HNA zitierte aus Ermittlungsakten: Das ist verboten, aber Verfahren wurde eingestellt
Horst Seidenfaden, Chefredakteur der HNA in Kassel, ließ wörtlich aus Ermittlungsakten zitieren, zwei Redakteuren wurden angeklagt und bekamen einen Prozess – der heute (28. Januar 2014) schnell wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde. Amtsrichter, Staatsanwalt und Verteidiger waren damit einverstanden.
Laut dpa hatten die HNA-Redakteure über einen Häftling berichtet, der 2012 im Gefängnis ermordet woren war und dann aus den Ermittlungsakten wörtlich zitiert – vor der Gerichtsverhandlung; das ist verboten, aber lange schon umstritten.
„HNA“-Chefredakteur Horst Seidenfaden sagte laut dpa:
Ich bin froh über das Verfahren, denn es habe Journalisten deutlich gemacht, dass man hier in eine Falle tappen könne. Ich fordere den Gesetzgeber auf, die Regelung zu überarbeiten. Allerdings zeigt die Einsicht von allen Seiten, dass dieses Gesetz umstritten ist, dass investigativer Journalismus eine Chance hat in diesem Land.
Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?
„Direktluft-Zuschauer“ ist eine Wort-Entdeckung von Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung; er fand sie im Theater auf einem Schild in den Kulissen, gemeint ist wohl ein technischer Hinweis auf Direktluft in den Zuschauerraum.
Beim Theaterbesuch erfindet Lindner gleich ein neues Wort, mit dem wir den Wettbewerb um das längste Wort des Jahres eröffnen:
Bei unserem Wettbewerb geht es, wie im Sport, um die Jahresbestleistung. Den Allzeit-Duden-Rekord hält die „Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung“ mit 36 Buchstaben; im Duden-Korpus steht ein Wort mit 104 Buchstaben, das allerdings nur einmal gesichtet wurde.
Noch ein paar Zahlen: Im Durchschnitt umfasst ein deutsches Wort elf Buchstaben. Das am meisten gebrauchte Substantiv ist – Jahr, gefolgt von Uhr, Prozent, Euro und Million. „Frau“ wird häufiger genannt als „Mann“.
Gegen die Lanz-Petition: Die Mausklick-Demokratie entwertet die Politik
Höflichkeit gehört nicht zur Berufsbeschreibung von Journalisten. Eigentlich gehört es sogar zu den grundlegenden Moderatorenpflichten, dass sie den Redefluss von Politikern stoppen, die stur ihr Parteiprogramm herunterbeten.
Andrian Kreye im SZ-Leitartikel zur Online-Petition, die mehr als 170.000 anklickten, gegen den ZDF-Moderator Markus Lanz; er war in seiner Talkshow der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht mehrfach ins Wort gefallen. Vorwerfen könne man Lanz allenfalls, dass er seine kritische Moderation öffentlich bedauert habe.
Ins Gericht geht Kreye auch mit der „Mausklick-Demokratie“, die kein „Ausdruck eines politischen Willens, sondern Abbild momentaner Launen“ sei. Er spricht von einer „Entwertung der Politik durch die Passivität des politischen Klickens“.
Bedenklich findet Kreye auch – zu Recht -, dass sich Zeitungen und Magazine verleiten lassen, die hohen Klickzahlen als Abbild der Volksmeinung aufzuwerten: „Ein paar Hunderttausend Petionsklicker sind keine Bewegung“. Das Aufsetzen einer Petition dauere nicht lange auf der Webseite www.openpetition.de; dort findet man auch Petitionen wie „Freiheit für die KURVE + mehr STEHPLÄTZE in der Allianz Arena“ oder „Keine Moschee in Leipzig/Gohlis – Bürgerinitiative: Gohlis sagt Nein!“
Quelle: SZ 25.1.2014
Lexikon journalistischer Fachausdrücke:
Mausclick-Demokratie
Feuilleton schlägt Politik beim Wettstreit um den längsten Satz des Jahres (Friedhof der Wörter)
Warum schreiben Politiker lange unverständliche Sätze? Tragen Sie eine Meisterschaft aus: Wer schafft den längsten Satz? Schauen wir uns den Wettkampf an: Wer ist Deutscher Satzlängen-Meister 2103?
Im Wahlkampf gaben sich die Politiker, die ihre Wahlprogramme schrieben, viel Mühe, lang und unverständlich zu formulieren – doch reichte es nur für die Bronze-Medaille: 71 Wörter.
Mehr Mühe gaben sich die unbekannten Autoren, die „Geisterschreiber“ des Koalitionsvertrags: Die Silbermedaille für 87 Wörter in einem Satz plus eine Zahl.
Sobald der Aufbau eines europäischen Abwicklungsmechanismus beschlossen ist, kann, nachdem der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung getroffen und die EZB die Aufsicht operativ übernommen hat, als Zwischenlösung ein neues Instrument zur direkten Bankenrekapitalisierung auf Basis der bestehenden ESM-Regelungen mit einem maximalen Volumen von 60 Mrd. Euro und insbesondere mit der entsprechenden Konditionalität und als letztes Instrument einer Haftungskaskade in Frage kommen, wobei sichergestellt ist, dass vorher alle anderen vorrangigen Mittel ausgeschöpft worden sind und ein indirektes ESM-Bankenprogramm mit Blick auf die Schuldentragfähigkeit des Staates ausgeschlossen ist.
Nur – was ist ein Politiker gegen einen Journalisten, einen Theaterkritiker? Nichts, wenn es um die Satzlänge geht. Gerhard Stadelmaier brachte es auf 208 Wörter: Das ist der deutsche Rekord 2013, schon einmal gewürdigt in diesem Blog:
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).
Im neuen Jahr entdeckt Gerhard Stadelmaier im FAZ-Feuilleton wieder den Reiz und die Kraft der kurzen Sätze, in denen wir kurze Wörter finden voll emotionaler Wucht – wie in der Kritik einer Luc-Bondy-Inszenierung in Paris:
„Die Sterne funkeln im Theaterhimmel. Jetzt beginnt ihr wahrer Traum: die Geschichte, die aus den beiden Schmetterlingen wird. Ein Nachtstück? Eine Eintagsfliegenaffäre? Eine Ehe? Eine Katastrophe? Eine Seligkeit? Alles ist möglich. Nichts ist ausgeschlossen. Aber so, wie es jetzt gerade ist, ist es das pure Glück. Mehr muss auch nicht sein. Ovationen.“
Wir staunen: Ja, kurz ist in der Regel besser! Also – ein Kompliment für den Kritiker. Wäre da nur nicht die „Eintagsfliegenaffäre.
Erweiterte Fassung eines „Friedhof der Wörter“ in Thüringer Allgemeine 27. Januar 2014
Cool: Jugendliche und ihre Sprache – und warum Zeitungen sie meiden sollten (Friedhof der Wörter)
Eine Leserin aus Erfurt liest „mit großem Interesse“ den „Friedhof der Wörter und reagiert auf die Kritik an unverständlichen Wörtern im Koalitionsvertrag:
Sind sich die Herrschaften auch darüber im Klaren, dass sie ein gutes Vorbild für die Menschen hinsichtlich der Pflege der deutschen Sprache abgeben müssen. Die Probleme auf diesem Gebiet müßten m.E. von ganz oben in Angriff genommen werden.
Ein passendes Beispiel dazu fand ich ebenfalls in der Zeitung im Artikel „Medientalente gesucht“, in dem ich sofort über das Wort „Yougendmedienpreis“ gestolpert bin. Zuerst dachte ich an einen vorliegenden Schreibfehler, aber dieses seltsame Wort kam noch zweimal vor.
Also überlegte ich, wie es wohl ausgesprochen werden soll, wobei gleichzeitig Ärger über so viel Blödsinn in mir aufstieg. Es geht doch nur darum, einen Medienpreis für talentierte Jugendliche zu vergeben und warum nennt man ihn nicht einfach „Jugendmedienpreis“.
Das versteht jeder, aber es scheint nicht cool genug zu sein.
In meiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete ich:
Ich stimme Ihnen zu:
Erstens: Politiker sollten ein Vorbild sein mit einer verständlichen, klaren Sprache; ich schließe uns Journalisten mit ein: Wir sollten schiefe, unverständliche und vernebelnde Sätze von Politikern nicht verbreiten, es sei denn kommentiert und in eine einfache Sprache übersetzt.
Zweitens: Die seltsame Verballhornung unserer Sprache, die Mischung aus englischen und deutschen Wortbrocken, ist entsetzlich.
Ich stimme nicht zu:
Erstens: Jugendliche brauchen eine eigene Sprache. Sie spielen gern mit Wörtern und freuen sich, wenn die Alten sich darüber ärgern. Das war so, und es wird so bleiben – und es ist gut so, denn die eigene Sprache, die Abgrenzung zu den Erwachsenen, gehört zur Entdeckung der Welt.
Ob sich Erwachsene an Jugendliche anbiedern müssen, indem sie deren Sprache imitieren, wage ich zu bezweifeln. Ich bin sicher, dass sich Jugendliche über diese Anbiederung amüsieren.Zweitens: Die Pflege der deutschen Sprache von oben in Angriff zu nehmen, ist ein grässlicher Vorschlag. Es ist in der Tat ein Angriff: Sollen unsere Politiker, die oft die Sprache missbrauchen, unsere Sprache wirklich regeln? Das hieße, den Bock zum Gärtner zu machen.
Wir haben uns bis heute noch nicht von der Rechtschreibreform erholt, die von oben verordnet war. Ein zweites Mal sollten wir uns nicht überrumpeln lassen.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 25. Januar 2013
Drastische Sprache wie vom „Tyrannen, der stinkt wie Teufelsdreck “ – und große Vorbilder (Luther-Disput 5)
Luther nennt einen Mächtigen einen „wütenden Tyrannen, der stinkt wie Teufelsdreck“. Wie drastisch darf unsere Sprache sein? – ist die Frage im fünften Teil des Luther-Disputs im Erfurter Augustinerkloster.
Wolf Schneider:
Ich finde es einfach traurig, wenn ein Mensch ein Anliegen hat, aber nicht im Stande oder Willens ist, es auf geeignete Weise unter die Leute zu bringen. Wer etwas bewirken will, hat sich der Sprache zu bedienen, die etwas bewirken kann.
Noch einmal Büchners Woyzeck: „Wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen“. Das ist die perfekte Sprache abseits der Bibel, das ist Luther-Deutsch. Manchmal darf und muss Sprache eben auch drastisch sein.
Von Pfarrer Thomas Seidel aus Erfurt kommt der Einwand: „Die Kirche ist nicht der Jahrmarkt, nicht das Kaufhaus und nicht die Talkshow. Dort ist man ein anderer Mensch und will Menschen anders ansprechen. Dürfen und sollten dafür andere Sprachregeln gelten?“
Schneider: Warum anders? Saftig, drastisch, auf den Punkt und unter mutiger Ignorierung alles auf der Universität Gelernten. Dann wird man auch verstanden.
Leibrock:
Man muss trotzdem authentisch sein. Ich kann nicht in eine Rolle schlüpfen und sagen: Jetzt bin ich ein anderes Wesen. Schauspieler können das. Aber ich stehe ja auf der Kanzel bei einer Rede oder als Schreibender nicht als Schauspieler da.
TA-Leser Christoph Werner aus Erfurt meint:
„Ich habe Schwierigkeiten mit der Aussage: Alle müssen einen verstehen. Es gibt doch ganz verschiedene Adressaten, an die man sich wendet. Ein Thomas Mann beschränkt sich nicht auf Hauptsätze und ist dennoch in meinen Augen einer der größten Stilisten des 20. Jahrhunderts. Ein Mediziner, der über Lungenkrankheiten schreibt, hat ein anderes Publikum als ein Reporter einer Tageszeitung.“
Schneider:
Ich bewundere Thomas Mann. Noch mehr bewundere ich Heinrich Kleist, den ich aber niemals als Vorbild nennen würde, weil er viel zu schwierig ist.
Wir reden hier nicht von Weltliteratur, nicht von Wissenschaft, sondern wir reden von einem Publikum, das einerseits die Journalisten und andererseits die Pfarrer wohl in größtmöglicher Mehrheit erreichen möchten. Journalisten sollten so schreiben, dass 70 Prozent der Deutschen sie lesen können – 100 Prozent schafft man nicht. Sich dafür Thomas Mann als Vorbild zu nehmen, davon würde ich abraten.
Der Kabarettist Ulf Annel aus Erfurt:
„Beim Lesen von Luthers „Schrift vom unfreien Willen“ kommen mir Zweifel, ob das damals alle verstanden haben. Hat also auch Luther nicht immer für alle geschrieben?“
Schneider:
Luther hat auch für Professoren geschrieben. Aber die Bibel hat er nicht für Professoren übersetzt.
Leibrock:
Ein Beispiel ist für mich der Fernseh-Historiker Guido Knopp. Der wird von Fachkollegen oft scheel angeguckt. Er hat aber mit seinen historischen Filmen im ZDF einen riesigen Zuspruch.
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
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Fünfter und letzter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Döpfner erfindet das digitale Papier und prophezeit: Zeitung auf Papier wird es immer geben!
Ich glaube, dass die Totenglocke, die man der Zeitung permanent läutet, zu Unrecht erklingt… Zeitungen und Zeitschriften wird es noch über Jahrzehnte geben, und sie werden noch sehr lange gute Renditen erwirtschaften können.
So spricht Springer-Chef Matthias Döpfner in einem FAZ-Interview mit Michael Hanfeld (23.1.14) – wie eine Replik auf Burdas Zwischenruf bei einem Digitalkongress: „Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute keiner mehr überleben.“
Allerdings wird sich das „Trägermedium“ – was für ein Wort – für Döpfner verändern:
Mit dem Informationsträger Papier wird es aber nur noch in Ausnahmefällen Wachstum geben… Es kann doch nicht sein, dass Journalisten den Griffel aus der Hand legen, weil das Trägermedium sich verändert. Und wer definiert überhaupt, wo Papier anfängt und wo Papier aufhört? Papier wird heute aus Zellstoff und gefällten Bäumen hergestellt, in ein paar Jahren ist es vielleicht ein Kunststoff und viel ökologischer und langlebiger als heute.
Wenn Sie mir erlauben, analoges Papier zum digitalen Papier umzudefinieren, dann würde ich sogar die Prognose wagen: Zeitungen auf Papier wird es immer geben.
Wolf Schneider: Zwei (plus eins) einfache Regeln für einen guten Stil (Luther-Disput 4)
Es gibt zwei einfache Regeln für einen guten Stil, sagt Wolf Schneider:
• Erstens: Die Wörter sollten möglichst wenig Silben haben. Die einsilbigen Worte sind das Größte – Blood, sweat, toil and tears –, die zweisilbigen sind das Zweitbeste.
• Zweitens: Keine Schachtelsätze, sondern vor allem Hauptsätze. Eingepferchte Nebensätze sind immer schlecht. Es möge laut vorgelesen gut ins Ohr gehen. Wir schreiben immer für die Ohren.
Felix Leibrock fügt eine dritte Regel hinzu:
Kein Passiv! Aktivformen verwenden! Beim Passiv stiehlt man sich aus der Verantwortung. Statt „Wir wurden heute begrüßt…“, besser: „Herr Müller, Meier, Schulze hat uns begrüßt…“.
Schneider: Ja, Passiv entpersonalisiert – das ist heimtückisch und frech. Die Deutsche Bank hat mir einen unverschämten Brief geschrieben: „Die Geschäftsbedingungen sind geändert worden.“ Sie hat nicht geschrieben: „Wir möchten ändern“ – dann hätte ich ja vielleicht widersprochen.
Und wie schreibt Wolf Schneider? „Meine Werkstatt verlässt kein Text, den ich nicht mindestens dreimal laut gelesen habe.“
Im vierten Teil des Luther-Disputs standen klare Sätze im Vordergrund und Vorbilder, die klare Sätze schrieben. Auf die Frage „Kann man nicht auch in Hauptsätzen Blödsinn reden?“ antwortete Wolf Schneider:
Wo immer mir klare Hauptsätze begegnen, bin ich angetan. Es ist eine Wohltat, eine Aussage in einem klaren harten Satz zu hören. Sich in klaren Sätzen zu äußern, ist keinem Prediger, keinem Bischof versagt.
Das allerdings von Politikern zu fordern, ist in meinen Augen weltfremd; das können Politiker sich nicht leisten, sie machten sich unglücklich. Von Festrednern sollte man fordern, dass sie gar nicht erst antreten, mit all den Allgemeinplätzen.
Von welchen Schreibern können wir noch gutes Deutsch lernen?
Schneider:
Ich kann nur jedem raten, möglichst viel von Bertolt Brecht, Franz Kafka, Georg Büchner und Heinrich Heine zu lesen. Da gibt es viele starke Sätze. Man denke nur an den geschundenen Woyzeck bei Büchner, der da sagt: „Wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen“.
Das ist ein gewaltiger Satz, das ist Lutherdeutsch. Auch Brecht hat sich vom Lutherdeutsch inspirieren lassen und andauernd die Bibel gelesen. Seine Aussage „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ ist ein strittiger Spruch, aber er hat Kraft. Und das Fressen darf eben auch mal vorkommen in einer Predigt.
Luthers Übertragung aus dem Alten Testament, aus dem Buch Jesus Sirach: „Die Geißel macht Striemen, aber ein böses Maul zerschmettert das Gebein“ verstehen auch heute 14-Jährige noch.
Oder Kafkas Briefe: Sie gehören zum Herrlichsten, was auf Deutsch je geschrieben wurde. Hier wird das akademische Vorurteil klar widerlegt, dass, wer verständlich schreibt, keine große Literatur produzieren könne.
Leibrock:
Ich suche nach vergleichbaren Gegenwartsautoren…
Schneider:
Heinrich Böll hat gutes Deutsch geschrieben, Magnus Enzensberger auch. Von Günter Grass gibt es ein paar starke Sätze, aber nicht mehr. Mit großer literaturtauglicher Sprache Millionen erreichen – das können wohl nur Kafka und Brecht.
Kann auch ein Ungläubiger Luther verstehen und schätzen?
Schneider:
Ja! Brecht war ein sehr heftiger Luthergegner, ein Kirchengegner überhaupt. Trotzdem hat er von Luther gelernt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Das ist ein großartiger Satz Luthers, nicht nur im Vertrauen auf die Allgegenwärtigkeit Gottes. So schreibt man, und so schreibt auch Bertolt Brecht.
Leibrock:
Die Hauptfrage Luthers ist allerdings heute nicht mehr aktuell. Luther fragt: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“. Heute fragen wir eher: „Gibt es Gott?“. Auch Luther würde heute diese Frage zu beantworten versuchen, und er hätte sicher gute Antworten.
Wir können Luther nicht einfach auf unsere Zeit übertragen, das sollten wir auch für das Lutherjahr 2017 bedenken. Viele Menschen könnten damit wenig anfangen, weil es nicht ihre Fragen sind.
Eine heutige Frage ist die nach Schuld und Vergebung:
> Wo bekomme ich Vergebung, wenn mir diese Welt nicht vergibt?
> Kann Michail Chodorkowski Herrn Wladimir Putin vergeben?
> Kann Wladimir Putin Herrn Chodorkowski vergeben?
Die Nachrichten sind voll mit Fragen nach Schuld und Vergebung. Die Frage ist, ob Luthers Antworten aus dem Mittelalter heute noch passen.
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
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Vierter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Wolf Schneider: Drei goldene Regeln für Redner (Luther-Disput 3)
Im dritten Teil des Luther-Disputs geht es um die Predigten der Pfarrer. „Ich habe meine undankbaren Jünger Reden gelehrt“, sagte Luther einmal. Aber können das Pfarrer heute noch? So sprechen, wie es Luther tat und lehrte? Wolf Schneider gibt drei goldene Tipps für Redner und Prediger:
• Lasst die üblichen Gemeinplätze weg!
• Lasst die Fremdwörter und schrecklichen Adjektive weg – womit ihr die Sprache entlutherisiert.
• Gebt euch Mühe, Interessantes zu sagen!
Felix Leibrock:
Es gibt einen allgemeinen Verfall der öffentlichen Rede. Es fehlt der Mut zur klaren Aussage.
Das halte ich für ein gesellschaftliches Problem, weil wir so viel Zeit, so viel Energie verschwenden in Veranstaltungen, die uns wenig bringen. Deswegen mein Plädoyer für die freie Rede, für das gewagte Wort und für die Freiheit, etwas zu sagen, was falsch ist.
Vielleicht weiß Herr Schneider, wie wir das wieder hinbekommen?
Schneider:
Appelle wie „Werdet besser!“ helfen wenig. Viele Predigten sind trostlos. Ich habe im Auftrag der evangelischen Kirche Sachsen-Anhalt viele evangelische Texte und Predigten analysiert. Positiv aufgefallen sind mir nur ein paar Sätze von Margot Käßmann – zum Beispiel: „In Afghanistan ist gar nichts gut.“ Ich bin nicht ihrer Meinung, aber das ist klar und prägnant. Sonst ist kaum Besserung erkennbar.
Leibrock:
Vor so klaren Aussagen wie der von Margot Käßmann scheuen wir uns. Wir sagten lieber: „Die Situation in Afghanistan ist differenziert zu sehen.“
Wenn es um klare Worte geht, ist auch der neue Papst zu loben. In der Schrift „Evangelii Gaudium“ schreibt er:
„Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht.“
Schneider:
Oder er schreibt: „Die Kirche ist keine Zollstation. Sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit einem mühevollen Leben.“ Der Papst ist so gut, wie es Luther mal war.
Leibrock:
Ja, das sind Sätze, die verstehe ich sofort. Und andere Menschen auch. Ich habe den ersten evangelischen Papst-Franziskus-Fanklub gegründet…
Schneider:
In jeder Kirche sollte ein Plakat hängen: Wollt ihr wirklich schlechter sein als der Papst? Keinem Prediger, keinem Bischof ist es versagt, sich in klaren Sätzen zu äußern.
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FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
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Dritter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Wie viel Veränderung verträgt eine Zeitung?
Verändere bei erfolgreichen Sendungen nie mehr als zwanzig Prozent auf einmal!
Sandra Maischberger über das Fernsehen in einem SZ-Interview (21. Januar 2013). Dies dürfte auch für Tageszeitungen gelten; wahrscheinlich sind selbst 20 Prozent zu viel, da Zeitungsleser konservativ sind und schon kleine Veränderungen als nicht notwendigen Eingriff in ihre Gewohnheiten ansehen. Eine Reihe von Zeitungen hat bei einem großen Relaunch sowohl Abonnenten in überdurchschnittlich hoher Zahl als auch Vertrauen verloren.
Ich erinnere mich an die Frage eines Verlegers: „Herr Raue, waren machen wir einen teuren Relaunch, wenn wir viele treue Leser verlieren oder zumindest verärgern und kaum neue Abonnenten, erst recht keine jungen gewinnen?“
KOMMENTARE (Facebook) am 21. Januar 2014
TA-Leser Wolfgang Jörgens aus Sophienhof:
Mit den Veränderungen ist das so eine Sache. Was wünschen die Leser, die Kunden? Was macht das Lesen einer Tageszeitung so interessant, dass Abo-Kunden gewonnen und nicht abgängig sind? Denn Geld spielt ja auch hier keine untergeordnete betriebswirtschaftliche Rolle.
Der Leser kommt auf einer ganzen Seite zu Wort. Das ist gut, könnte aber noch besser werden. Die Tageszeitung müsste manchmal, auch als Veränderung, sehr kritische Fragen der Leser aufgreifen. Nicht nur auf der Leserseite, sondern auch im zentralen Teil. Wo möglicherweise auch mal ein Politiker zu Wort kommen sollte.
Paul-Josef Raue
Lieber Herr Jörgens, die meisten Leserbriefe stellen keine sehr kritischen Fragen, sondern sind Beispiele einer tief sitzenden Verdrossenheit gegenüber den Politiker oder gar gegenüber der Demokratie. Leider.
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