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„Google gefährdet die freie Presse“

Geschrieben am 8. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 8. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Google warnt die deutschen Verleger, die ein Leistungsschutzrecht fordern, vor einem „Eingriff in die Informationsfreiheit“. Einer der Verleger, Harald Wahls aus Braunschweig, widerspricht: „Die Auswertung und Nutzung dieser fremd erbrachten Leistung (Verlag/Autor) für ein eigenes Geschäftsmodell (Google und Co.) ist ein parasitäres Verhalten.“

Wahls greift Google direkt an: „Google ist ein kalifornisches Unternehmen, unterhält in Deutschland nur wenige Arbeitsplätze, zahlt kaum Steuern, verhandelt nicht mit Gewerkschaften und gefährdet Zigtausende von journalistischen Arbeitsplätzen in den Verlagen. Deutsche Verlage sind Tarifpartner der Gewerkschaften, beschäftigen viele Tausende von Journalisten, nehmen ihnen das eigene unternehmerische Risiko ab, zahlen ihnen sichere und gute Gehälter.“

Mit Harald Wahls, dem Geschäftsführer des Braunschweiger Zeitungsverlags, sprach BZ-Chefredakteur Armin Maus über das Leistungsschutzrecht für Presseverlage:

Die Zeitungsverlage fordern ein eigenes Leistungsschutzrecht. Die Bundesregierung will es nun schaffen. Warum die Extrawurst?
Wahls: Ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage ist keine Extrawurst, sondern schließt eine Lücke, da die Presseverlage im Onlinebereich heute schlechter gestellt sind als Werkvermittler in anderen Branchen.

Warum reicht Ihnen das Urheberrecht nicht?
Wahls: Das Urheberrecht schützt den Autoren, berücksichtigt jedoch nicht ausreichend die Vervollkommnung des Herstellungsvorgangs von Presseprodukten. Diese verlegerische Leistung ist bisher juristisch ungeschützt.
Deshalb muss dieser Bereich durch ein Leistungsschutzrecht zusätzlich zum eigentlichen Urheberrecht geregelt werden. Andere Kreativbranchen, wie zum Beispiel die Filmindustrie, sind bereits seit den 60er Jahren geschützt.

Kritiker sagen, die Verlage dürfen sich nicht wundern, wenn Google und andere Aggregatoren die Zeitungsinhalte nutzen. Schließlich stellen die Verlage sie gratis ins Netz. Stimmt der Vorwurf?
Wahls: Der Vorwurf ist absurd. Die Verlage stellen ihre Inhalte zur Gratis-Nutzung für die Endverbraucher ins Netz. Dieses Verhalten stammt aus der Experimentierphase des Internets, wo alle Inhalte frei waren und die Zeitungsverlage ihre Webangebote als Ergänzungsservice zu ihren gedruckten Zeitungen betrachtet haben.
Dieses verändert sich, je mehr Menschen sich nur noch im Internet informieren und keine Zeitung mehr abonnieren. Damit wird das kostenlose Internetangebot für die Verlage ruinös.
Die wirtschaftliche Ausbeutung einer fremden Leistung, durch Google, ist ein Rechtsbruch, der schick erscheint, aber gerade Deutschland mit seinen vielen geistigen Patenten ins Mark trifft. Lassen wir dieses in der Zukunft weiter zu, müssen wir uns nicht wundern, wenn Patentklau und Raubkopieren in unserer Gesellschaft nur als Kavaliersdelikte betrachtet werden.

Die Zeitungen setzen für Ihr Geschäft auf journalistische Inhalte, Google erzeugt keine Inhalte, verdient aber an der Werbung in diesem Umfeld. Klingt ungerecht.
Wahls: Das ist es auch. Die Auswertung und Nutzung dieser fremd erbrachten Leistung (Verlag/Autor) für ein eigenes Geschäftsmodell (Google und Co.) ist ein parasitäres Verhalten. Aktuell hat der Pressesprecher von Google, Kay Oberbeck, sogar unsere Argumente indirekt bestätigt. Er verweist darauf, dass pro Minute 100000 Clicks von Google in Richtung Verlagswebsites weitergeleitet würden. Daran können Sie erstens sehen, wie nachgefragt dieser journalistische Content ist, und zweitens sehen Sie daran, welche immensen Umsätze Google mit seinen umfeldorientierten Werbeangeboten auf diesen Übersichtsseiten verdienen muss. Daran lässt Google aber die Verlage nicht teilhaben. Google nutzt diese fremdproduzierten Inhalte, um sich daran zu bereichern. Google gewährt den Produzenten der Inhalte keinen Anteil an der Wertschöpfung.

Was hat das mit den Bürgern zu tun? Gegner des Leistungsschutzrechts sagen, der Plan gehe gegen die Verbraucherinteressen.
Wahls: Google ist ein kalifornisches Unternehmen, unterhält in Deutschland nur wenige Arbeitsplätze, zahlt kaum Steuern, verhandelt nicht mit Gewerkschaften und gefährdet zigtausende von journalistischen Arbeitsplätzen in den Verlagen. Deutsche Verlage sind Tarifpartner der Gewerkschaften, beschäftigen viele Tausende von Journalisten, nehmen ihnen das eigene unternehmerische Risiko ab, zahlen ihnen sichere und gute Gehälter.
Eine unabhängige deutsche Presse ist dezentral organisiert, es gibt keine staatlichen Einflüsse durch Landesmedienanstalten. Dies haben die Väter des Grundgesetzes so gewollt, um die Unabhängigkeit vom Staat und von der Politik sicherzustellen. Millionen von Arbeitsplätzen sind so über die Jahrzehnte geschaffen worden. Das Geschäftsmodell von Google wertet diese unternehmerische Leistung für sich aus und gefährdet damit eine freie und dezentral organisierte Presse.

Können Sie sich erklären, warum der Bundesverband der Deutschen Industrie gegen das Leistungsschutzrecht ist? Man sollte doch meinen, dass er die Bedeutung des Schutzes geistigen Eigentums in deutschen Unternehmen kennt – viele klagen ja über Produktpiraterie und Patentdiebstahl.
Wahls: Unsere Branche war sehr irritiert über die Bemerkungen des BDI. Der Verband verlangt Präzisierungen. Das finde ich verständlich, jedoch kann man auch eine andere Zielsetzung für die getroffen Aussagen unterstellen. Die Kritik an dem Leistungsschutzrecht ist meines Erachtens leider durch ein elementares Eigeninteresse des BDI getrieben. Auch Verbände nutzen für die Mitglieder-Pressespiegel den Umstand, fremde Leistungen kostenlos auszuwerten. Hier scheint der Eigennutz vor der gesellschaftlichen Aufgabe des Verbandes zu überwiegen. Sonst wäre ein derartiges Verhalten nicht zu erklären. Die Argumente jedenfalls, die der BDI in diesem Zusammenhang vorgetragen hat, sind kaum substanziell zu untermauern.

aus der Braunschweiger Zeitung vom 6. August 2012

(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Internet-Revolution“)

Warum ist Viagra blau? Wie Reportagen entstehen

Geschrieben am 7. August 2012 von Paul-Josef Raue.

Wie lange recherchiert ein Journalist für seine Reportagen? Gab es Schwierigkeiten bei den Recherchen? Wie kam er überhaupt auf das Thema? Was dachte er vor einem Gespräch von dem Menschen, den er porträtiert?

Leser interessiert nicht nur die Reportage, sondern – wenn sie gut ist – auch das Drumherum. Auf DVD von Filmen gibt es meist einen Bonus: „Making of“. Über das Making-of, das Entstehen einer Reportage erzählt der Spiegel schon auf der ersten redaktionellen Seite im Heft. Wer mit Redakteuren in Hamburg spricht, kommt oft und schnell zur „Hausmitteilung“; so dürfte der Redakteur, der die „Hausmitteilung“ schreibt, auch der am meisten kritisierte sein, also ein Höllenjob.

Vorbildlich macht das Making-of das SZ-Magazin: Am Ende einer Reportage sieht der Leser nicht nur das gezeichnete Porträt der Reporterin oder des Reporters, sondern liest auch das Making-of, beispielsweise in der aktuellen Ausgabe zur Titelgeschichte „Wege der Hoffnung / Wann muss das Jugendamt Kinder von ihren Eltern trennen?“ (31 – 3. August 2012):

Auf dem Weg zu dieser Geschichte fragte der Berliner Reporter ANDREAS WENDEROTH bei Dutzenden Jugendämtern in Deutschland an. Meist wurde er vertröstet, man werde nach geeigneten Fällen suchen, ja, wir rufen zurück. Zuweilen gab es begründete Absagen, etwa wenn die Familien nicht mitspielen wollten. Und hin und wieder erfuhr man, man habe keine Lust auf Presse, zu viele schlechte Erfahrungen. Umso erstaunter war Wenderoth, als sich nach Monaten erfolgloser Vorarbeit in Regensburg die Türen weit öffneten.

In derselben Ausgabe erzählt die Reporterin von ihrem Friseur und was er mit dem Gespräch zu tun hat, das sie mit Ulrike Meyfahrt geführt hatte:

GABRIELE HERPELL war 1972 voll vom Ulrike-Meyfahrt-Virus erfasst – wie ihre halbe Klasse übrigens. Sie sprangen im Sportunterricht nur noch den Flop und baten den Friseur um den Haarschnitt von Ulrike Meyfahrt. Das war nicht bei allen so eine tolle Idee.

In diesem Fall dürfte sich mancher Leser gewünscht haben, dass sich der Zeichner (oder der Friseur) ein wenig mehr Mühe gegeben hätte mit dem Bild der Reporterin.

Bisweilen ist das Making-of auch kein Making-of, sondern nur eine Anekdote aus der Recherche, die der Reporter nicht in seinem Text unterbringen konnte – wie über einen 92-jährigen Verleger im Gesundheits-Heft vom 29. Juni:

Am Anfang seiner Recherche hörte ROLAND SCHULZ das Gerücht, die Mitarbeiter der Apotheken Umschau trinken bevorzugt Champagner. Stimmt, zumindest am 5. Juni: Gewöhnlich schenkt Verleger Rolf Becker jedem Mitarbeiter an seinem Geburtstag eine Flasche Veuve Clicquot.

In demselben Heft erzählt eine SZ-Reporterin, wie sie auf die Idee kam zum Interview über die Farbe von Tabletten: („Weiß sind am billigsten.Warum ist Viagra blau?“):

MEIKE MAI kam die Idee zu diesem Interview, als sie in einer Damien-Hirst-Ausstellung vor einer Vitrine voller bunter Pillen stand. Sie fragte sich, wer kreativer war: Hirst oder die Designer der Pillen für das Werk Lullaby Spring.

(zu: Handbuch-Kapitel 32-33 Die Reportage + 39 ff „Wie man Leser gewinnt“ + der Idee, nicht nur „Zeitschriften-Vorspänne“ zu zitieren, sondern auch „Zeitschriften-Nachspänne“ im Kapitel 36 „Der Zeitschriftenjournalismus“).

Wolf Schneider lobt, versteht die 17-jährigen nicht und: Die Zukunft der Zeitungen (Das komplette dapd-Interview)

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

„Schönes Feuer haben Sie in Ihrem dapd-Interview! Kompliment“, mailt Wolf Schneider. Lob vom Meister ist selten und nicht unbegrenzt. „Das größte Problem freilich können auch Sie nicht lösen:

1. Ich mag kein Papier mehr.
2. Informationen? Die mag ich auch nicht. (Unsere 17jährigen)“

Wolf Schneider bezieht sich auf ein Interview, in sechs Teilen an den vergangenen Tagen in diesem Blog erschienen. Hier das komplette Interview, wie es dapd am Freitag, 3. August 2012, gesendet hat:

 

Chefredakteur Raue: „Wir fahren nicht auf der Titanic“ – Google und Facebook als gemeingefährliche „Schmarotzer“ (mit Wortlautinterview/Biografie)

Erfurt (dapd-lth). Er gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Regionalzeitungsmachern Deutschlands, Paul-Josef Raue, Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen“ aus Erfurt. Raue geht die Zeitungskrise konzeptionell an, setzt auf Qualitätsjournalismus – auch und gerade im Lokalen. Zusammen mit Wolf Schneider hat er „Das neue Handbuch des Journalismus“ verfasst, ein Standardwerk in der Branche. Mit dapd-Redakteur Ulrich Meyer sprach Raue über die Zukunft der Zeitungen, die Finanzierung von Journalismus sowie die Bedeutung von Google & Co.

 

dapd: Herr Raue, wie beurteilen Sie die Lage und vor allem die Zukunft der Zeitungsbranche? Ist der Untergang nahe?
Raue: Wir fahren nicht auf der Titanic! Wir kennen unser Schiff, das stabil gebaut ist und schon einige Orkane überstanden hat. Wir kennen die Eisberge, auch ihre gefährliche Schönheit unterhalb der Oberfläche. Aber wir sind Opfer unserer Lust auf Untergang, Tragödie und Katastrophe. Wir lieben das Wort „noch“: Noch gibt es die Zeitung! Noch greifen die meisten zur gedruckten Zeitung! Noch schätzen viele Menschen anspruchsvollen Journalismus! Noch gibt es uns Journalisten und noch nicht nur Blogger! Noch, noch, noch.
Wir haben aber allen Grund, selbstbewusst zu sein: Ohne seriösen Journalismus, ohne Hunderte von Lokalzeitungen, „Zeit“ und „Spiegel“, gerät unsere Demokratie ins Wanken.Was uns Sorgen macht, ist das Geschäftsmodell. Der Zeitungsmarkt wird ein reiner Lesermarkt, das heißt: Die Leser müssen immer mehr für unabhängigen Journalismus bezahlen. Nur – begeistern wir die Leser mit unserer Untergangs-Sehnsucht? Rauben wir uns nicht viel Kraft, wenn wir jammern statt handeln?

dapd: Wie versuchen Sie, Ihrer Thüringer Allgemeinen die Zukunft zu sichern?
Raue: Wir verlassen die Wolke, von der wir auf unsere Leser hinabschauten. Wir klettern die wacklige Leiter hinunter, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Wir stellen den Journalismus vom Kopf auf die Füße – ohne dabei kopflos zu werden. Wir schreiben für Menschen, mit denen wir zusammen leben, deren Bedürfnisse wir kennen. Wer sein Leben und den Alltag ohne Arroganz mit seinen Lesern teilt, der schreibt ihnen nicht mehr vor, was sie zu denken haben. Der Hochmut wäre in der Tat unser Untergang.
Die Bedürfnisse der Leser ernst zu nehmen, bedeutet für uns Journalisten: Haltet die Gemeinschaft lebendig! Haltet sie zusammen – mit Vereinsberichten, Service und tiefen Recherchen! Es bedeutet nicht, um jeden Preis populistisch zu werden, also der vermuteten Mehrheit hinterher zu hecheln. Wir ermuntern zur Debatte, wir fördern sie. Doch Debatten entstehen nur, wenn Minderheiten und Querdenker zu Wort kommen und auch Redakteure nicht nur mit dem Strom schwimmen. Leser mögen Debatten, mögen Querdenker – auch wenn sie gerne zetern: Warum steht das in meiner Zeitung? Aber sie lesen es und streiten.

dapd: Ist Regionalisierung das Allheilmittel?
Raue: Regionalisierung ist töricht, wenn darunter verstanden wird: Wir errichten 50 Kilometer vor unserer Stadt eine Mauer und schauen nur noch drüber, wenn ein Gewitter aufzieht. Regionalisierung ist klug, wenn sich Redakteure die Welt anschauen und aus der Perspektive ihrer Leser die Informationen ordnen, verständlich machen und kommentieren.
Wir haben eine Arbeitsteilung, die es Lokalzeitungen einfach macht: Die „Tagesschau“ hat die Welt, Brüssel und Berlin im Fokus; für die Leser ist sie die Instanz der Informationen aus der Welt, die sie unbedingt wissen müssen. „FAZ“ und „Spiegel“ leuchten in die Kulissen der Welt. Wir leuchten in die Nachbarschaft.
Für Redakteure sind die Nachrichtenagenturen entscheidend, um im Tagesgeschäft die Welt-Nachrichten zu entdecken, die Nutzen für das Leben ihrer Leser haben. Das kann in einer kleinen Stadt die Nachricht aus dem Westen Chinas sein, wenn eine örtliche Firma dort einen Schlachthof baut. Das ist eine Entscheidung aus Brüssel, die das Leben der Menschen verändert; das ist eine Menschenrechtsverletzung auf dem Balkan, wenn der Redakteur sowohl Zahl wie Ort von Flüchtlingen erfährt, denen die Abschiebung droht. Kein Schaden droht unserer Demokratie, wenn Redakteure von Regionalzeitungen nicht mehr die Lage in Aserbeidschan kommentieren, ohne jemals das Land bereist zu haben.

 
dapd: Die Rückbesinnung auf guten, sauber recherchierten, einordnenden, erklärenden Journalismus gilt vielen als die richtige Strategie. Wie lässt sich das finanzieren?Raue: Wenn wir immer besonnen gearbeitet hätten, ginge es uns zurzeit besser. Wir verlieren ja nicht – oder zumindest: nicht nur – wegen des Internets, sondern wegen unseres Hochmuts, unsere Leser nicht ernst zu nehmen. Die Auflagen rutschten schon, als nur wenige das Internet kannten und noch weniger nutzten. Die Auflagen rutschen selbst dort, etwa im Osten, wo das Internet am wenigsten verbreitet und am wenigsten schnell ist. Früher klagten nicht wenige Redakteure, sie stünden unter der Knute der Anzeigenabteilung. Heute klagen sie, sie stünden unter der Knute der Leser, die nur für das zahlen, was wertvoll ist. Immer schon galt: Wer sich an seine Werbekunden anpasst, hat die Zeitung und den unabhängigen Journalismus aufgegeben. Wer sich dagegen nach seinen Lesern richtet, stärkt die Zeitung und den unabhängigen Journalismus.

dapd: Sind Google und Facebook nur Schmarotzer oder symbiotische Partner der „klassischen“ Medien?
Raue: Sie sind Schmarotzer, sie sind gefährlich, gemeingefährlich, aber sie sind da, und sie sind mächtig. Wir sollten sie nutzen, benutzen, aber nicht mehr. Hätten sich die großen Verlage, vor allem in den USA, wo alles begann, dieselben Gedanken gemacht wie Steve Jobs und Mark Zuckerberg, wären diese gigantischen, die Freiheit bedrohenden Netze unter Kontrolle von Journalisten und weisen Verlegern. Aber das sagt sich so leicht, und es ist der Fehler von gestern.
Mehr Sorgen bereitet, dass auch in Deutschland Startups entstehen, die schnell millionenschwer werden: Sie werden selten von Verlagen gegründet, sondern von jungen Tüftlern, die kein Geld für teure Marktanalysen und ausführliche Business-Pläne haben und keine Lust auf lange Konferenzen.
Warum entdecken wir diese Leute nicht? Stimmt unsere Ausbildung, unsere Talent-Suche nicht mehr? Haben wir das Gespür für Ausgewogenheit verloren, wenn wir Risiko, Neugier, Spontanität und Mut in die eine Waagschale legen und Wirtschaftlichkeit, Seriosität, Kontrolle und Kontinuität in die andere?

dapd: Können Sie jungen Leuten noch dazu raten, Journalisten zu werden?
Raue: Ja und nochmals: ja – wenn ein junger Mensch mit Leidenschaft für diesen Beruf brennt. Nein – wenn ein junger Mensch den Typ Beamten schätzt in Habitus, Denken und Sein. Noch nie war der Beruf so spannend und noch nie so wichtig wie heute: Im digitalen Zeitalter muss die Freiheit und Unabhängigkeit und Verständlichkeit des Journalismus mit neuen Mitteln verteidigt werden. Die Ideen dafür bringen die jungen Journalisten mit, die mit Neugier und Lust am Experiment starten und von den alten lernen, dass die Demokratie starke Journalisten braucht und wir Journalisten eine starke Demokratie brauchen.
Zum ersten Mal in der Ausbildung lernen die Alten – die Profis der analogen Welt – von den Jungen – die technisch Versierten der digitalen. Das müsste der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft sein. Die Alten schrieben in der Gewissheit: Wir füllen unbehelligt den Raum zwischen den Anzeigen – und vergaßen, dass Zeitungen immer kommerziell waren, einst abhängig von Werbung, bald von den Lesern oder von „Nutzern“, wie Leser digital heißen. Der Raum zwischen den Anzeigen ist mittlerweile so groß geworden, dass so manche Redaktion von Werbe-Einnahmen allein nicht mehr finanziert werden kann. Wir brauchen also neue Finanzierungen. Die müssen die Jungen finden, ohne dabei die Vernunft des Journalismus zu verraten.
dapd/T2012080351013/ume/rwe /1

„Eine Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft“ (Kommentar zum dapd-Interview)

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

 

Ich war selbst 10 Jahre leitender Redakteur bei einer großen österreichischen Regionalzeitung und kann Ihre Einschätzung nur bestätigen. Auch in Bezug auf Ihre Einschätzung der besorgniserregenden Entwicklung des Journalismus. Allerdings gilt das auch für viele andere Berufsgruppen, was das Problem nicht verkleinert.

schreibt Dr. jur. Klaus Diekers aus dem österreichischen Lustenau per Mail zum dapd-Interview.

Der immer stärker gewordene Ersatz von Berufsethos durch schlichten Kommerz ist zunehmend eine Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Gesamtgesellschaftliche Solidarität zum gegenseitigen Nutzen und Schutz wird darüber hinaus durch subjektiv orientierte Netzwerkbildung abgelöst – in der Hoffnung auf größere persönliche Vorteile.

Außerdem ist ein personen- und umfeldbezogenes Netzwerk eben nicht so anonym. Wohin diese Entwicklung allerdings führen wird, ist heute schon sichtbar: es entsteht ein dauerhafter und zunehmender Interessenskonflikt konkurrierender Netzwerke quer durch die Gesellschaft, der mit allen Mitteln geführt werden wird.

Eine brandgefährliche Entwicklung, deren Eigendynamik sich exponentiell entfalten könnte und deren Auswirkungen dann Tür und Tor zu einem gesellschafts- und zukunftszerstörenden Gegeneinander öffnen wird.
 
 

Noch nie war Journalismus so wichtig (dapd-Interview 6)

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.

Können Sie jungen Leuten noch dazu raten, Journalisten zu werden?
fragt Ulrich Meyer im dapd-Interview. Raue antwortet:

Ja und nochmals: ja – wenn ein junger Mensch mit Leidenschaft für diesen Beruf brennt. Nein – wenn ein junger Mensch den Typ Beamten schätzt in Habitus, Denken und Sein.

Noch nie war der Beruf so spannend und noch nie so wichtig wie heute: Im digitalen Zeitalter muss die Freiheit und Unabhängigkeit und Verständlichkeit des Journalismus mit neuen Mitteln verteidigt werden. Die Ideen dafür bringen die jungen Journalisten mit, die mit Neugier und Lust am Experiment starten und von den alten lernen, dass die Demokratie starke Journalisten braucht und wir Journalisten eine starke Demokratie brauchen.

Zum ersten Mal in der Ausbildung lernen die Alten – die Profis der analogen Welt – von den Jungen – die technisch Versierten der digitalen. Das müsste der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft sein.

Die Alten schrieben in der Gewissheit: Wir füllen unbehelligt den Raum zwischen den Anzeigen – und vergaßen, dass Zeitungen immer kommerziell waren, einst abhängig von Werbung, bald von den Lesern oder von „Nutzern“, wie Leser digital heißen.

Der Raum zwischen den Anzeigen ist mittlerweile so groß geworden, dass so manche Redaktion von Werbe-Einnahmen allein nicht mehr finanziert werden kann. Wir brauchen also neue Finanzierungen. Die müssen die Jungen finden, ohne dabei die Vernunft des Journalismus zu verraten.

(aus einem dapd-Interview, das am 3. August gesendet wurde)

(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 2-3 „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)

Reporter im Film: Zwei der besten Filme heute im TV

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Recherche.

Rosebud – dead or alive! Mit dem Wort „Rosebud“ auf den Lippen stirbt ein Medienmogul, gespielt von Orson Welles; ein Reporter recherchiert, was „Rosebud“ bedeutet. „Citizen Kane“, einer der besten Filme überhaupt und einer der besten Reporter-Filme: Heute abend (Montag, 6. August) um 20.15 auf Arte (Wiederholung am 23. August um 2.30 Uhr).

Anschließend um 22.50 Uhr auf MDR „Die Unbestechlichen“, in dem Dustin Hoffmann und Robert Redford die beiden Washington-Post-Reporter spielen, die den Watergate-Skandal aufdeckten und Präsident Nixon stürzen halfen. Recherche ist mühsame Arbeit und kein Geniestreich, ist Geduld und Hartnäckigkeit, ist Mut und Zivilcourage – das ist die Botschaft für Reporter in diesem spannenden Film.

(zu: Handbuch-Kapitel Service A Neue Rubrik „Filme und Fiktion“)

Wer sich nach seinen Lesern richtet, stärkt die Zeitung (dapd-Interview 5)

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.

„Journalismus gilt vielen als die richtige Strategie. Wie lässt sich das finanzieren?“
fragt Ulrich Meyer im dapd-Interview. Raue antwortet:

Wenn wir immer besonnen gearbeitet hätten, ginge es uns zurzeit besser. Wir verlieren ja nicht – oder zumindest: nicht nur – wegen des Internets, sondern wegen unseres Hochmuts, unsere Leser nicht ernst zu nehmen.

Die Auflagen rutschten schon, als nur wenige das Internet kannten und noch weniger nutzten. Die Auflagen rutschen selbst dort, etwa im Osten, wo das Internet am wenigsten verbreitet und am wenigsten schnell ist.

Früher klagten nicht wenige Redakteure, sie stünden unter der Knute der Anzeigenabteilung. Heute klagen sie, sie stünden unter der Knute der Leser, die nur für das zahlen, was wertvoll ist. Immer schon galt: Wer sich an seine Werbekunden anpasst, hat die Zeitung und den unabhängigen Journalismus aufgegeben. Wer sich dagegen nach seinen Lesern richtet, stärkt die Zeitung und den unabhängigen Journalismus.

(aus dapd-Interview vom 3. August 2012)

(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 5 „Die Internet-Revolution“, darin: Das Internet wirbelt den Journalismus durcheinander)

Was Journalisten vom Domprediger lernen können

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus, Online-Journalismus.

„Man darf keine Menschenscheu haben. Und wenn es besonders gelingen soll, dann muss es von Menschenfreundlichkeit und Interesse an den Biografien der Menschen geprägt sein. Denn Rhetorik hat den Hörer oder die Hörerin ganz direkt im Blick.“ So antwortet der Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel, seit 20 Jahren im Amt, auf die Frage nach seinen rhetorischen Fähigkeiten.

Es gibt bemerkenswerte Parallelen zwischen einem guten Prediger und einem guten Journalisten. Man ersetze einfach „Rhetoriker“ durch „Journalist“, „Reden“ oder „Predigen“ durch „Schreiben“.

Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, führte mit dem Domprediger ein Interview in der BZ; die Zitate sind der Langfassung im Internet entnommen:

  • Man kann mit rhetorischen Fähigkeiten Gutes bewirken und auch fatale Folgen erzielen.
  • Sie fragten nach dem Lernen (der guten Rede). Das geht nur durch Praxis… Ein Manuskript vorzulesen, das reicht nicht. Ich wundere mich manchmal, wie wenig Menschen, die immer wieder in die Situation des Redens kommen, die Art und Weise, auch die Technik des Redens wertschätzen.
  • Es gibt eine Form des Redens, die ist nahe an der Beleidigung derer, die zuhören sollen. Sonst wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass Form und Inhalt korrespondieren. Aber so viele, die Sprache nutzen, kümmern sich nicht wirklich darum, wie das geht mit dem Reden.
  • Man muss etwas zu sagen haben, und es muss ihre persönliche Art und Weise sein. Das macht ja die Rednerin oder den Redner so spannend. Wenn alle gleich reden würden, das wäre so was von langweilig.
  • Predigen ist mit Arbeit und Mühe verbunden. Und wenn manchmal der Eindruck entstünde, das würde man aus dem Ärmel schütteln, kann ich nur sagen, hier wird ordentlich und anständig gearbeitet. Ich habe Zuhause keinen Internetanschluss; das, was ich erarbeite, soll aus meinem Kopf und meinem Herzen und aus meiner Lektüre kommen.
  • Ich möchte der Versuchung widerstehen, durch den Zugriff auf bestimmte Tastaturen (im Internet) mal eben eine Brücke hinzukriegen. Wenn in Reden Zitate vorkommen, kann man feststellen, ob jemand ein Stichwort eingegeben hat, oder ob das Zitat aus dem Fluss dessen kommt, was man gerade gesagt hat und genau dort hin gehört.
    Da passiert es eben, dass einer ausruft: Und übrigens hat schon Machiavelli gesagt… und jeder fragt sich, wie kommt er denn nun auf Machiavelli?
  • Wenn sich ein Tsunami ereignet oder es der 11. September ist, dann kommen sogar noch mehr Leute in den Dom. Sie erwarten, dass ich etwas zu diesen Themen sage. Ich kann nicht sagen, kommen Sie am Sonntag wieder, heute fällt mir dazu nichts ein. Die Predigt entsteht immer in einer aktuellen Situation.

(zu: Handbuch-Kapitel 11ff  „Schreiben und Redigieren“ + 55 „Der neue Lokaljournalismus“)

Was Studenten dringend brauchen! Den Duden

Geschrieben am 5. August 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 5. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Drei Apps bewirbt Apple zum Semesterstart: „Die Elemente: Bausteine unserer Welt“ für 5,49 Euro, „Schneller lesen“ für 1,59 Euro – und den Duden für 14,99 (gottseidank? oder: peinlich, peinlich, so schlecht schreibt die Jugend von heute?)

Regionalisierung ist töricht (dapd-Interview 4)

Geschrieben am 5. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 5. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

Ist Regionalisierung das Allheilmittel?

fragt dapd-Redakteur Ulrich Meyer. Raue antwortet:

Regionalisierung ist töricht, wenn darunter verstanden wird: Wir errichten 50 Kilometer vor unserer Stadt eine Mauer und schauen nur noch drüber, wenn ein Gewitter aufzieht. Regionalisierung ist klug, wenn sich Redakteure die Welt anschauen und aus der Perspektive ihrer Leser die Informationen ordnen, verständlich machen und kommentieren.

Wir haben eine Arbeitsteilung, die es Lokalzeitungen einfach macht: Die „Tagesschau“ hat die Welt, Brüssel und Berlin im Fokus; für die Leser ist sie die Instanz der Informationen aus der Welt, die sie unbedingt wissen müssen. „FAZ“ und „Spiegel“ leuchten in die Kulissen der Welt. Wir leuchten in die Nachbarschaft.

Für Redakteure sind die Nachrichtenagenturen entscheidend, um im Tagesgeschäft die Welt-Nachrichten zu entdecken, die Nutzen für das Leben ihrer Leser haben:

  • Das kann in einer kleinen Stadt die Nachricht aus dem Westen Chinas sein, wenn eine örtliche Firma dort einen Schlachthof baut;
  • das  ist eine Entscheidung aus Brüssel, die das Leben der Menschen verändert;
  •  das ist eine Menschenrechtsverletzung auf dem Balkan, wenn der Redakteur sowohl Zahl wie Ort von Flüchtlingen erfährt, denen die Abschiebung droht.

Kein Schaden droht unserer Demokratie, wenn Redakteure von Regionalzeitungen nicht mehr die Lage in Aserbeidschan kommentieren, ohne jemals das Land bereist zu haben.

(aus dapd-Interview vom 3. August 2012)

(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)

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