Alle Artikel der Rubrik "Aktuelles"

Googeln macht blöd und lässt das Gehirn schrumpfen

Geschrieben am 15. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Online-Journalismus.

Die dunklen Seiten von Online werden im Sommer seitenweise beschrieben; die Warnungen vor dem Computer, der unsere Kinder verdirbt und Familien zerstört, haben Konjunktur. Erst schreibt der Stern seine Titelgeschichte zu „iSolation – Immer online, aber sprachlos: Wie die digitale Welt unser Familienleben verändert“ (33/2012 vom 9. August), dann füllt die Süddeutsche in einem Spezial sieben Seiten ihrer Wochenend-Beilage, schließlich warnt der Ulmer Gehirnforscher Manfred Spitzer unentwegt, Kinder zu früh vor den Computer zu setzen. Er warnt in seinem neuen Buch „Digitale Demenz“, er warnt in Bild (13. August) „Bringt uns das Internet um den Verstand“, und er warnt in einem Interview mit dem Kurier (Österreich) „Macht googeln blöd“:

Wenn wir geistige Arbeit an Maschinen abgeben – und digitale Medien sind nichts anderes als Denkmaschinen – findet die geistige Arbeit nicht mehr in unserem Hirn statt. Beispiel: Wer Auto fährt, benutzt nicht seine Muskeln zur Fortbewegung, sondern einen Motor. Wenn man nun mit Navi fährt, erledigt nicht unser Gehirn das Navigieren, sondern das kleine Kästchen. Beim einen schrumpfen die Muskeln, beim anderen schrumpft das Gehirn.

VERBLÖDUNG: In Alabama wurden 15.000 Computer an Schüler verteilt. Hoffnung: Ihre Bildung zu verbessern. Das Experiment wurde nach drei Jahren abgebrochen, weil der Bildungsstand der Schüler sich gegenüber jenen deutlich verschlechtert hatte, die keine Computer hatten.

MULTI-TASKING: Angeblich müssen wir das Multitasking lernen, damit wir in der modernen, digitalen Welt erfolgreich sein können. Doch die Menschen sind schlichtweg nicht dafür gebaut, mehr als einem Handlungsstrang zu folgen. Versuchen Sie mal zwei Unterhaltungen gleichzeitig zu führen! Es geht nicht! Tut man es trotzdem, trainiert man sich eine Aufmerksamkeitsstörung an. Multitasker beherrschen alle geistigen Fähigkeiten, die sie zum Multitasken brauchen (Unwichtiges wegdrücken, Aufgabenwechsel) schlechter als Leute, die nicht Multitasken. Und: Sie haben nachweislich Probleme bei der Kontrolle ihres Geistes.
 

Bild bringt Spitzers sieben Thesen:

1. Wir denken weniger selbst
2. Wir verlernen, uns zu orientieren
3. Wir merken uns weniger
4. Wir lernen schlechter
5. Wir werden einsamer
6. Wir werden unkonzentrierter
7. Wir verlieren die Selbstkontrolle

(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution)

„Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz“

Geschrieben am 14. August 2012 von Paul-Josef Raue.

Für den 9. und 10. November organisiert das netzwerk recherche eine Konferenz zum Lokaljournalismus: „Dicht dran – oder mittendrin? Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz“. Der Besuch ist sehr zu empfehlen – auch oder gerade wenn einer beim Konferenz-Thema fragt: Sind Stolz auf die Heimat und gründliche Recherche Gegensätze?

Die Veranstalter schreiben zu den Themen der Konferenz, die im Verlagshaus der Süddeutschen im Münchner Stadtteil Berg am Laim stattfindet:

Wenn ein Journalist seine Arbeit gut macht, ist er dicht dran. Wer aber zu nah ran kommt, läuft Gefahr, zu viele Rücksichten zu nehmen. Auf den Bürgermeister oder den örtlichen Unternehmer, auf den Vereinsvorsitzenden oder den Anzeigenkunden.

Wo verläuft die Grenze zwischen dicht dran und mittendrin? Wann geht die nötige Distanz verloren? Wann wird Nähe gefährlich für den journalistischen Auftrag?

Mit der Fachtagung zum Lokaljournalismus wollen wir den schmalen Grat ausloten zwischen Lokalpatriotismus und kritischer Recherche. Gerade im Lokalen ist die Nähe Alltag, sind die kurzen Wege ein großer Vorteil, aber manchmal auch Risiko. Es ist die erste Konferenz, die das netzwerk recherche dem Lokalen widmet, und die erste, die in München stattfindet. Ermöglicht wird sie durch die Unterstützung der Süddeutschen Zeitung und der Deutschen Journalistenschule . An den rund 30 Einzelveranstaltungen wirken mehr als 60 Journalistinnen und Journalisten mit.

Es wird eine Konferenz der Grenzgänge. Da ist etwa die lokale Wirtschaftsberichterstattung, die im Ruf steht, mitunter zu unkritisch zu sein, um die örtlichen Arbeitgeber nicht zu beschädigen. Da sind die Großprojekte, die Glanz und Gloria für eine Region bringen, wenn sie denn gelingen. Und wenn nicht – hat dann nur die Politik versagt? Oder waren auch die Reporter zu gutgläubig?

Viele Kollegen in Lokalredaktionen sagen: Wir würden ja gerne mehr und tiefer recherchieren, aber wir schaffen es kaum, täglich unsere Seiten zu füllen. Gibt es Ideen, um trotz des wachsenden Drucks auf die Redaktionen noch Raum für intensives Nachfragen zu schaffen? Sind Rechercheteams auch für Regionalblätter und -sender ein sinnvolles Modell?

Wir wollen konkrete Tipps für den Alltag geben: Was tun, wenn man als Journalist bedroht wird, sei es von Neonazis, von Rockern oder gewöhnlichen Kriminellen? Was tun, wenn eine Kommune oder eine Firma mauert und keine Informationen herausrücken will? Wie findet man Lokales im weltweiten Netz? Wann läuft ein Journalist Gefahr, das Leid von Unfall- oder Verbrechensopfern unabsichtlich auszunutzen?

Einen Fokus wollen wir auch auf jene Beispiele lenken, in denen Vorbildliches gelungen ist. In den Erzählcafés werden Geschichten vorgestellen, die beispielhaft sind, in der Recherche, aber auch in der Relevanz. Und bei denen die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz gelungen ist. Erzählen werden die Kollegen ihre Geschichten in der Panorama-Lounge.

Ganz oben im SZ-Turm wird das netzwerk recherche am Freitag­abend auch den „Leuchtturm“ verleihen. Einen Journalistenpreis für herausragende und relevante Recherchen.

Eine Rede zur Lage des Lokaljournalismus wird dort Münchens Oberbürgermeister und Städtetagspräsident Christian Ude halten. Musik kommt von „Deadline“, der SZ-Redaktionsband.

Gänsefüßchen in der Sprache der Nazis (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 13. August 2012 von Paul-Josef Raue.

Wer ein Wort ironisch gedeutet haben will, setzt es in „Gänsefüßchen“; so will er Distanz oder Ironie ausdrücken. Die Nationalsozialisten haben sie oft genutzt, vielleicht sogar erfunden.

Victor Klemperer, Romanistik-Professor in Dresden, schrieb in seinem Wörterbuch des Dritten Reichs:

Chamberlain und Churchill und Roosevelt sind immer nur „Staatsmänner“ in ironischen Anführungszeichen, Einstein ist ein „Forscher“, Rathenau ein „Deutscher“ und Heine ein „deutscher Dichter.“

Die Nazis entzogen Klemperer den Lehrstuhl, da er Jude war; sein „Wörterbuch“ schrieb er abends, wenn er von der Zwangsarbeit zurückkehrte. Seinem Wörterbuch gab er den lateinischen Namen „LTI (Lingua Tertii Imperii), also: die Sprache des Dritten Reichs; so wollte er die Gestapo bei einer Hausdurchsuchung auf eine falsche Fährte locken.

Die Nazis, stellte Klemperer fest, haben keine neuen Wörter erfunden, sie verdrehten einfach den Sinn.

Nach dem Krieg listete der Journalist Dolf Sternberger gut zwei Dutzend dieser Wörter auf: Das „Wörterbuch des Unmenschen“.

Ein Beispiel: „Behandlung“. Das Wort taucht in Hunderten von SS-Dokumenten auf bis hin zur Wendung: Gefangene einer Sonderbehandlung zuführen – „das war ein Euphemismus für den Massenmord“.

„Behandlung“, immer noch ein alltägliches Wort, war für Sternberger ein Begriff der Selbstüberhebung:

„Wer Menschen behandeln will, Menschen schlechthin, wer sich in der Menschenbehandlung üben will, der setzt sich selber über die Menschen. Hier wird ein Über- oder Obermensch postuliert, der sich Untermenschen untertänig macht.“

Untergang des Journalismus: Willkommen im Krisenzirkus!

Geschrieben am 13. August 2012 von Paul-Josef Raue.
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Der Qualitätsjournalismus ist am Ende, rufen die apokalyptischen Reiter, die gerade „APuZ “ erobert haben, eine Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung. Harald Staun schaut sich für die FAS im „Krisenzirkus“ um:

Im Licht sinkender Zeitungsauflagen und anhaltender Budgetkürzungen in den Redaktionen scheint es auf die Schlüssigkeit der Argumente nicht mehr anzukommen. Die These von der Krise des Qualitätsjournalismus ist längst too big to fail. Selbst Indizien, die ihr entgegenstehen, können da noch als Beleg durchgehen.

Am 25. Juli wunderten wir uns in diesem Blog über die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, in der neben dem Untergang des Qualitätsjournalismus auch das Elend des Lokaljournalismus beschrieben wird – just von der Bundeszentrale für politische Bildung, die so viel für die Qualität des Lokaljournalismus getan hat wie kaum jemand anders.

Am 29. Juli schrieb auch  Harald Staun in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung über diese seltsame Juni-Beilage: „Das Beschwören des Untergang des Qualitätsjournalismus ist ein eigenes Berufsfeld geworden“; und: „sensationsgeile Blogger stehen zur Wachablösung bereit“.

Margreth Lünenborg, Professorin für Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin, läutet auch in APuZ die Todesglocke. Staun stellt fest:

Von ihren Auftritten als Diagnostiker dieser Krise können heute ganze medienwissenschaftliche Fakultäten leben, auch einige Medienjournalisten lesen ihren Kollegen hauptberuflich die Leviten…

Wöchentlich beten in irgendeinem deutschen Kongresszentrum besorgte Wanderprediger verunsicherten Zuhörern ihr Mantra vom Verfall journalistischer Standards vor. Nur leider lassen sich die neuen, mächtigen Akteure auf dem Spielfeld, Konzerne wie Google oder Apple, nicht davon einschüchtern, wenn alle nur laut genug herumappellieren und im Chor die gesellschaftliche Bedeutung des Journalismus betonen.

Der FAS-Artikel ist im Netz nicht frei verfügbar.

(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“)

Versauen Computer unsere Kinder? SZ sucht Antworten

Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Online-Journalismus.

Die Süddeutsche widmet ihre komplette „Wochenende“-Beilage dem Thema : Kinder und Jugendliche, der Computer und das Internet –  „WWWillkommen“.

 Auf sieben Seiten wird milde kritisch analysiert, was wann schadet und wie wenig Nutzen das Internet stiftet. Über allem steht die Erkenntnis, die Rebecca Casati formuliert:

Was wir wissen: Genauso wenig, wie eine Fernsehserie ein Kind zu einem angstfreieren, besseren Menschen erzieht, wird der Computer ein Kind versauen. Eltern erziehen und versauen ihre Kinder. Die Welt läuft derweil nicht stringent weiter.

Wir Menschen haben erst an die 6900 verschiedene Sprachen und den Buchdruck erfunden und dann eine Technologie, mit der unsere Kinder verlernen, wie man kohärente Sätze bildet. Eine Welt mit Buttons und Emoticons, ohne Groß- und Kleinschreibung. Wir werden sicher bald wieder etwas erfinden, das uns nicht alle zurückwirft.

Wer – wie die meisten Kultusminister – eine schöne neue Schulwelt mit Whiteboards, Laptops und wenig Papier schaffen will, hat die Hirnforscher nicht auf seiner Seite. So auch nicht die Oxforder Neurowissenschaftlerin Susan Greenfield, die auf der abschließenden Seite ein langes Interview gibt:

  • Lesen ist eines der wunderbarsten Dinge, die ein Kind für sein Gehirn tun kann. Lesen bringt uns Menschen an einen anderen Ort.
  • Jede Stunde, die wir vor dem Bildschirm verbringen, ist auch eine Stunde, die wir nicht damit verbringen, die Sonne auf dem Gesicht zu spüren oder jemanden zu umarmen.
  • Selbst wenn man mit jemanden interagiert, der weit weg ist, ist das nicht dasselbe wie ein direkter Kontakt zu einer Person. Man interagiert mit einem Bildschirm.
  • Ich will den Computer nicht zerhacken, sondern ihn zurückerobern. Wir können unseren Verstand mit ihm nämlich auch erweitern.
  • Ich fürchte, dass Menschen (am Computer) die Fähigkeit verlieren können, wirklich tief gehend, also linear zu denken. Es ist anstrengend. Aber nur so kann man das Gehirn trainieren.
  • Eltern fragen mich  oft, wie viele Stunden ihr Kind vor dem Computer verbringen soll. Und ich antworte, dass das nicht die richtige Frage ist. Es geht auch nicht darum, sie am Computer zu überwachen. Die Frage ist vielmehr, wie wir für unsere Kinder ein Leben und eine Umgebung schaffen können, die so aufregend, erfüllend und interessant ist, dass sie sich selbst dazu entschließen, lieber anderes zu tun, als vor dem Computer zu sitzen.

(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution)

Der schmale Grat zwischen PR und Journalismus

Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue.

„Dieses Gerät verändert die Kultur des Kaffeetrinkens“ und „das köstlich duftende Pulver“ und die Überschrift „Perfekte Kaffee“ – PR oder journalistische Information?

Auf der Wissenschaftsseite (!) der Welt von Samstag (11. August 2012) ist die Kaffeemaschine zu sehen inklusive eines Lobpreises – im redaktionellen Teil, Rubrik „Was gibt’s Neues“.

Dank an Thomas Mrazek und seinen Kommentar:

Vielleicht ist es für die Leser hilfreich, den entsprechenden „Artikel“ auf der Website der „Welt“ zu sehen; als Service gibt es dort noch einen Link auf die Seite des Kaffee-Startups aus Berlin: http://www.welt.de/print/die_welt/wissen/article108573726/Besonderer-Genuss.html
Ich kommentiere das nicht weiter, es spricht m. E. für sich.

(zu: Handbuch-Kapitel 20 Waschzettel und Verlautbarungen + Service B Pressekodex, Richtlinie 7.2 „Redaktionelle Veröffentlichungen, die auf Unternehmen, ihre Erzeugnisse, Leistungen oder Veranstaltungen hinweisen, dürfen nicht die Grenze zur Schleichwerbung überschreiten.“)

Wie die Süddeutsche in die Bildzeitung kommt

Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

BILD am Samstag, 11. August 2012, auf der Titelseite ganz oben rechts:  Foto einer lächelnden Kanzlerin und die Zeile „Promis fragen, Kanzlerin Merkel antwortet“. Eine typische Boulevardzeile, Promi-Zirkus und Politik ins Menschliche übersetzt.

Nur – die „überraschenden Einblicke“ standen am Tag zuvor im Magazin der Süddeutschen Zeitung, füllten dort 16 Seiten – und waren eingeführt mit Sätzen wie in Bild: „Tolle Fragen“; die Antworten „frotzelig, lustig, rührend“; „alle sind knapp und ganz klar. So ist sie halt unsere Kanzlerin“. Oder: „Wie tickt die Frau, die sie die mächtigste Frau der Welt nennen?“

Die meisten Antworten sind allerdings schwächer als die Fragen, nicht selten banal, mehr Bild als SZ, vom SZ-Layout aufgeblasen auf 16 Seiten (46 Kanzlerinnen-Sätze, davon kurze wie „Ja, immer“, 2 Bibelsprüche und nur einen Tipp auf die verschwobelte Frage des Piraten-Politikers Johannes Ponader „Stellen Sie sich vor, ich werde Ihr Nachfolger: Welche drei Dinge geben Sie mir als Tipps mit auf den Weg?“ Und auf eine 50-Wörter-Frage von Olli Dittrich eine 7-Wörter-Antwort.

„Für die Liebe braucht man gar kein Schriftzeichen“, antwortet die Kanzlerin auf Charlotte Knoblauchs Frage, wie sich die Liebe einfach in 160 Zeichen erklären lässt. Wer die besten Antworten lesen will, schaue in Bild, das reicht.

Zur Erinnerung: Die Süddeutsche hat erst vor wenigen Wochen die Annahme eines Nannen-Preises verweigert, weil auch Bild einen bekam.

Noch eine Erinnerung, ein Zitat von Werner Meyer von 1993, auf Seite 214 im Handbuch:

Ein Hauch von Boulevard weht selbst durch die ernsthaftesten deutschen Zeitungen: Die Süddeutsche Zeitung wünscht sich mehr Lese-Spaß…

(zu: Handbuch-Kapitel 35 Der Boulevardjournalismus)

Innenminister gibt ein wenig nach

Geschrieben am 11. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 11. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik, Recherche.

In der Endlos-Geschichte um die staatlichen Medaillen-Vorgaben hat der Innenminister nach 14 Monaten erstmals Informationen herausgegeben. Die Geschichte der Verweigerung erzählen Daniel Dreppen (Freier im WAZ-Reporter-Ressort) und Niklas Schenk (Henri-Nannen-Schüler) auf Der-Westen.de

Allerdings geht es den beiden Reportern nicht nur um die Vorgaben des Staates, wie viele Medaillen die Olympioniken holen müssen nach dem Motto „Gold für Geld“ – auch wenn dies während der Olympischen Spiele die meisten Journalisten und TV-Zuschauer interessiert; es geht auch um eine umfassende Akteneinsicht: Wie läuft das Verfahren ab, nach dem die Millionen verteilt werden? Welche Kriterien gibt es?

Bisher in diesem Blog: Geld gegen Gold (am 10. August) und Gericht: Olympioniken-Chef muss Journalisten Auskunft geben (3. August)

(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Wie Journalisten recherchieren)

Geld gegen Gold – Der Innenminister will nicht informieren

Geschrieben am 10. August 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 10. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik, Recherche.

Innenminister Friedrich spielt auf Zeit: Er will während der Olympischen Spiele keine Informationen liefern, welche Medaillen-Vorgaben sein Ministerium mit dem Sportbund ausgehandelt hatte. Dieses Geld-gegen-Gold-Geheimabkommen darf nicht geheim bleiben, so hatte das Verwaltungsgericht Berlin entschieden (siehe Handbuch-Blog vom 3. August)

Der Minister hat gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt, das Oberverwaltungsgericht muss entscheiden. Das berichtet „Der Westen.de“ der WAZ-Gruppe.

Den Minister vertritt nach WAZ-Informationen „die bekannte (und sehr teure) Kanzlei Redeker Sellner Dahs“, die auch Ex-Bundespräsident Christian Wulff vertreten hat.

(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Wie Journalisten recherchieren + 50 Presserecht)

Leser mögen keine dicken Zeitungen

Geschrieben am 9. August 2012 von Paul-Josef Raue.
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Nach der Wende wunderten sich westdeutsche Blattmacher, wenn sich ostdeutsche Leser über dicke Zeitungen beschwerten. Sie wollten den Lesern Gutes tun, ihnen statt 8 Seiten, wie meist zu DDR-Zeiten, 32 Seiten bieten oder noch mehr – und das Zeitungsvolk murrte. „Ich habe die Zeitung am Abend noch nicht zu Ende gelesen“, sagten die Leser. Sie sagten auch: „Ich habe sie nicht auslesen können“; das bedeutete: Ich habe keine Auslese getroffen, ich wollte alles lesen, auch weil ich alles bezahlt habe.

Das wächst sich aus, sagten die Blattmacher, die ihr westdeutsches Publikum zu kennen glaubten. Doch es wächst sich nicht aus. Als die Thüringer Allgemeine im vergangenen Jahr die Blattstruktur änderte und wenig gelesene Seiten, wie etwa „Medien“, durch starke Seiten, wie „Thüringen“, ersetzte, da hörten die Redakteure in den Leserkonferenzen: „Die Zeitung ist dicker geworden. Wir können sie nicht an einem Tag auslesen.“

Dabei war der Umfang der Zeitung geschrumpft, aber die Zahl der lesenswerten Artikel und Seiten gestiegen – und somit offenbar die Lesedauer. Wir gefallen den Lesern nicht, wenn wir möglichst viel anbieten; wir gefallen ihnen, wenn wir so viel Gutes anbieten, dass sie in der Zeit verkraften können, die sie dem Lesen einräumen.

Die Zeit zum Lesen ist bei den meisten Zeitungslesern die Zeit am frühen Morgen. Wer bei Leserkonferenzen genau hinhört, lernt Demut: Die Menschen opfern für die Zeitungslektüre eine halbe Stunde ihres Schlafs – zu einer Zeit, in der sich Redakteure noch einmal umdrehen. Sie wollen in dieser halben Stunde das Wichtigste lesen und es nicht suchen. Dies gilt zumindest für Menschen ab 40 oder 50.

Die meisten Jungen haben allerdings einen anderen Rhythmus und ein anderes Leseverhalten; aber auch sie, die eilige Generation, will schnell das Wichtigste finden, zumal die meistgeklickten Internet-Seiten auch so gestaltet sind: Das Wichtigste steht oben und ist schnell zu lesen.

Auch westdeutsche Leser beginnen, sich nach schmaleren Zeitungen zu sehnen. Zwar sind die Zeitungen auch zwischen Kiel und Konstanz dünner geworden, aber dies liegt an Aldi & Co, die weniger Anzeigen buchen; der redaktionelle Umfang ist eher gleich geblieben oder sogar gestiegen. Dies ist sinnvoll im Lokalteil, der – wenn sinnvoll gegliedert – stark bleiben oder stark werden muss; dies ist weniger sinnvoll bei Seiten, auf denen Informationen stehen, die unsere Leser schon kennen oder leicht aus anderen Massenmedien wie Magazinen, Hörfunk oder Fernsehen bekommen (und in der Regel schon kennen).

Oft können sich Redaktionen nicht entscheiden: Die Kennen des guten Weins sind unzufrieden, also gibt es eine wöchentliche Wein-Seite; die Seniorenbeauftragte der Landesregierung fordert eine Seite für die Senioren usw. Das muss nicht falsch sein; es ist sogar richtig, wenn sich lokale oder regionale Informationen auf den Seiten finden oder wenn sich neue Anzeigen auf diesen Seiten sammeln. Aber in den meisten Fällen blähen diese Spezialseiten die Zeitung auf, machen sie unübersichtlich – und sorgen endgültig dann für Ärger in einer kleinen, aber lauten Gruppe, wenn die Seiten wieder eingestellt werden.

Je mehr Informationen auf die Menschen niedergehen, um so aggressiver werden sie. Die FAS schreibt in ihrer aktuellen Ausgabe (3. August 2012) auf der Seite „Geld & Mehr“ (!) über das „Dickicht der Informationen“ und stellt fest: „Die Kraft liegt gerade in der Reduktion.“

Das falsche Maß an Informationen haben auch schon Rudolf Augstein und Neil Postman festgestellt. Tillmann Neuscheler zitiert sie in seinem FAS-Artikel:

  • Die Zahl derer, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind, wächst. (Rudolf Augstein)
  • Unser Immunsystem gegen Informationen funktioniert nicht mehr. Wir leiden unter einer Art von kulturellem Aids. (Neil Postman)

„Information Bias“ nennen Wissenschaftler das Übermaß an Informationen und die daraus resultierende Sammelwut, die nicht selten zur Desinformation führt. In einem Info-Kasten erklärt Tillmann Neuscheler in der FAS die „Information Bias“ so:

Wir lassen uns von der leichten Verfügbarkeit von Informationen dazu verleiten, immer weitere neue Fakten zu recherchieren. Dabei nutzen wir schon vorhandene Informationen gar nicht mehr richtig aus.
Die Wirkung: Wir sammeln Informationen, ohne sie kognitiv richtig verarbeiten zu können. Und fühlen uns in der Informationsflut verloren.
Die Abhilfe: Schwierig! Man sollte sich beim Informieren über seine Ziele im Klaren sein. Oft genügt es, vorhandene Informationen richtig zu nutzen. Nicht die Menge, sondern die gute Analyse macht den Unterschied.

Zumindest die „Abhilfe“ sollten gute Blattmacher leisten.

(zu: Handbuch-Kapitel 22 „Warum alles Informieren so schwierig ist“ + 53 „Was die Leser wollen“ + 5 „Die Internet-Revolution“)

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