schweigen einen „Ausblick“: Die Welt ändert sich, die Gesellschaft ändert sich – aber wie? Das sind sich „an diese Arbeit schließende Forschungsfragen“. Es gibt also eine Fortsetzung, und die Landesmedienanstalt wird schon zahlen.

Zum guten Ende der komplette 108-Wörter-Satz aus „Politische Kommunikation in Deutschland – Eine typologische Längsschnittanalyse individuellert politischer Kommunikation“ von Angelika Füting (Vistas-Verlag), Seite 285:

Die Zusammenfassung der Ergebnisse zeichnet das plastische Bild der Typologie individueller politischer Kommunikation in Deutschland, resümiert die Stabilität auf der Aggregatebene und weist auf die wenigen Stammmitglieder auf der Individualebene hin, stellt den internetaffinen und jungen Bequemen Modernen vor dem Hintergrund der Internetdiffusion als den relevantesten Typ heraus, leitet aus der Altersstruktur eine begrenzte Zukunft für den Organisierten Extrovertierten und eine bedeutende Zukunft für den Bequemen Modernen ab, zeigt mit der Gegenüberstellung des Bequemen Modernen und des Organisierten Extrovertierten den Wandel in der politischen Kommunikation durch das Hinzutreten des Internets und weist auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Bequemen Modernen und Digital Natives bzw. der Internet-Generation hin (Kapitel 6.6.)

Thüringer Allgemeine 24. Februar 2014, Kolumne „Friedhof der Wörter“: Wenn Demokratie flüssig wird (hier erweiterte Fassung)

FACEBOOK-Kommentare

Raphael Raue (22.2.14)

Wenn man nichts versteht, dann sind immer die anderen Schuld? Sicher ist der im Artikel zitierte Satz mehr als unglücklich, aber daraus ein Vorfahrtsschild des journalistischen Schreibens zu konstruieren ist es ebenso. Eine Welt, in der nur der für jedermann verständliche Satz Bedeutung haben darf, wäre doch eine äußerst arme Welt, oder nicht?

Paul-Josef Raue (22.2.14)

Ach, Ihr Philosophen! Es kommt darauf an, die Welt zu verstehen. Also gebe ich mir Mühe, so zu schreiben, dass all die verstehen, die ich erreichen will. Ja, ich bin es schuld, wenn ich nicht verstanden werde: Ich gebe mir Mühe, und ich verlange nicht, dass sich der andere Mühe geben muss – um mich überhaupt zu verstehen.

Schreibe ich für eine Fachwelt, dann will ich auch nur von Wenigen verstanden werden: Also darf ich oder muss sogar eine eindeutige Spezialistensprache nutzen, so wie es Ärzte tun oder Piloten im Landeanflug.

Wer aber über Kommunikation in der Demokratie schreibt, wer sich seine Forschung vom Bürger bezahlen lässt, der hat sich gefälligst Mühe zu geben, um von allen verstanden zu werden. Und wenn er – wie in diesem Buch – nichts zu sagen hat, sollte er schweigen – und sich nicht hinter Soziologen-Jargon verstecken.

Das gilt übrigens in besonderem Maße für Journalisten: Schreib, damit sie Dich verstehen!

Ulf-Jochen Froitzheim (22.2.14)

„Eine Welt, in der nur der für jedermann verständliche Satz Bedeutung haben darf, wäre doch eine äußerst arme Welt, oder nicht?“
Eine arme Welt ist eine, in der sich Menschen keinerlei Mühe geben, für jedermann verständlich zu reden oder zu schreiben. Noch ärmer ist eine, in der Menschen etwas „ins Soziologische“ übersetzen, um ihre Fachwelt abzuschotten gegenüber denen, die mit ihren Steuern das Gehalt bezahlen.

Raphael Raue (22.2.14)

Zu Paul: Zustimmung. Deshalb wirkt das Buch unglücklich und Luhmann eben nicht.

Zu Froitzheim: Ich verstehe Sie einfach nicht.

Ulf-Jochen Froitzheim (22.2.14)

+Raphael Raue: Wenn Sie mich nicht verstehen, wie können Sie dann Füting oder Luhmann verstehen?

Um noch eins draufzusetzen: Wer einen Satz aus 108 Wörtern drechselt, muss(te) schon Dieter Hildebrandt heißen, damit kein Affront gegenüber seinem Publikum draus wird.
http://www.youtube.com/watch?v=mrSC6ylBGl0

Manuela Cranz (22.2.14)

wobei unverständliche Schreibe, kryptische Fachsprechsatz-Versatzteile meiner Erfahrung nach praktisch immer auf Faulheit des Schreibers hindeuten. Oder darauf, dass er selbst nicht verstanden hat, was er anderen Menschen eigentlich erklären sollte (und zu feige war, oft genug nachzufragen). Das Fach-Chinesisch wird oft aus Unsicherheit verwendet, weil Kollegen es für eine Art Sicherheitsnetz halten, das davor bewahrt, sich beim Schreiben als Nichtversteher zu outen. Manchmal muss man halt drei Mal fragen: Es kann ja auch dran liegen, dass der Experte nicht gut im Erklären ist.

„Die Tageszeitung ist die Formel 1 des Journalismus“

Geschrieben am 21. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Nicht zu Tode sparen, die Position der Zeitung als Leitmedium stärken, Erhalt der Titel-Vielfalt – das ist das Programm von Christoph Bauer, 43, dem neuen Chef des Kölner Verlags M. DuMont Schauberg, in dem neben anderen der Kölner Stadtanzeiger die Mitteldeutsche Zeitung und Berliner Zeitung erscheinen. Was fehlt im Bauerschen Programm? Das Lokale, das Regionale, die Bedürfnisse der Leser.

Das sind die eindrucksvollsten Zitate aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (21.2.2014):

Die besten Zeiten für die Entwicklung neuer journalistischer Produkte sind nicht vorbei.

*

Am Journalismus kann man nicht endlos sparen. Ein gutes journalistisches Produkt kann nicht mit immer weniger Geld betrieben werden, dann sollte man besser prüfen, ein völlig anderes Produkt zu machen… Nur mit Sparen werden wir nicht in die Zukunft gehen können. Wir haben nicht das Problem, dass wir schlechten Journalismus machen. Aber wir müssen eine Strategie entwickeln, damit wir die Titelvielfalt, die wir haben, erhalten können.

*

Die Tageszeitung ist die Formel 1 des Journalismus. Man muss sich fragen, was heute eine Tageszeitung besser kann als all die anderen Medien, die in den vergangenen fünfzig Jahren hinzugekommen sind. Nachrichten gehen heute sicher schneller über mobile Geräte oder über das Radio. Unterhaltung macht das Fernsehen, und für Vertiefung ist vielleicht das Internet das beste Medium. Die Tageszeitung kann Orientierung geben und diese mit einer Haltung versehen. Die Auswahl der Themen, die Bewertung von Sachverhalten, die Meinung – das sind die wesentlichen
Leistungen der Zeitung, egal ob sie gedruckt wird oder digital erscheint.

*

Die Tageszeitungen werden journalistisches Leitmedium bleiben, und zwar über den Horizont hinaus, den wir heute überblicken können.

Internet statt Papier – Ist das Internet überhaupt ein neues Medium?

Geschrieben am 20. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Noch eine, allerdings wenig überraschende Studie: Wie nutzen Menschen, die immer weniger Zeit haben, die Medien?

Durch die Nutzung des Internets lesen die Menschen weniger Zeitungen und Zeitschriften, gerade bei der jüngeren Generation. „Allerdings“, räumt Professor Seufert laut einer Pressemitteilung ein, „ist hier wohl auch ein Nachdenken über die Einteilung der Mediengattungen nötig“. Es stellt sich nämlich die Frage, ob das Internet tatsächlich immer ein „neues Medium“ ist oder nicht teilweise nur ein neuer Verbreitungsweg für Gattungen wie Zeitung, Fernsehen und Radio.

Quelle: Pressemitteilung der Uni Jena zu „Wolfgang Seufert, Claudia Wilhelm: Mediennutzung als Zeitallokation. Zum Einfluss der verfügbaren Zeit auf die Medienauswahl (Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014, 233 Seiten, 39 Euro)

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