Wenn Bilder in Überschriften aus dem Ruder laufen
„Bund will Wind aus dem Propeller-Bau nehmen“ lautet die Aufmacher-Überschrift (Freies Wort, 18.9.2012). Redakteure erfreuen sich an solchen Sprachspiele. Leser mögen diese Überschrift nicht, die Redakteure feuilletonistisch nennen. Leser wollen wissen, was der Redakteur zu sagen hat.
„Weil die Strompreise aus dem Ruder laufen, will Bundeskanzlerin Angela Merkel den Ausbau der Windenergie bremsen“, lautet der Vorspann. Das ist die Nachricht: Kanzlerin bremst den Ausbau der Windenergie, also weniger Windräder in die Landschaft. Das wäre die Überschrift für die Leser.
Drei Bildsphären bemüht die Redaktion für die Aussage „Merkel will weniger Windräder“, das sind mindestens zwei zu viel; so kommt es zum Bildbruch:
1. Flugzeug-/Windrad: Wind aus dem Propeller/Flügel nehmen
2. Sport: aus dem Ruder laufen
3. Motor: bremsen.
(zu: Handbuch-Kapitel 44 Die Überschrift)
Überschriften: „Besserung ist in Sicht“
Überschriften müssen informieren, sie müssen verständlich sein und können auch schön sein. Aber in der Reihenfolge: Verständlich, nachrichtlich, schön.
Ein befreundeter Chefredakteur hat sich seine Lokalteile angeschaut und einige Überschriften gesammelt, die in Leserkonferenzen glatt durchfallen würden:
Besserung ist in Sicht
Erzählerische Feinfühligkeit
Virtuoser Bann
Offiziell noch kein weißer Rauch
Und ewig kreist der Bagger
Abschlussgespräche (im Lokalsport)
Bereitschaftsdienst (im Lokalsport)
NN senkt CO2-Ausstoß bis 2020 um eine Mio Tonnen
Die Folgen reiner Markt-Leere
X erhöht den Druck auf Y
Eine Offenbarung
Debatte um grundsätzliche Fragen unserer Demokratie
NN: ‚Der Bedarf ist immens’
Erinnerungen an das Verlorene
Main-Post: Falsche Überschrift zu Bettina Wulff
Immer mehr Dementis und Entschuldigungen, offenbar aus Furcht vor Unterlassungserklärungen usw.. Die Würzburger Main-Post schreibt heute online (11. September 2012):
Bettina Wulff gab bei Gericht eine eidesstattliche Erklärung ab, wonach alle Behauptungen über ihr angebliches Vorleben als Prostituierte oder als sogenannte Escort-Dame falsch seien, wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete.
mainpost.de überschrieb diese Meldung mit der Frage „War Bettina Wulff eine Prostituierte?“ Da es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Frau des Ex-Bundespräsidenten jemals als Escort-Dame tätig war und die Behauptungen dazu allem Anschein nach einer Verleumdungskampagne entstammen, gibt es für die Frage in der Überschrift keine Berechtigung. Die Überschrift war falsch und wurde nach kurzer Zeit auf mainpost.de berichtigt.
mainpost.de entschuldigt sich bei seinen Leserinnen und Lesern und natürlich auch bei Frau Wulff für diesen Fehler.
(zu: Handbuch-Kapitel 48-50 Presserecht und Ethik)
Niggemeier beißt
„Bissig“ – so steht es, warnend, im Hinweis auf Stefan Niggemeiers Blog, gefunden in der Übersicht der Horizont-„Web-Essential“. Bei den anderen Blogs, die genannt werden, fehlen solch wertenden Einträge.
Bissig – ja, aber Stefan Niggemeier ist der analytische Kopf der Medienblogger, einer, der gründlich recherchiert und erst dann eine Meinung hat (während zu viele andere eine Meinung haben, ohne gründlich zu recherchieren).
Auf dem Horizont-Poster ist die Rangliste der 80 größten Internetagenturen Deutschlands zu finden, die 30 wichtigsten Vermarkter, die Top-10-Agenturen „Digital Kreation“ und die wichtigen Bookmarks für die Internetbranche (unterteilt: Marktforschung und Datenbanken / Weblogs für Marketer und Medienleute / English spoken).
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution + Service Erste Adressen)
Wie viel Meinung verträgt eine Schlagzeile?
Regierung redet sich die EZB-Politik schön
Eine Schlagzeile wie ein Hammerschlag: Die Welt vom Samstag (8.9.2012)
Nach der reinen Lehre gehört in die Aufmacher-Überschrift eine Nachricht, aber keine Meinung (die gehört in die Überschrift des Kommentars). Wir dulden allenfalls noch schöne, feuilletonistische Überschriften, die wenig sagen, aber auch keinem weh tun; die meisten Leser mögen sie nicht: sie wollen wissen, worum es in einem Artikel geht.
Ist eine analytische Überschrift möglich? Ja, sie ist bei komplizierten Themen sogar lobenswert. Ob die Welt-Schlagzeile noch als Analyse durchgehen kann? Wohl kaum.
„Regierung lobt sich für ihre EZB-Politik“, wäre fast so schön, aber von der Nachricht gedeckt und nur mit ein wenig Analyse garniert.
(zu: Handbuch-Kapitel 44 Die Überschrift + 37 Der Kommentar)
Nur schlechte Nachrichten? Nein, auf den Mix kommt es an
Wie lesen Leser die Zeitung? Oft erschrecken sie, wenn sie die Titelseite mit durchweg schlechten Nachrichten überfällt, meist noch halb in der Nacht. Eine Leserin unserer Zeitung schrieb, dass sie „auf der ersten Seite unserer Heimatzeitung erst mal mit Negativ-Schlagzeilen konfrontiert wird“ wie:
„Der Strom wird teurer, das Brot wird preismäßig angehoben, und Sprit fürs Auto schwebt auch in utopische Höhen. Da ist man schon am frühen Morgen ,geplättet‘.“
Allerdings wirkten dann die Kolumnen auf der Leben-Seite, vor allem die Koch-Kolumne, wie „Balsam auf der Seele“: „Ob nun ,Herr Lehmann‘ zu Wort kommt oder der Teenie-Papa, die Hobbygärtnerin oder der ,Topfgucker‘. Haste das heute gelesen?, heißt es dann im Bekanntenkreis.“
Es kommt auf den Mix von schlechten und guten Nachrichten an – bei aller Chronistenpflicht, die nur ein schwaches Argument ist. Die Seele liest mit.
Auf den Brief der Leserin, die so gern die Kolumnen liest, bezieht sich die TA-Kolumne „Leser fragen – Chefredakteur antwortet“ an diesem Samstag (8. September 2012):
Redakteure wie Leser schauen zuerst auf das Negative. Ist der Mensch so? Ja, so ist er.
Den Klempner interessieren nicht die 999 Wasserhähne, die nicht tropfen – sondern der eine, der tropft. Der Leser unserer Zeitung möchte nicht wissen, dass unser Wasser bedenkenlos zu trinken ist, sondern nur wissen, wenn Bakterien ihr Unwesen treiben.
Im Grunde haben wir ein Urvertrauen entwickelt oder von Natur aus geerbt, dass die Welt gut ist und die Menschen nett, hilfreich und gut. So interessiert uns, wenn die Ordnung der großen Welt gestört ist und der kleinen Welt ebenso.
Deshalb mögen wir Krimis, und die Menschen mögen sie seit Adam und Eva; Krimis finden wir schon in der Bibel, in den griechischen Sagen, bei Shakespeare und Schiller.
Nur schlechte Nachrichten – die hält kein Mensch aus. Deshalb präsentieren wir unseren Lesern auch gute Nachrichten, kuriose, nette, menschenfreundliche – vorzugsweise in unseren Kolumnen, aber auch gut verstreut auf den meisten Seiten unserer Zeitung, vor allem im Lokalen.
Der Mensch ist nur selten schwach oder gar schlecht. Die meisten Menschen sind eben nett, und an diese Menschen denken wir, wenn wir unsere Zeitung machen. (TA 8.9.12)
(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen)
Bettina Wulff: Gerücht, Süddeutsche & Boulevard
„Arbeitete Bettina Wulff im Rotlichtmilieu?“, fragt heute (8. September 2012) die Süddeutsche Zeitung. Das Gerücht wabert seit Jahren, im Internet füllt es Abertausende von Einträgen, aber erst heute gelangt es in die Schlagzeilen wie auf der Titelseite von Bild: „Bettina Wulff wehrt sich gegen Huren-Gerüchte“.
Der Boulevard kannte die Gerüchte, hat recherchiert, aber nichts gedruckt. Offenbar ging es um die Recherchen und das Huren-Gerücht auch im Telefonat, das Bundespräsident Wulff mit Kai Diekmann, dem Chefredakteur von Bild, im Dezember führen wollte. Wulff sprach auf die Mailbox, geriet außer sich und verspielte seinen Kredit bei der Öffentlichkeit, die ihm lange gewogen geblieben war.
Liest man heute in der SZ Hans Leyendeckers Report auf Seite-3, dann ging es offenbar um das Huren-Gerücht, als Wulff den Diekmann beschimpfte und tobte: Für mich und meine Frau ist der Rubikon überschritten!
Auffällig ist: Diesmal ist die Süddeutsche informiert, während nach Wullfs Wutausbruch auf Diekmanns Mailbox die FAZ informiert war und darüber berichtete, lang und breit und oft zitiert. So spielen offenbar der Boulevard und die seriösen Überregionalen Pingpong, als wäre es das Normalste in unserer kleinen Medienwelt.
Bild nennt Hans Leyendecker heute „Star-Reporter der SZ“. Auf jeden Fall kannte Bild vorab die SZ-Geschichte, sonst hätte sie nie so ausführlich den Star-Reporter zitieren können. Auch die FAZ zitiert die SZ auf der zweiten Seite – mit einem Kommentar zur EZB.
Warum schreiben heute die SZ + Bild auf der Titelseite, die eine unten, die andere oben, von der angeblichen Hure? Das Netz ist seit langem dem Gerücht auf den Leim gegangen, die Berliner Zeitung brachte es andeutungsweise kurz vor Weihnachten, gefolgt von Jauch in seiner Talkshow („Jetzt fragt sich jeder, ob da noch mehr kommt“) und dem Dementi von Bild-Vize-Chefredakteur Nikolaus Blome („Kompletter Quatsch“).
Warum heute? Bettina Wulff will darüber noch im September in ihrem Buch berichten, schreiben die SZ + Bild.
Warum so ausführlich, beide zusätzlich auf einer Seite im Innenteil? Weil die Journalisten, die sich so lange zurückhalten mussten oder wollten, endlich die Geschichte um die angebliche Pretty Woman in aller Breite schreiben können – im Stil des Biedermanns, der das alles so gräßlich findet. Oder ist es gar Reue, dass man Bettina Wulffs Gatten, sorgsam recherchiert, aus dem Amt geschrieben hatte?
Und: Hatte nicht Hans Leyendecker vor wenigen Wochen den Nannen-Preis für exzellente Recherche abgelehnt, weil auch Bild ihn wegen der wasserdichten Wulff-Recherchen bekam?
Immerhin kannte Hans Leyendecker, der zusammen mit Rald Wiegand schreibt, sogar Intimes von den Wulffs, das sich liest, als wäre er dabei gewesen:
„Es gab Beziehungen, die sie hatte, aber nicht im Rotlicht. Sie hat mit ihrem Mann am Anfang ihrer Beziehung über ihre früheren Partner geredet. Und er über seine Partnerinnen. Jeder hat ein Vorleben.“
Bildschön und selbstbewusst sei Bettina Wulff schreibt Bild heute (ohne einen Autoren des Textes zu nennen), blond und tätowiert, mit Modelmaß.
Handbuch, Seite 214:
Ein Hauch von Boulevard weht selbst durch die ernsthaftesten deutschen Zeitungen. (Werner Meyer)
(zu: Handbuch-Kapitel 35 Der Boulevardjournalismus + 48-50 Presserecht und Ethik)
Das Leitmedium eines Regierungssprechers
Welches ist das Leitmedium für einen Regierungssprecher? Früher war es die Zeitung, heute ist es Spiegel Online, gefolgt vom Radio, dem Fernsehen und der Zeitung.
Das hat wenig mit der Wichtigkeit des Mediums zu tun, erklärt der Sprecher, sondern mit der Schnelligkeit. Wer zuerst eine Nachricht bringt, die von anderen Journalisten gelesen wird, der ist für mich wichtig. So entstehen schnell Reaktionen, auf die wieder Reaktionen folgen – die dann von den langsameren Medien aufgenommen, weiter gesponnen und im Idealfall vertieft werden, beispielsweise durch ein Interview.
(zu: Handbuch-Kapitel 52 Wie Öffentlichkeits-Arbeiter informieren)
FAZ-Lebenshilfe in Zeiten der Finanzkrise
Es gibt weder in der Liebe noch in der Gesundheit noch beim Geld irgendwelche Garantien, und daran wird sich nichts ändern…
Die Kunst im Umgang mit Geld besteht in der Kunst, es durch Arbeit zu verdienen, den Konsum im Zaun zu halten und Überschüsse in einfache Geldanlagen zu streuen.“
Volker Looman, FAZ 1.9.2012, in „Vollständige Vermögenspläne sind oft bittere Pillen“; er rechnet detailliert vor, was im Alter übrig bleibt von Festgeld, Anleihen, Policen, Renten, Eigenheim, Aktien, Arbeit und Konsum.
(zu: Handbuch-Kapitel 56 Service und Aktionen)
Ganz viel „Umfeld“: Journalisten und Gerüchte
„Weidmann hat Rücktritt erwogen“, titelt die FAZ in der Samstagausgabe (1.9.2012) und gibt als Quellen an: „Entsprechende Gerüchte wurden am Freitag im Umfeld der Bundesbank bestätigt.“
Die Quellenlage ist dünn: Umfeld der Bundesbank; dann folgen, alle im Konjunktiv, „die Bundesregierung“ und auch Weidmann, aber nicht als direkte Quelle, sondern als Zitat aus einem länger zurückliegenden Gespräch, das offenbar nicht veröffentlicht wurde.
Erst am Ende des langen Dreispalters kommen offizielle Quellen zu Wort: Der Sprecher der Bundesregierung sagt nichts („Sie müssen Herrn Weidmann dazu befragen“); die Bundesbank (wer?) kommentiert auch nichts.
Es bleibt rätselhaft: Das durch nichts als durch Gerüchte erhärtete „Erwägen“ des Bundesbank-Präsidenten, wird kommentiert als „Ungeschicklichkeit“ – wobei unklar bleibt, wer ungeschickt war. Im Kommentar wird dann endgültig das Gerücht zur Wahrheit („Gleichwohl ist verständlich, dass … Weidmann über einen Rücktritt nachgedacht hat“) und suggeriert, dass Weidmann die Quelle ist. So viel Raunen ist ungewöhnlich, zumal für eine überregionale Zeitung von Gewicht, aber nicht verwerflich.
Journalisten dürfen auch ein Gerücht an ihre Leser weiterreichen. Im Pressekodex, Ziffer 2, ist zu lesen: „Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“
Doch gelten auch für das Verbreiten von Gerüchten Mindestanforderungen: Der, den die Gerüchte treffen, muss befragt werden; wenn er nichts antwortet, muss dies auch der Leser erfahren.
(zu: Handbuch-Kapitel 17 Die eigene Recherche)
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