Darf ein Gericht anordnen, das Foto einer Zeugin zu pixeln?

Geschrieben am 28. November 2013 von Paul-Josef Raue.

NSU-Prozess am Mittwoch: Die Mutter der Angeklagten Zschäpe ist als Zeugin geladen. Das Gericht ordnet an: Fotos von der Mutter müssen gepixelt werden.

Die Deutsche-Presse-Agentur (dpa) pixelt mit der Begründung „Das Gericht hat Hausrecht bei Prozessen. Davon machte es Gebrauch, und wir müssen uns an die Vorgabe halten.“

Meine Zeitung, die Thüringer Allgemeine, hat einen eigenen Fotografen im Gericht, der die Mutter vor dem Gerichtssaal fotografiert hatte. Der TA-Desk folgte seinem Hinweis, pixelte und schrieb in die Bildzeile: „Auf Anweisung des Gerichts muss Annerose Zschäpe auf Fotos gepixelt werden.“

Die Bildzeitung pixelte nicht und zeigte die Frau, die ihr Gesicht mit einer Sonnenbrille nahezu unkenntlich gemacht hatte; dazu kommen ein hoch geschlossener Mantelkragen und eine dunkle Wollmütze, tief in die Stirn gezogen.

Darf das Gericht solch eine Anordnung treffen? Nein, sagt der deutsche Presserechtler Johannes Weberling aus Berlin:

Natürlich kann das Gericht nur Auflagen zu Aufnahmen im Gerichtssaal machen. Aber selbst die binden nach der Rechtsprechung u.a. des BGH nicht die Presse bei ihrer eigenverantwortlichen Entscheidung und Abwägung, ob und inwieweit ein Bild veröffentlicht wird.

Weberling verweist auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der es unter anderem heißt:

Aus dem begrenzten Zweck der Sitzungspolizei erwächst dem Vorsitzenden nicht die Befugnis, die Zulässigkeit der Bildveröffentlichung zum Schutz des Persönlichkeitsrechts der Verfahrensbeteiligten zu regeln…

In der Verpflichtung zur Anonymisierung liegt eine gewichtige Beschränkung der Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit, die eine Rechtfertigung aus den Umständen des Einzelfalls voraussetzt… Es ist nicht ersichtlich, dass das Anonymisierungsgebot zu diesem Zeitpunkt noch zur Sicherung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Strafverfahrens erforderlich war…

Datum des Prozesstages: Mittwoch, 27. November 2013

In Halle an der Saale wird der Bürger beerdigt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. November 2013 von Paul-Josef Raue.

„Ich fall vom Pferd“, reagierte Verena Ullmann, als dieser „Friedhof“ auf Facebook erschien; „Wahnsinn“ kommentierte Daniel Bauer und „Jessas“ Thomas Mrazek. Das ist der „Friedhof“:

In Halle an der Saale, die sich als Kulturstadt rühmt, werden der Lehrer und der Trainer abgeschafft, der Chef und der Geschäftsführer, der Wähler und der Absolvent – und das Rednerpult. Diese Wörter werden im Stadtrat amtlich beerdigt.

Der Oberbürgermeister und der Amtsrat, der Bibliotheks-Direktor und Pressesprecher, so sie diese Titel überhaupt noch tragen dürfen, müssen die Sprache verändern; diese prangern Halles Volksvertreter an als „auf bestimmte Normvorstellungen fixierte Zuschreibung von Tätigkeiten und Eigenschaften an Frauen und Männern“.

Wie dieser Satz belegt: Es geht nicht darum, die Behördensprache verständlicher zu machen, „Normvorstellungen“ und „fixierte Zuschreibung“ zu beerdigen, sondern die Welt zu verändern – mit Wörtern. Die Menschen werden aus der Sprache getilgt: Aus dem Rednerpult wird das „Redepult“, aus dem Wählerverzeichnis das „Wahlverzeichnis“, aus dem Lehrer die „Lehrkraft“, aus dem Chef die „Führungskraft“ und aus dem Trainer das „Trainingspersonal“.

Auf den Bibliotheks-Direktor, ab heute: Bücher-Führungskraft, kommt viel Arbeit zu. Er muss viele Bücher korrigieren: Aus „Wanderers Nachtlied“ von Goethe wird „Wanderungs Nachtlied“, aus Kafkas „Brief an den Vater“ wird „Brief an ein Elternteil“.

Viele Bürokraten und Politiker haben kein Problem damit, sich schwer verständlich auszudrücken; in Halle dürfen sie diese Unfähigkeit als Weltverbesserung feiern. Nur – wer Sachen mehr mag als Menschen, wer aus dem Bürger die „Bürgerschaft“ macht, der macht die Sprache unmenschlich.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 25. November 2013

Überall wird gescannt und durchleuchtet – bis auf einen, einen allerletzten Ort: Nordkorea. Marcel Reif war dort

Geschrieben am 24. November 2013 von Paul-Josef Raue.

TV-Sport-Kommentator Marcel Reif war drei Tage in Nordkorea, um Sportjournalisten zu lehren, wie man ein Fußballspiel kommentiert. Fünf Stunden lang spricht er über Emotionen, ohne die eine Reportage nicht gelingen kann – und die Nordkoreaner wollen noch mehr hören, über Emotionen.

Das erzählt Reif dem SZ-Reporter Holger Reitz, der aus dem Gespräch eine empfehlenswerte „Seite Drei“ in der Süddeutschen geschrieben hat: Wenn der Reporter nicht selber nach Nordkorea fahren kann, schreibt er lieber ein Stück von einem, der dort war, als gar nichts. Auch eine Form der Reportage: Ein Reporter erzählt einem anderen Reporter.

Der Reporter, der für die „Seite Drei“ schreibt, schreibt auch über das Gespräch, über seine Strategie, wie aus den Erzählungen eines anderen eine eigene Reportage wird. Er steigt ein mit der Herbstsonne am Zürichsee, ein paar hundert Zeilen später – das Stück füllt wirklich eine komplette Seite – schreien die Möwen am See: Es ist wie im Volontärskurs, Atmosphäre bitte, Sonne und Möwen gehen immer.

Das merkt auch der gestandene Reporter: In der Süddeutschen, weil Qualitätszeitung, geht das eigentlich nicht – es sei denn, ich habe einen guten Grund. Den gibt der Rückkehrer aus Nordkorea: Es ist der Kontrast.

Reif am See sagt: „Sprache. Wir sitzen hier, reden, tauschen Flapsigkeiten aus. Über Möwen. Derlei. Geht in Nordkorea alles nicht. Gibt es nicht. Auch mit denen, die Deutsch können: nicht. Es gibt nichts Ironisches. Nichts.

Du hast natürlich tausend Fragen. Aber du überlegst sofort, in welche Schwierigkeiten du denjenigen bringst, dem du sie stellst. Und dann stellst du sie eben nicht mehr. Du schützt die anderen vor deiner eigenen Neugier, indem du schweigst. Und irgendwann hast du dann gelernt, dass du auf 1000 Fragen auch nur 1001 Ausflüchte hören würdest.“

So wird aus dem Schweigen eine Reportage, nachher, aus zweiter Hand.

„Tor in Pjöngjang“ ist auch eine lustige Reportage: Marcel Reif sitzt in einem riesigen Stadion, gefüllt mit fünfhundert Zuschauern, und schaut einem Spiel zu – Weiß gegen Blau. Er will wissen, auf welchem Tabellenplatz die Mannschaften stehen. Keiner antwortet.

„Noch mal, meine Frage war: Wer spielt da? Sicher kann jede Information gegen Nordkorea verwendet werden, aber in dem Fall war ich sicher, mit meiner Frage nicht in den staatsgefährdenden Bereich vorgedrungen zu sein.“ Die Frage löst Schnappatmung aus bei Journalisten, Aufpassern, Übersetzern. Bis der Mann im Trainingsanzug herangewunken wird. Information: Dritter gegen Vierten…

Abermals Schnappatmung bei Aufpassern und Begleitern.

Dann bittet Reif darum, zu den Zuschauern auf der anderen Seite wechseln zu dürfen. Keine Schnappatmung mehr, erzählt Reif.

„Da war Panik. Bis einer wirklich sagte: Nein, das geht nicht, das sind Fans, da weiß man nicht, was passiert.“ Ist es nicht erstaunlich, dass es in einer Welt, in der alles gescannt und durchleuchtet wird, noch einen allerletzten Ort gibt, den man nicht durchblickt? Nordkorea.

„Es muss Spaß machen, die Zeitung zu lesen“ (Zitat der Woche)

Geschrieben am 23. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Was brauchen unsere Zeitungen?

Sie brauchen Haltung, originelle Meinungen, gute Autoren, eigene, aufregende Enthüllungen. Wagemmut statt Bravheit ist gefragt, die über Jahrzehnte eingeübte Routine – das haben wir doch schon immer so gemacht – ist dabei der größte Feind…

Wir Journalisten müssen uns der Gleichförmigkeit der Meinung entziehen. Weniger Hype und mehr Recherche sind notwendig. Und die Lust zur Provokation sollten wir wiederentdecken, unser Gespür dafür, was unsere Leser am Küchentisch diskutieren oder diskutieren sollten. Es muss Spaß machen, die Zeitung zu lesen. Kurzum: Journalisten müssen ein Produkt mit Charakter machen.

Für Lokal- und Regionalzeitungen gilt, dass sie immer und überall in den Mittelpunkt stellen müssen, was eben nicht in jedem Newsportal zu haben ist: die Berichterstattung aus ihrer Region.

Georg Mascolo in Cicero 12/2013, Ex-Spiegel-Chefredakteur und Ex-Volontär der Schaumburger Nachrichten

Eine kurze Debatte über das „Ich“ in der Reportage

Geschrieben am 22. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Ist das „Ich“ in einer Reportage erlaubt? Eine Debatte entwickelte sich über Facebook, nachdem ich in meinem Blog das „Ich“ gelobt hatte in der vorbildlichen Reportage von Judith Luig über den Verlust ihres ungeborenen Kindes.

Anton Sahlender:

Ich verkürze – hoffentlich zutreffend: Herr Blum hat sehr grundsätzlich die Ich-Form im Journalismus angeprangert. Und ich habe diese Grundsätzlichkeit in Frage gestellt. Da kam mir dieses Ich-Beispiel gerade recht, um meine Meinung im Nachhinein zu unterlegen.

Joachim Blum antwortet:

Das ist eine Version, wo das Ich sogar elementar ist. Qualität und Wirkung dieses Textes sind treffende Argumente dafür, dass das Ich eine absolute Ausnahme sein sollte.

Meine Antwort:

Ich teile Blums Aversion gegen das „Ich“. Das spricht dafür, es nur dann zu gebrauchen, wenn es notwendig ist – wie in dieser Reportage.

Joachim Blum:

Genau das wollte ich ausdrücken. Da aber jeder Redakteur meint, es sei bei ihm notwendig, würde ich das Ich beim Chefredakteur genehmigen lassen.
Herr Sahlender ist halt liberaler.

Alexander von Halem schreibt:

Und ich finde das fehlende ICH und die fehlenden Beziehungen zu den Lesern sind mit die größten Probleme des derzeitigen Journalismus. die vermeintliche Objektivität will kein MENSCH.

Joachim Blum:

Unsere Debatte hat nichts, aber auch gar nicht mit Objektivität oder Subjektivität zu tun.

Alexander von Halem:

dann besteht ja noch Hoffnung…

Dieter Hildebrandt, Journalisten und schmusende Politiker

Geschrieben am 21. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Politiker schmusen uns zu.

Mit einem Ohr habe ich dies Zitat von Dieter Hildebrandt gehört in einem der vielen Rundfunksender, die heute dem verstorbenen Kabarettisten nachrufen. Der Spötter aus München hatte sich, als sein Spott nicht mehr zu überhören war, der Umarmung der Politiker erwehren müssen; bei der SPD ist er ihr nicht selten erlegen. Heute loben ihn alle, vor allem die, die seinen Spott zu Lebzeiten kaum oder gar nicht ertragen konnten.

Journalisten geht es im Umgang mit Politikern ähnlich: Umarmung ist die perfekte Form der Bestechung. Es fällt einem Redakteur schwer, einem Oberbürgermeister beim Hummercocktal den Wunsch abzuschlagen, noch nicht über ein Großprojekt zu berichten. Gerade im Lokalen ist die Balance zwischen Distanz und Nähe schwer zu halten.

Eingeweide-Würmer: Alfred Brendel findet Jean Pauls beste Sprachbilder

Geschrieben am 20. November 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 20. November 2013 von Paul-Josef Raue in D. Schreiben und Redigieren.

Ihr Herz ist wie ein Großvaterstuhl ausgesessen.

Der Pianist Alfred Brendel hat in Jean Pauls „Gedanken“ gestöbert und eine Auswahl in der FAZ veröffentlicht. Hier die Auswahl der Auswahl:

Die Geschichte ist ein Pestwagen.
*
„Jeder muß seine Rolle spielen.“ Der Teufel ist der Souffleur.
*
Sich jeder Meinung hingeben und eine Seelenhure sein.
*
Wenn die Eingeweidewürmer des Ichs, Erbosung, Entzückung, Liebe und dergleichen, wieder herumkriechen und nagen und einer den anderen frisst: so seh ich vom Ich herunter ihnen zu.

FAZ 15.11.2013

Meistgeklickt: Eine vorbildliche Reportage + 3 x dpa

Geschrieben am 19. November 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 19. November 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

So oft wurde in den vergangenen Monaten kein Blog mehr geklickt als die Analyse einer vorbildlichen Ich-Reportage: Judith Luigs Geschichte einer Schwangeren, die ihr Kind verlor.

Drei Blogs über die Ost-Kundenkonferenz der dpa folgen: Was die dpa plant: Die Zukunft ist online + ein Zitat über die Tücken eines verfrühten Nachrufs + „Ohne Bilder läuft wenig im Internet„.

Schiefe Sprachbilder: Marken knacken und Infrastruktur aufpäppeln

Geschrieben am 19. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Woche für Woche füllt Benjamin von Stuckrad-Barre sein „Lexikon des Grauens“ und entdeckt bei Politikern und Journalisten Klischees und schiefe Bilder:

> Ausbauziele eindampfen

> Details durchstechen

> Die EZB verschießt ihr letztes Pulver

> die psychologisch wichtige Marke knacken

> Maschinerie von Erzählungen, die durch nichts belegt sind

> mit einem Vorstoß vorpreschen

> Trommelfeuer der Medien

> um eine gemeinsame Linie ringen

> verblockte Altersteilzeit

> Verkehrsinfrastruktur aufpäppeln

Quelle: Welt am Sonntag und im Netz:
www.welt.de/lexikon-des-grauens

Was ist eine Demokratie ohne Meinungs- und Pressefreiheit? (Zitat der Woche)

Geschrieben am 18. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Ohne den Schutz der Meinungsfreiheit droht jede Zivilgesellschaft zu ersticken. Und ohne eine funktionierende Gewaltenteilung ist das Schicksal jeder Demokratie über kurz oder lang besiegelt.

Berthold Huber, noch IG-Metall-Vorsitzender, bei der Verleihung der „Otto Brenner Preise“ in Berlin, 12. November 2013

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