So stellt sich Thomas Bärsch als neuer Vize-Chefredakteur der TA vor – in einem Gespräch mit den Lesern (Teil 1)

Geschrieben am 12. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Thomas Bärsch verrät im Gespräch mit TA-Lesern, wie er die Zeitung stärken will, was er vom Fußball hält und warum er manchmal an der Politik zweifelt. Jeden Samstag erscheint „Domplatz 1“ in der Thüringer Allgemeine, benannt nach dem Ort, an dem das Lesergespräch stattfindet: Die Journalisten moderieren, ausgewählte Leser fragen, Prominenten antworten – und erstmals ein Redakteur:

Leserin Eva Fehrenbacher: Wie frei ist ein Chefredakteur? Will der Besitzer der Zeitung nicht reinreden und seine Vorstellungen einbringen?

Reinreden wollen viele – und das müssen nicht einmal die Besitzer eines Verlages sein. Wichtig ist, dass sich die Zeitung nicht beeinflussen lässt – weder politisch noch wirtschaftlich. Dafür muss der Chefredakteur sorgen, indem er selbst unabhängig und vor allem stark ist. Eine Redaktion braucht einen starken Rücken – und den muss der Chefredakteur zeigen. Natürlich ist ein Zeitungsverlag ein Wirtschaftsunternehmen, aber eine starke Redaktion wie die der TA ist unabhängig. Das unterscheidet uns auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der zwar keine Finanzierungs-Sorgen hat, aber unter dem Einfluss der Politiker steht. Ein Chefredakteur muss die Glaubwürdigkeit der Zeitung sichern. Nur so sichert er ihren Bestand.

Eva Fehrenbacher: Und das tun Sie?

Dafür steht die gesamte Chefredaktion – und auch der Verlag. Alle, die Verantwortung bei uns tragen, wissen: Glaubwürdigkeit ist unser höchstes Gut; an ihr misst sich das Vertrauen der Leser. Es gibt etliche Umfragen, die zeigen: Unter allen Medien genießt die lokale Zeitung die höchste Glaubwürdigkeit – auch in der Internet-Generation. Diese Glaubwürdigkeit würden wir nie aufs Spiel setzen.Und glücklich sind wir erst, wenn wir wissen, dass uns viele Menschen intensiv lesen. Daran arbeiten wir.

Eva Fehrenbacher: Was wollen Sie verändern?

Zuerst will ich nichts verändern, sondern das hohe Niveau, das die TA hat, stärken. Aber es gibt kein Niveau, das wir nicht noch steigern können.

Eva Fehrenbacher: Wie wollen Sie das Niveau steigern?

Wir müssen noch näher an die Bürger ran. Viele Erfurter identifizieren sich mit ihren Stadtteilen, das habe ich schon nach wenigen Wochen Aufenthalt hier erlebt. Diese Verbundenheit mit dem unmittelbaren Lebensumfeld müssen die Leser auch in der Zeitung wiederfinden.

Leser Dieter Sickel: Unter Ihrer Regie ist im Erfurter Lokalteil die wunderschöne Kolumne entstanden, die mich jeden Tag erfreut: „Anja auf Achse“. Die Redakteurin ist in der Stadt unterwegs, sieht Sachen, die wir nicht mehr sehen, hat offene Augen und öffnet sie uns, die blind sind.

Diese Kolumne haben wir ins Leben gerufen, weil wir bei der Lese-Untersuchung merkten, dass die Erfurter bei uns etwas vermissen, was wir Stadtgefühl nennen. Also haben wir uns – und das heißt: alle Lokalredakteure, wirklich alle – geschworen: Wir zwingen uns, noch mehr draußen zu sein und weniger am Telefon zu hängen; wir wollen entdecken. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. Wir sind, wenn Sie es so wollen, die Augen und die Ohren unserer Leser.

Leserin Marga Kellner: Aber alles sehen und hören Sie auch nicht. Ich würde zum Beispiel gern mal lesen, was das für Menschen sind, die uns als Polizistinnen und Polizisten jeden Tag Schutz geben – die manchmal angespuckt werden und beleidigt. Was machen die? Haben die Kinder? Ich möchte mal die Menschen hinter ihrer Uniform entdecken.

Das ist eine fantastische Anregung, die ich gerne aufgreife. Allerdings ist die Polizei, besonders in den oberen Etagen, sehr zurückhaltend, um es freundlich auszudrücken. Da kollidiert das Dienstrecht oft mit journalistischer Neugier und dem Informationsbedürfnis unserer Leser.
Gleichwohl genießt die Polizei ein hohes Ansehen. Also – wir greifen Ihre Anregung auf.

Leser Egbert König: Wir siedeln in Thüringen immer mehr Firmen an wie Zalando und andere, die viele Arbeitsplätze mit Niedriglöhnen anbieten. Können Sie nicht dafür sorgen, dass unsere Politiker mehr produzierendes Gewerbe zu uns holen?

Da überfordern Sie uns. Für Arbeitsplätze können wir nicht sorgen, und wir können keinen Unternehmer zwingen, nach Erfurt zu kommen. Aber wir können die Entwicklung kritisch begleiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich habe den Eindruck, dass sich die Erfurter Politik nur halbherzig um das Bahnhofsviertel kümmert.

Die Bahn baut hier den größten Knoten Deutschlands, die Gleise 9 und 10 sind fertig. Aber die Politiker scheinen zu zögern, wenn es darum geht, das Gebiet drumherum aufzuwerten. Ich möchte dafür sorgen, dass wir diesen Politikern gegenüber noch kritischer sind – angefangen beim Oberbürgermeister. Ihm muss es Herzenssache sein, ein so wichtiges Stadtviertel für Firmen und qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv zu machen.

Egbert König: Das ist gut, wenn Sie die Politik mehr in die Pflicht nehmen.

Aber wir müssen auch fair bleiben. Was glauben Sie: Welches Bundesland hat – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – die meisten Industriebetriebe in Deutschland?

Alle: Baden-Württemberg? Hessen?

Nein, Thüringen. Wir haben viele kleine und hochproduktive Firmen, nicht wenige sind Marktführer in Europa, drei Dutzend sogar in der Welt. Zudem haben wir, zumindest in Erfurt, eine der besten Industrie- und Handelskammern in Deutschland.

Egbert König: Von den kleinen feinen Unternehmen lesen wir aber wenig in der TA.

Diese Kritik nehme ich sehr ernst, und ich werde dafür sorgen, dass gerade im Lokalteil die kleinen Firmen eine wichtigere Rolle spielen. Schließlich verdienen sehr viele Menschen hier ihren Lebensunterhalt.

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Thüringer Allgemeine „Domplatz 1“, 12. April 2014

Herbert Kolbe ist tot: Der Pionier der lokalen Welt-Zeitung – aus Emden

Geschrieben am 12. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Jede deutsche Zeitung vor dreißig Jahren war ein „Generalanzeiger“: Große Politik, große Wirtschaft, große Kultur und am Rande ein bisschen Lokales. Wer nicht mitleidig belächelt werden, wer etwas werden wollte, der sah zu, dass er so schnell wie möglich aus der Lokalredaktion in den „Mantel“ kam.

Die Revolution kam aus dem Norden, von einer kleinen Zeitung an der holländischen Grenze mit gerade mal neuntausend Abonnenten. Der Revolutionär hieß Herbert Kolbe, die Zeitung war die Emder Zeitung.

Herbert Kolbe wurde in Emden 1981 Chefredakteur: Er hatte  eine Mission:

Durchdringung der ,großen‘ Nachrichten mit dem Lokalen, wobei ich es lieber umgekehrt formuliere: Durchdringung des Lokalen mit den ,großen‘ Nachrichten.“

Er hatte eine Mission, die er konsequent verwirklichte, aber er war kein Missionar. Er war Realist, der sich die Frage stellte: Ist die Zeitung im Stile eines Generalanzeigers noch zeitgemäß? Hat sie eine Zukunft?

Kolbe begann die Leser-Forschung bei seinem Verleger Edzard Gerhard, der Anfang der achtziger Jahre den Verlag von seinem Vater übernommen hatte: „Ich mochte die eigene Zeitung nicht mehr lesen“, bekannte der Verleger. So viel Ernüchterung war selten, wenn nicht einmalig vor 35 Jahren. Auch der neue Chefredakteur mochte seine Zeitung nicht – und war erstaunt, dass es seinen Lesern ähnlich ging.

Sie langweilten sich bei Meldungen wie „Außenminister Genscher wird morgen mit seinem Amtskollegen NN zusammentreffen und voraussichtlich die bilteralen Beziehungen erörtern…“ Kolbe beschloss das Ende der Langeweile, wollte nicht mehr die kostbare Zeit seiner Leser vergeuden – und verbannte „die zahllosen Handschüttel- und Bundestags-Stehpult-Bilder gnadenlos aus der Zeitung“. Er riß die Ressortgrenzen nieder, schuf eine vertikale Struktur in der Redaktion – also: Lokales und Welt auf Augenhöhe. „Rathaus und Bundeshaus in einem Team“, so arbeitete Kolbe in seiner Redaktion.

Kolbe war ein harter Chefredakteur, dem seine Leser wichtiger waren als seine Redakteure – die sich heftige Kritik gefallen lassen mussten:
> Mittelmäßiger bis schlechter Sprachstil,
> weitgehend ohne Kenntnis der journalistischen Stilmittel,
> dürftige optische Darbietung,
> ungeordnet und meist schlecht ausgebildet.

Diese Kritik übte er nicht nur an seiner Redaktion: „Das ist der Standard vergleichbarer Tageszeitungen (was ja nichts mit Auflagenhöhen zu tun hat)“.

Kolbe trennte sich vom Mantel aus Osnabrück und schuf eine Zeitung aus einem Guß. Auf der Titelseite standen gleichrangig Nachrichten aus Emden und der Welt – eben die wichtigsten des Tages aus der Perspektive der Leser. Nicht selten, wenn die Welt ruhte, standen allein Berichte und Fotos aus Emden auf der Titelseite.

Aber nicht „Local first“ wurde zum Prinzip, sondern stets: „Einordnung des lokales Sachverhalts in das Gesamtgeschehen des Tages“ – mit der Folge, die heute Online-Redakteure als von ihnen entdeckten Fortschritt preisen:

Erst in der Mischung aller bedeutenden Ereignisse eines Tages erhält das Lokale den richtigen Platz und angemessenen Stellenwert. Auch das könnte man wieder umgekehrt ausdrücken.

Das erste Buch wurde zum lokalen Buch, Politik und Meinung wanderten ins zweite Buch. Die Hausfarbe der Zeitung wechselte vom Blau zu Orange, der Blocksatz wurde vom Flattersatz abgelöst – ein bisschen und mehr sah dieEmder Zeitung aus wie USA Today. Die Auflage stieg, in manchem Jahr über vier Prozent.

Kolbe nannte seine Revolution selber den „Urschrei“ und machte sich ein wenig lustig über andere, also die meisten Zeitungen, die Alarmzeichen nicht sehen wollten. Der Rest der Chefredakteure machte sich allerdings lustig über den Provinzler von der Küste. Wer das Lokale so hoch schätzte wie Kolbe musste sich Urteile wie „Das Ende des Qualitätsjournalismus“ gefallen lassen.

Nur wenige sahen die Zeichen: Der Wiener Publizistik-Professor Wolfgang Langenbucher geißelte die Mißachtung des Lesers und die Hofberichterstattung in den meisten Zeitungen. Schon in den achtziger Jahren hielt er die wachsenden Reichweiten-Verluste bei den jungen Leuten für eine Gefahr – für die Zeitung wie für Gesellschaft und Demokratie. Die Frage, ob die Zeitung ein Integrationsmedium bleiben kann, hielt Langenbucher für eine „Schicksalsfrage der Gesellschaft“.

Ebenfalls in der achtziger Jahren schuf Dieter Golombek das „Lokaljournalistenprogramm“ – in einer Behörde, der Bundeszentrale für politische Bildung. Kaum ein Programm hat den Journalismus in Deutschland stärker verändert. 1980 vergab  Golombek erstmals den „Deutschen Lokaljournalistenpreis“, der zum bedeutendsten Zeitungs-Preis in Deutschland wurde, der Trends erkannte und setzte. 1980 – das war auch das Jahr, in dem Emden aufbrach in die neue Zeitungszeit.

Die Emder Zeitung hat, wenn ich es recht überblicke, nie den Lokaljournalisten-Preis gewonnen. Das ist einer der wenigen Irrtümer der Jury. Kolbe hätte für seine Pioniertat und sein  Lebenswerk den Preis verdient gehabt – ebenso wie den Theodor-Wolff-Preis, den aber bis heute vor allen Leitartikler und Helden des Generalanzeigers für ihr Lebenswerk bekommen.

Kolbes Konzept ist seltsam modern: Die meisten Debatten um die Zukunft der Zeitung und die Gegenwart des Digitalen kreisen um Themen und Ideen, die er schon früh erkannt und formuliert hatte. Am 6. April 2014 ist Herbert Kolbe gestorben, 72 Jahre alt.

Ich habe viel von ihm gelernt. Parallel zur Emder Zeitung entwickelte ich mit meiner Redaktion in der Oberhessischen Presse eine moderne Lokalzeitung im Marburg der achtziger Jahre, belächelt von den meisten in der Zunft, aber geachtet von den Lesern in der Universitätsstadt; auch in Marburg stieg die Auflage kontinuierlich, als das Lokale auf die Titelseite und  ins erste Buch kam.

Der Chefredakteur der Oberhessischen Presse berief sich übrigens auf ein noch älteres Konzept, das der US-Presse-Offizier Shepard Stone 1945 bei der Lizenzvergabe so formuliert hatte:

Die Zeitung muss sich durch die Art ihrer Berichterstattung das Vertrauen der Leser erwerben: Der Lokalberichterstattung muss die stärkste Beachtung geschenkt werden und damit den vordringlichsten Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volks.

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Quelle für Kolbe- und Langenbucher-Zitate:
> Bernd-Jürgen Martini „Journalisten-Jahrbuch 1989“, darin:
> Herbert Kolbe „Das Beispiel Emden: Wie man Erfolg hat“
> Wolfgang Langenbucher „Noch immer wird der Leser mißachtet!“

Die neue Basis des Journalismus: Storytelling und Multimedia

Geschrieben am 9. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Was sind die Grundlagen des Journalismus? Diego Yanez ist der neue MAZ-Direktor, der Schweizer Journalistenschule; er beantwortet die Frage nach der „soliden Grundausbildung“ im April-Newsletter der Schule:

Recherche, Medienrecht, Storytelling, multimediale Fertigkeiten und vieles mehr.

Schreiben und Redigieren und die Nachricht und die Reportage, über Jahrhunderte die Basis des Journalismus, gehören mittlerweile zu „vieles mehr“. Aber immerhin, so beginnt der Newsletter: „Journalismus ist nach wie vor ein Traumberuf.“ Dann tell me mal ne Story.

In den Grundkurs zum Interview gelangt sicher bald das Interview im Newsletter mit einer erfolgreichen Absolventin. Beispiel:

Frage: Pro Jahr schliessen fast 100 junge Journalisten eine Journalistenschule ab. Braucht es die alle?
Antwort: Keine Ahnung.

Braucht es die alle?

Neu im Journalisten-Wörterbuch: Freudscher Verschreiber

Geschrieben am 8. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Sigmund Freud hat den Freudschen Versprecher erfunden, die FAZ den Freudschen Verschreiber – zu finden in einer kleinen Feuilleton-Notiz:

Nicht „frische Lust“, sondern „frische Luft“ hatte im Münchner Residenz Theater der Titelheld von Harold Pinters „Hausmeister“ im Sinn. (F.A.Z. vom 3. April). Wir bitten den Freudschen Verschreiber zu entschuldigen. F.A.Z.

Die psychischen Ursachen des Verschreibens wäre einige Zeilen wert gewesen, so wie sie Sigmund Freud beim Versprecher entlarvt hatte:

Ein Mann erzählt von irgendwelchen Vorgängen, die er beanstandet, und setzt fort: Dann aber sind Tatsachen zum ‚Vorschwein‘ gekommen. Auf Anfrage bestätigt er, dass er diese Vorgänge als ‚Schweinereien‘ bezeichnen wollte.)‚“Vorschein“ und „Schweinerei“ haben zusammen das sonderbare ‚Vorschwein‘ entstehen lassen.

Quelle: FAZ, 7. April 2014

Ausgebrannt oder burn-out? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 7. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Alle reden vom „Burn-out“. Wer nicht Symptome dieser Krankheit spürt, ist nicht von dieser Zeit: Der Alltag und der Beruf, die Gesellschaft und der Kapitalismus machen uns fertig. Wer stöhnt nicht unter der Last? Wer kann es sich überhaupt leisten, nicht zu stöhnen?

Ist Burn-out überhaupt eine  Krankheit? Im großen Buch der 12.000 Diagnosen, das die Weltgesundheits-Organisation herausgibt, fehlt das Burn-out.

Denken wir hier nicht über Erschöpfung und Stress nach, sondern über das Wort, den Anglizismus „Burn-out“; der Duden führt ihn seit gut zehn Jahren und gibt als Schreibweise „das (!) Burn-out“ vor, ersatzweise auch zusammengeschrieben „Burnout“. Wir könnten ein treffendes deutsches Wort dafür finden: ausgebrannt. Das Sprachbild ist stark, reizt unsere Sinne: So wie ein Haus ausbrennt, so brennt die Seele eines Menschen aus. 

Der „Sturm-und-Drang“-Erfinder Friedrich Maximilian Klinger war ein Jugendfreund Goethes, der eine Zeitlang  in Weimar lebte. Er dürfte als erster „ausgebrannt“ für eine Regung unserer Seele, für das Ende einer Liebe,  genutzt haben. In seinem Drama „Der Günstling“, vor gut zwei Jahrhunderten geschrieben,  sagt einer:

Eure Liebe war ein Traum, der um beseelte Schönheit buhlte; Ihr fandet sie verschwunden und Eure Liebe brannte aus.

Doch „ausgebrannt“ machte keine Karriere in unserer Sprache. So ließen wir „Burn-out“ einwandern:

> In den USA schrieb Graham Greene in den sechziger Jahren die Aussteiger-Geschichte_ „Ein ausgebrannter Fall“ (A burnt-out case). Ein Kirchen-Architekt ist seiner Arbeit und seines Lebens überdrüssig und wandert nach Afrika aus.
> In den achtziger Jahren der USA galt „A burn-out“ auch nicht als Krankheit, sondern als Lebensmotto: Junge Rebellen und Aussteiger wollten lieber kurz brennen, als ein langes langweiliges Leben führen.

Der Sänger Neil Young schrieb die Hymne der brennenden Generation: Besser ist es zu verbrennen als langsam zu verblassen  („It’s better to burn out than to fade away“). Kurt Cobain, der Kult-Rebell, schrieb vor genau zwanzig Jahren diese Zeile in seinen Abschiedsbrief und erschoss sich mit einer Schrotflinte.

Kolumne „Friedhof der Wörter“ in Thüringer Allgemeine 7. April 2014 (redigierte Fassung)

Das Greene-Buch „Ein ausgebrannter Fall“ ist als dtv-Taschenbuch auf dem Markt.
Neil Youngs Lied ist „My my – Hey hey“

Wenn ein Fehler, der hinten im Blatt steht, vorne korrigiert wird

Geschrieben am 7. April 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 7. April 2014 von Paul-Josef Raue in K 39 Ein heikler Souverän.

Heute feiert Gerhard Schröder seinen 70. Geburtstag. „Am 7. April 1944 ist Gerhard Fritz Schröder geboren“, so stand es auch korrekt im SZ-Wochenend; allerdings stand wenige Zeilen zuvor: „An diesem Sonntag wird Gerhard Schröder 70“. Da hatte einer Sonntag und Montag verwechselt.

Also kommt die Korrektur in derselben Ausgabe der SZ auf der Leserbrief-Seite. Der Leser ist verwirrt: Warum korrigieren die Redakteure den Fehler nicht an Ort und Stelle?

Der Grund ist einfach: Das „Wochenend“ wird im Vordruck erstellt, liegt also den Redakteuren schon am Freitag gedruckt vor – und da hat einer den Fehler entdeckt. Ob der Leser das verstehen kann, wenn die Redakteure ihm das nicht erklären?

Bilder, die sich ins Gedächtnis der Menschheit einprägen: Was wäre die Welt ohne Reporter wie Anja Niedringhaus?

Geschrieben am 6. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Ermordung der Fotografin Anja Niedringhaus kommentieren die meisten Zeitungen als einen Beleg, wie schlimm es um Afghanistan bestellt ist und wie wenig Chancen dieses Land hat – trotz der Wahlen; einige, wie die FAZ, kommentieren, es gebe Fortschritte – trotz der Ermordung der deutschen Fotografin.

Wir sollten uns aber zuerst  vor der Fotografin verbeugen, vor ihrem Mut, für die Freiheit der Menschen und die Freiheit der Presse ihr Leben zu riskieren. Mancher mag denken: Was bringt es denn, sein Leben zu opfern in Ländern, die uns wenig angehen und denen sowieso nicht zu helfen ist? 

Es bringt viel! Fotos aus Vietnam, auch unter Lebensgefahr auf den Film gebracht, leiteten das Ende dieses  Krieges ein. Das Foto des nackten Mädchens, das vor der Napalm-Wolke flieht, hat sich in das Gedächtnis der Menschheit eingeprägt.

Die Welt wäre anders, wenn Fotografinnen wie Anja Niedringhaus nicht mehr ihr Leben riskierten – um der Welt, den Politikern und den Menschen guten Willens zu zeigen, welcher Wahnsinn immer noch um uns herum tobt. Die Kriegsreporter und alle, die um der Wahrheit willen recherchieren, sind eine Art Weltgewissen, vielleicht sogar eine heimliche Weltregierung. Wenn sie fehlen oder immer weniger werden, wird diese Welt eine andere sein – und sicher keine bessere.

Verneigen wir uns vor Anja Niedringhaus und all den anderen. Ihr Tod ist eine Tragödie für die Welt und ein Verlust für uns Journalisten. Ellen Dietrich, die Bildchefin der Zeit, berichtet: „Wir haben hier in der Redaktion gesessen und geweint.“ Am Ende bleiben nur die Tränen.

Jochen Reiss‘ Porträt der Fotografin Anja Niedringhaus, erschossen in Afghanistan

Geschrieben am 6. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Braune Outdoor-Jacke mit aufgesetzten Taschen, da geht was rein. Den braunen Rucksack mit der Kamera hat sie auf dem Rücken. Anja Niedringhaus kommt mit dem Rad, sie kettet es vor dem Genfer Hauptbahnhof an. Gespräch in der Bahnhofspizzeria beim Cappuccino. Zwischendrin muss sie telefonieren. „I’ll be there just in time.“ Sie will sich Zeit nehmen, aber sie ist unter Druck. Spätestens um 16.45 Uhr muss sie los. Um 17 Uhr schließt das Konsulat Afghanistans und sie hat ihr Visum noch nicht. Morgen will sie wieder nach Kabul. Alle zehn Minuten zündet sie ihre Elektro-Zigarette an. Sechs Jahre lang war sie weg vom Rauchen. Im Krieg in Libyen hat sie wieder angefangen.

Anja Niedringhaus ist Kriegsfotografin. Der Gaza-Streifen, Afghanistan, Pakistan, Libyen, Kuwait, der Irak – die Stempel in ihrem Pass lesen sich wie die Landkarte der Krisengebiete. Mit dem Balkan-Krieg hat alles angefangen. Sie hat aber auch andere Themen: Wimbledon, Fußball-Weltmeisterschaften oder -Europameisterschaften, internationale Leichathletik-Turniere, auch mal der Papst auf Reisen.

So beginnt Jochen Reiss sein Porträt von Anja Niedringhaus, das 2013 in seinem Buch „Menschen machen Medien“ erschienen ist (mehr dazu im Anhang dieses Blogs). Am Freitag, 4. April 2014, ist die Fotografin in Afghanistan von einem Polizisten erschossen worden, als sie über den Wahlkampf berichtete.

Eines ihrer Fotos zeigt einen US-Marineinfanteristen mit entschlossenem Blick in schwerer Montur. Er führt einen jungen Mann in schwarzen Kleidern ab, barfuß, die Hände auf dem Rücken mit Kabelbindern gefesselt. Die rechte Hand des Soldaten drückt den Nacken des Festgenommenen tief nach unten. In der linken hält er sein Gewehr. Das Foto ist eines der Bilder, für das Anja Niedringhaus als erste deutsche Fotografin den Pulitzerpreis bekommen hat.

„Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt“, sagt Anja Niedringhaus. Das Foto macht sie während der zweiten Schlacht um die irakische Rebellen-Hochburg Falludscha im November 2004. Phantom Fury wird die Operation genannt, gespenstische Wut. 1.200 Aufständische und 64 Soldaten werden getötet. Es ist der schwerste Häuserkampf des US-Militärs seit der Schlacht um Hué in Vietnam im Jahr 1968.

Das Foto ist eines der wenigen Hochformate, die sie macht. Sonst fotografiert sie quer. „Man sieht ja auch nicht hochkant.“ Sie hat es so schwerer, dass eines ihrer Motive es auf das Cover von Newsweek oder des Time Magazine schafft. Das nimmt sie in Kauf.

Manchmal ist Anja Niedringhaus in der Frontlinie, wo die Kugeln pfeifen. Meistens zeigen ihre Bilder die anderen Opfer eines Krieges, die toten und verletzten Zivilisten, die Hinterbliebenen, die Traumatisierten, das Ringen um Würde und Normalität in der Ausnahmesituation. „Ich bin ja nicht auf der Suche nach dem Bang-Bang. Ich glaube, dass andere Fotos viel mehr zeigen können. Was passiert nach dem Bang-Bang? Welche tiefen Spuren hinterlässt der Krieg? Wie geht es den Menschen, die leiden und sich im Krieg zurechtfinden müssen? Das ist es, was ich erzählen möchte.“

Ein Foto zeigt den Schmerz eines jungen Libyers. Pfleger trösten ihn, im Krankenhaus von Bengasi hat er gerade seinen getöteten Bruder identifiziert. Auf einem anderen ist ein US-Soldat mit nacktem Oberkörper in Afghanistan zu sehen. Er hat einen Bauchschuss, im Lazaretthubschrauber greift er nach seinem Rosenkranz. Einmal kommt Anja Niedringhaus an einem Auto vorbei, eine Granate hat es gerade getroffen. „Da klebte eine ganze Familie an den Resten der Autoscheiben. Es waren zwei Kinder dabei.“

Widerwillig nähert sie sich, die letzten Meter geht sie nur noch mit der Kamera vor den Augen, um die Strecke zu schaffen. „Wenn ich ein schreibender Journalist wäre und würde diese ganzen Dinge sehen, hätte ich ein größeres Problem. Ich bin meiner Kamera dankbar, sie ist immer auch ein Schutz. Die Konzentration schirmt mich ab gegen die Eindrücke.“ Als Anja Niedringhaus damals am Abend die Bilder editiert, muss sie sich mehrfach übergeben.

Früher hat sie mal geglaubt, wenn man ihre oder die Fotos der Kollegen druckt, dann muss ein Krieg doch aufhören. Sie weiß heute, dass sie Kriege nicht stoppen wird. „Aber ich kann trotzdem etwas tun. Ich habe die Aufgabe, darüber zu berichten, und hoffe, dass sich etwas ändert. Vielleicht werden Hilfsgüter mobilisiert. Vielleicht werden Politiker sensibler. Und gerade, wenn die Menschen zuhause müde, abgestumpft sind, weil es einen Krieg seit zehn Jahren gibt, wenn es kaum noch Interesse daran gibt – gerade deshalb muss man immer wieder hin und dokumentieren: Der ist aber noch da, dieser Krieg.“

Dafür riskiert sie seit mehr als 20 Jahren ihr Leben. Auch wenn sie vorsichtig ist. „Angst muss man sich behalten. Angst ist ja auch eine gute Warnung, ich bin ja kein Rambo. Angst ist lebenserhaltend.“

Wenn Anja Niedringhaus an die Front geht, wenn sie embedded ist, eingebettet in eine militärische Einheit, ist sie gerne mit Soldaten unterwegs, die sie schon kennt. Auch das hilft gegen die Angst. „Es hilft, sich zurechtzufinden. Es ist gut zu wissen, wo man sich sicher schlafen legen kann. Die Soldaten vertrauen mir und ich vertraue ihnen. Es ist ganz oft eine große Kameradschaft. Wenn es wirklich um Leben und Tod geht, trifft man die ehrlichsten Menschen. Wir lachen aber auch viel. Sonst hält das keiner aus.“

Die Fotografie, meint sie, sei „die ehrlichste Sparte im Journalismus. Weil ich das Geschehen mit eigenen Augen gesehen haben muss.“ Sie kennt nur wenige schreibende Kollegen, die unmittelbar von der Frontlinie berichten. Der Spar-Zwang in vielen Medienunternehmen mache es den Textern auch immer schwerer, überhaupt rauszukommen. Sie als Fotografin sei da im Vorteil. „Immer öfter heißt es doch: Können Sie das nicht reintelefonieren? Gott sei Dank kann ich kein Foto reintelefonieren. Journalismus findet auf der Straße statt. Nicht im Büro.“

Anja Niedringhaus weiß, dass sie einen mächtigen Schutzengel haben muss. Er passt auch am 11. September 2010 auf sie auf. Sie begleitet eine Fußpatrouille des Royal Canadian Regiments in Afghanistan, seit vier Uhr morgens sind sie unterwegs. Sie erreichen das Dorf Salavat in der Kandahar-Region im gefährlichen Süden Afghanistans. Anja Niedringhaus gelingt noch das Foto eines Soldaten, der mit dem rechten Fuß ein Huhn aufscheucht. Er trägt ein Maschinengewehr und zusätzlich eine Pistole in einem Halfter am Bein. Die Sonne steht noch tief, es ist ein Foto mit viel Schatten, fast wie ein Scherenschnitt. Es ist eines der schönsten Bilder der Fotografin.

Sie lehnt an einer Lehmwand, als sie die Szene fotografiert – da fliegen Handgranaten über die Mauer, detonieren. Anja Niedringhaus merkt stechende Schmerzen im Gesäß bis zur Hüfte, denkt aber: Sind das Dornen? Sie geht in Deckung, fotografiert weiter, klettert mit den anderen über eine Mauer, als einer ruft: „Anja blutet!“

Ein Hubschrauber bringt sie und einen verletzten Soldaten zum Militärhospital nach Kandahar. Dutzende sechs Millimeter große Metallsplitter stecken in ihrem Körper, einer ganz dicht am Ischias-Nerv. Ärzte operieren sie heraus. An vier kommen sie nicht heran. Anja Niedringhaus spürt sie heute manchmal noch. Lebensnotwendige Organe haben die Splitter nicht verletzt. Die kugelsichere Weste hat sie aufgehalten.

Die lebensrettenden Kevlar-Platten in der Weste lässt sie ersetzen. Zwei solcher Panzerungen hat Anja Niedringhaus. Eine der Westen ist in Kabul deponiert, die andere liegt in einem idyllisch gelegenen Forsthaus bei Kassel. Dorthin, zu ihrer Schwester, dem Schwager, deren drei Kindern und den Pferden taucht sie gelegentlich für ein paar Tage ab. Abstand bekommen! Das Lachen der Kinder! Auftanken! Eigene Kinder sind mit der Berufsleidenschaft von Anja Niedringhaus nicht zu vereinbaren. Was hätte sie fotografieren sollen? Lokaltermine? Regionalsport? „Ich hätte mich gefürchtet davor, die Kinder einmal dafür verantwortlich zu machen, dass mein Leben einen anderen Weg gegangen ist.“

In Göttingen studiert Anja Niedringhaus Germanistik, Philosophie und Publizistik, Schwerpunkt Fotografie. Nach dem ersten Semester geht sie für vier Monate nach Südindien, hilft dort in einem Heim für Polio-Kinder. „Ich wollte immer viele Länder bereisen. Aber dort gar nichts tun, das kann ich nicht.“ Schon beim Großvater sitzt sie als Kind vor dessen Globus, kann aber Höxter nicht finden. Daraus schließt sie, dass die Welt groß sein muss. Wie groß, das will sie entdecken. Vom Großvater bekommt sie auch ihre erste Kamera, eine Contax. Anja Niedringhaus fotografiert, seit sie zwölf Jahre alt ist. Mit 13 hat sie ein Nikon Einsteigermodell.

Beim Göttinger Tageblatt macht sie ein Praktikum, bekommt einen Job als Pauschalistin, schreibt und fotografiert. Sechs Jahre arbeitet sie als Freie fürs Tageblatt, danach erhält sie eine Stelle als Fotografin der European Pressphoto Agency (EPA) in Frankfurt am Main. Sport- und Gesellschaftsfotografie. Dann bricht 1991 der Balkan-Krieg aus. Anja Niedringhaus ist nachts auf der Rückfahrt von einem Termin in Baden-Baden, als sie im Radio die Nachricht hört von den ersten Kämpfen in Slowenien. „Das war für mich ganz klar: Wenn ich mich für diesen Beruf entschieden habe, dann gibt’s auch hier kein Wenn und Aber. Dann gehören die Kriege dazu.“

Sie meint, anfangs sei sie ganz schön naiv gewesen. „Wie das ist, wenn eine Rakete abgefeuert wird, die Menschen töten kann, das kannte ich ja bisher nur aus Filmen. Dies dann zu sehen in der Realität, ist eine Prüfung an sich selbst. Das war das Wichtigste für mich, dass ich gemerkt habe, ich halte das durch, ich kann das.“

Gleich in den ersten Kriegsjahren wird sie von Heckenschützen unter Feuer genommen, sie trägt auch damals schon eine kugelsichere Weste. Bei einer Demonstration in Belgrad fährt ein Polizeiauto ihr über den Fuß und bricht ihn in Stücke. Drei aufwändige Operationen sind nötig, um ihn zu rekonstruieren. Mit Kollegen ist Anja Niedringhaus an der Grenze zwischen Albanien und dem Kosovo unterwegs, als Nato-Flugzeuge die Journalisten beschießen. Sie können sich retten in Autos und Unterstände. 20 Minuten dauert der Angriff, bis die Nato ihren Irrtum bemerkt. Die International Women’s Media Foundation zeichnet Anja Niedringhaus später für mutigen Journalismus aus.

Sie lebt damals auch in Sarajewo, wird Chef-Fotografin der EPA, koordiniert die Fotografen-Einsätze. Dann der Anruf der Associated Press (AP). Man hat die Position eines reisenden Fotografen mit Standort in Genf zu vergeben. Anja Niedringhaus sagt noch am Telefon zu. „Ich kenne ja nichts anderes in meinem Leben, als zu reisen.“ Es geht gleich los. Israel, der Gaza-Streifen. Dann Kuwait, die US-Army sammelt dort ihre Truppen für den Einmarsch in den Irak. AP versichert Anja Niedringhaus. 400 Fotografen hat die Agentur weltweit, nur zwei Frauen berichten von den Kriegen. Die Kollegin von Anja Niedringhaus riskiert in Afrika Kopf und Kragen.

Es gibt eine Vereinbarung mit den Amerikanern. Fotos von Toten dürfen erst nach zwei Tagen und nur mit Genehmigung veröffentlicht werden. Die Gefahr ist zu groß, dass Angehörige die Bilder sehen, bevor man sie verständigen konnte. Verletzte dürfen nur gezeigt werden, wenn sie schriftlich zugestimmt haben. Ohnehin zeigt Anja Niedringhaus nicht alles. „Vielleicht mache ich das Foto, aber eine ganz andere Überlegung ist: Sende ich das auch? Jeder hat sein Menschenrecht. Es ist in 99 Prozent der Fälle nicht wichtig, etwa Verstümmelungen zu zeigen. Ich möchte ja vielleicht auch nicht so gesehen werden im Sterben. Man kann eine Geschichte auch anders erzählen als mit martialischen Fotos.“ In Sarajewo legt sie die Kamera einmal ganz weg. Sie fährt Verletzte ins Krankenhaus. Ein Foto hat sie abends nicht.

Südafghanistan, die Provinz Helmand. Der junge Marineinfanterist Corporal Burness Britt führt eine Patrouille durch ein Weizenfeld. Er ist erst 22 Jahre alt, dieser Einsatz ist sein erster in dieser Region. Plötzlich explodiert ein versteckter Sprengsatz nur wenige Meter entfernt. Ein großer Metallsplitter schneidet durch Burness Britts Nacken, zerfetzt eine Arterie, bleibt stecken. Die Druckwelle schleudert ihn durch die Luft.

Der Rettungshubschrauber vom Team für Medical Evacuation ist schnell vor Ort. Anja Niedringhaus ist an Bord, sie ist mal wieder embedded. Fünf Männer sind schwer verletzt, Burness Britt hat es am schlimmsten erwischt. Das Blut spritzt auch noch, als er im Helikopter liegt. In der rechten Hand hält Anja Niedringhaus die Kamera, sie macht ihre Fotos. Mit der anderen drückt sie eine Hand des Soldaten. Er erwidert die Geste, klammert sich fest, bis er bewusstlos wird. Er ringt mit dem Tod.

Britts Uniformhemd ist zerfetzt, blutgetränkt. Anja Niedringhaus entdeckt darauf eine Weizen-Ähre, steckt sie in die Tasche ihrer kugelsicheren Weste. „Ich habe viele verletzte Zivilisten und Soldaten gesehen, aber niemand hat mich mehr beeindruckt als Britt. Ich kannte ihn erst seit ein paar Minuten in diesem Hubschrauber. Aber ich hoffte, ihn eines Tages wiederzusehen. Und ihm dann dieses kleine Stück Weizen geben zu können.“ Der Helikopter fliegt den Corporal zum Außenposten Camp Edi, von dort wird er nach Deutschland ins US-Militärkrankenhaus in Landstuhl gebracht, später in die USA.

Anja Niedringhaus reist zurück in die Schweiz. Die Weizen-Ähre bewahrt sie in einem Schmuckkästchen auf. Sie geht ihrer Arbeit in Europa nach und sucht gleichzeitig nach dem jungen Soldaten. Was mag aus ihm geworden sein? Sie telefoniert die Hospitäler in den USA ab, in denen die schwerverletzten Kriegsveteranen versorgt werden. Aber niemand dort kennt Britt. Sie bittet ihre AP-Kollegen um Hilfe. Eines Abends versucht sie im Internet, mit den Buchstaben seines Namens zu spielen. Sein Vorname sei Burmess, haben sie ihr im Helikopter gesagt. Tatsächlich heißt er Burness. Sie findet einen Artikel über ihn in der Lokalzeitung in seiner Heimatstadt Georgetown, South Carolina. Burness Britt ist auch bei Facebook, er akzeptiert ihre Freundschaftsanfrage, aber er antwortet nicht. Vielleicht will er einfach nur vergessen?

Anja Niedringhaus findet heraus, dass Burness Britt in einem Krankenhaus in Richmond im Staat Virginia gepflegt wird. Sie ruft an, bekommt eine Krankenschwester ans Telefon. Sie hört diese sagen: „Britt, da ist ein Anruf für dich von einer Fotografin aus der Schweiz. Sie war in Afghanistan dabei.“ Stille, dann Burness Britts sanfte Stimme. Am Ende sagt er: „Yes, ma’am, I would like to see you. Come.“

Es ist kurz vor Weihnachten, Anja Niedringhaus fliegt nach Richmond. Im Flur des Hunter Holmes McGuire Medical Center trifft sie Burness Britt. Es fällt ihm schwer, zu gehen, den rechten Arm und das Bein zu kontrollieren. Er trägt einen Helm. Nach vier Wochen im künstlichen Koma hat er einen Schlaganfall erlitten, die Ärzte mussten die halbe Schädeldecke entfernen, um den Druck zu nehmen. Er lächelt. Immer wieder sagt er: „Oh man, it is so good to see you.“

In seinem Zimmer sitzen sie auf seinem Bett. „Haben Sie Fotos dabei?“, fragt Burness Britt. Er will die Bilder aus dem Hubschrauber sehen. Jedes schaut er sich lange an, in seinen Augen sind Tränen. Anja Niedringhaus deutet auf das Foto mit der Weizen-Ähre auf dem blutigen Hemd. „Die habe ich dabei.“ Er sagt, das wird sein neuer Talismann. „Sie geben mir einen Teil meines Lebens zurück.“

Jochen Reiss: Menschen machen Medien. Daedalus-Verlag, 246 Seiten, 19.95 Euro 

Kurzbesprechung:

Gute Journalisten schreiben am liebsten über Menschen statt über Sachen. Erstaunlich selten schreiben Journalisten über Journalisten, es sei denn in hämischer Absicht.

Der Münchner Journalist Jochen Reiss hat 32 meist wenig bekannte Journalisten beobachtet und mit ihnen gesprochen:  Porträts einer aufregenden und bewegenden Zunft, die sich ihrer Macht bewusst ist – zum Beispiel

> Die Lokalreporterin, die  Neonazis jagt und der ein Polizist rät, sich nicht zu verstecken: „Öffentlichkeit schützt!“
> Die West-Korrespondentin in der DDR, die eine  500 Seiten starke Stasi-Akte hat und heute Medienwächterin in Sachsen ist.

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Ausschnitte aus Reiss‘ Porträt erscheinen in der Thüringer Allgemeine 7. April 2014

Elend und wenig Glanz im Sportjournalismus: „Die Sache ist durch“

Geschrieben am 5. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Was macht aus einem Sportreporter einen guten Journalisten? Wenn er keine dämlichen Fragen stellt!  Wenn er sein Urteil über ein Spiel nicht dem Trainer ins Gesicht soufliert – und noch mühsam ein Fragewort anschließt: „Oder?“?

„Die Sache ist durch – oder?“, meinte der junge ZDF-Reporter Jochen Breyer im Angesicht von Jürgen Klopp, nachdem Borussia Dortmund gerade hoch in Madrid verloren hatte. Das ist eine Suggestivfrage, die ein Journalist nur in hoher Not nutzt – wenn er beispielsweise einen Politiker in die Enge treiben will, um ihm endlich die Wahrheit zu entlocken.

„Doofe Frage“, meint Bild-Kult-Briefeschreiber Franz-Josef Wagner und rammt den ZDF-Reporter gleich in Grund und Boden: „Ein grinsendes Milchbärtchen, der sein Mikro hält wie einen Babyschnuller… und erst einmal anfangen sollte bei Blindekuh und Federball.“

Der FAZ-Redakteur Tobias Rüther, zehn Jahre älter als der ZDF-Reporter, kritisiert wie sein Bild-Kollege: „Im Vollbesitz des Mikrofons weidete sich Jochen Breyer an der Wehrlosigkeit Klopps.“

Rüther zielt aber mit seiner Kritik ins Grundsätzliche: Welches Selbstverständnis haben die Sportjournalisten im Fernsehen?

Die fünf Minuten vom Mittwochabend zeigten wieder einmal den kaum zu ertragenden Opportunismus im Fernsehsportjournalismus: Wenn es gut läuft, siegen die Moderatoren und Kommentatoren immer schön mit, wenn es schlecht ausgeht, wissen sie aber ganz genau, woran es gelegen hat. Das ist eine Machtfrage.

Das ist das Prinzip des Boulevards: Wer mit uns im Aufzug nach oben fährt, fährt mit uns auch wieder nach unten. So prinzipiell konnte Franz-Josef Wagner nicht kommentieren.

Bild-Kolumnist Alfred Daxler heute (5. April) hat in „Nachgehakt“ sein Archiv geöffnet und die schönsten Trainer-Reaktionen auf dumme Journalisten-Fragen zelebriert:

„Dann interview dich doch selbst!“ (Jürgen Klopp)

„Haut‘s euch in Schnee!“ (Ernst Happel)

„Sie (Journalisten) denken nur von der Tapete bis zur Wand!“ (Max Merkel)

„Schleich di mit deinem Kasperl-Sender…“ (Franz Beckenbauer)

Und wie reagierte Jürgen Klopp auf die  Frage des ZDF-Reporters? Mit einer Gegenfrage: „Wie könnte man mir Geld überweisen für meinen Job, wenn ich heute hier stehen würde und sagen würde: Das ist durch?“

Und wie reagierte der ZDF-Reporter Breyer gegenüber Bild? „Das war eine dämliche Frage.“

Am Ende waren es doch zwei Profis, der Klopp und der Breyer.

Quellen: Bild 4. und 5. April, FAZ 4. April

Wenn Studenten keine Zeitung mehr lesen, verdummt die Gesellschaft (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 31. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Beerdigen wir kurz und würdelos diese Wörter und Wendungen:

  •   Vorraussetzung
  •   Beispiel hier führ
  •   Vermeidlich (statt: vermeintlich)
  •   Wiederrum
  •   Wiederstand

Diese Wörter fand die Politikwissenschaftlerin Hannah Bethke aus Greifswald in Hausarbeiten ihrer Studenten. Es sind, so versichert sie, nur Beispiele.
Sie ist erschüttert über die Unkenntnis der deutschen Rechtschreibung bei den meisten Studenten. „Es werden Fehler gemacht, mit denen man nicht einmal einen Hauptschulabschluss kriegen dürfte“, schreibt sie in einem Artikel für die FAZ.

Diese Mängel stellt sie fest:

  1. Der Konjunktiv: grundsätzlich falsch oder gar nicht angewendet.
  2. Die Regeln der Kommasetzung: weder verstanden noch umgesetzt.
  3. Die Groß- und Kleinschreibung: Ein großes Rätsel des Universums.
  4. Satzbau: Unlogisch, oft unvollständige Sätze.
  5. Grammatik: Tiefgreifende Unkenntnis.

Die Ursachen sieht die Dozentin in der Weigerung der Studenten, noch Bücher zu lesen, in der Weigerung von Lehrern und Professoren, Fehler zu kontrollieren und schlechte Noten zu geben, und im Versagen des Bildungssystems. Fügen wir noch hinzu: Auch in der Lustlosigkeit der jungen Leute, Zeitung zu lesen.

Die Zukunft sieht Hannah Bethke düster: Eine nachhaltige Verdummung der Gesellschaft.

Hat sie Recht? Oder übertreibt sie?

Kolumne „Friedhof der Wörter“, Thüringer Allgemeine, 31. März 2014

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