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Hingebung, Demut, Dienen (Noske-Interview 2)

Geschrieben am 15. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Organisation eines Klosters und einer Redaktion sowie Fehler und ihr Management: Das sind die Themen im zweiten Teil des Interviews, das Paul-Josef Raue mit Henning Noske  über dessen Buch „Journalismus“ führte.

Raue: Sie sind zum Schreiben des Buchs ins Kloster gegangen. Kann man nur ohne Handy und I-Pad noch konzentriert arbeiten?

Noske: Das Kloster war ein Fehlschlag, wie Sie ja lesen konnten. Ich habe nicht ansatzweise das Pensum geschafft, das ich mir vorgenommen hatte. Um mich herum hatte ich zwar keinerlei Medien, sogar das Massaker auf der Insel Utoya in Norwegen habe ich zunächst nicht mitbekommen. Ich erfuhr davon erst zwei Tage später um 6 Uhr früh in der Predigt. So muss es wohl früher gewesen sein.

Das Kloster und die gestrandeten Menschen dort – das war für mich alles viel zu spannend, um es für meine konzentrierte Arbeit an dem Buch, die ich mir eigentlich vorgenommen hatte, zu ignorieren. Ich bin am Mittagstisch sitzengeblieben, um mit den spannenden Leuten zu reden. Im Buch kann man nachlesen, warum das so wichtig ist. Ich habe es dann zuhause im Urlaub fertiggeschrieben, auf Kosten meiner Frau.

Raue: Sie nennen die Organisation eines Klosters ein zwei Jahrtausende altes Psycho-Programm. Wenn es sich so bewährt hat: Was können Redaktionen von den Mönchen lernen?

Noske: Konzentration auf das Wesentliche, Hingebung, Demut, Dienen. Natürlich kann man eine Redaktion nicht wie ein Kloster organisieren – und niemand hätte Verständnis dafür. Die Kunst ist es heute, die Hingabe an die eigene Profession mit dem Spaß und dem Erfolg zu verbinden. Insofern ist mir das Kloster schlicht zu weltabgewandt, in jeder Beziehung.

Die Redaktion ist im Idealfall ein Tummelplatz von gesprächigen Menschenfreunden, die aus sich herausgehen und nicht nach innen gekehrt sind. Mein Glaube ist, dass nichts gewiss ist. Das sehen die Mönche natürlich ein bisschen anders.

Raue: Was ist Ihr Lieblings-Kapitel im Buch? Ihr Lieblings-Zitat?

Noske: Das ist immer dort, wo ich mich mit Egon Erwin Kisch beschäftige. Und das ist gleich an etlichen Stellen der Fall, wenn es um Details und Erzählkunst geht. Das hat mir am meisten Spaß gemacht. Und mich aber leider auch wieder am meisten Zeit gekostet: Ich habe mich in meine Kisch-Gesamtausgabe aus dem Aufbau-Verlag, noch zu DDR-Zeiten mit Ostmark aus dem Zwangsumtausch erstanden, vergraben und immer wieder festgelesen. Dieser Mann schreibt uns auch heute noch alle an die Wand! Er hat so viel Spaß am Schreiben und Erzählen, er spielt mit Lust damit und mit seinem Leser, den er liebt, hofiert, umgarnt, fordert und fesselt – und man liest es! Ich hätte Lust, ein „Best of Kisch“ zu schreiben.

Und mein Lieblings-Zitat? Da beschäftige ich mich mit Wolf Schneider und seinem legendären Spruch: Qualität kommt von Qual. Ich sage dazu: Nein, verehrter Meister, hier irren Sie. „Qualität kommt von Spaß! Weil ich sage: Wer keinen Spaß hat, braucht sich auch nicht zu quälen. Er wird ohnehin niemals Erfolg haben.“ (Journalismus – Was man wissen und können muss, Seite 84).

Raue: Sie kommen aus dem Wissenschafts-Journalismus, haben dort viele Preise gewonnen und sind an der Braunschweiger Universität bekannter als der Präsident. Was haben Sie für den Journalismus von Wissenschaftlern gelernt, vor allem von Naturwissenschaftlern und anderen, die mit unserem Gewerbe nichts zu schaffen haben?

Noske: Natürlich bin ich dort nicht bekannter als der Präsident – und ich möchte es auch nicht sein. Aber von den Wissenschaftlern habe ich viel gelernt, übrigens gerade von den Naturwissenschaftlern. Sie forschen mit der Attitüde des selbstlosen Rechercheurs – ein Befund reicht ihnen nicht, ein zweiter meistens auch nicht. Sie sind übrigens auch dann zufrieden, wenn sie rauskriegen, dass sie nicht Recht haben. Das ist auch ein Treffer.

Hier sehe ich die Grenze: Journalisten recherchieren, um ihre Geschichte rund- und nicht totzumachen. Wir kommen schneller auf den Punkt, übersetzen, schlussfolgern, schätzen, kommentieren. Damit tun sich die Forscher schwer. Mein Programm ist es, Teams mit ihnen zu bilden. Sie erklären mir die Wissenschaft, beispielsweise, wie die Naturstoffe von Bakterien entschlüsselt und zu Medikamenten umgebaut werden. Und ich zeige ihnen den Weg zu unserem Leser, für den er bislang immer nur chinesisch geredet hat.

Raue: Journalisten geben ungern Fehler zu. Sie schreiben 25 Seiten über das „Fehlermanagement“, sogar drei Kapitel über „Rechtschreib-Hauptfehler“ und bemühen die Hirnforschung. Warum so viele Mühe um unsere Fehler?

Noske: Weil wir zwar ungern Fehler zugeben, aber zu viele machen. Der Fehler ist ein alltägliches Phänomen, nicht nur beim Zeitungmachen. Die Technik, die wir lernen müssen, ist es, bei Qualitätsarbeit im Fehlervermeidungsmodus zu arbeiten. Wir arbeiten jedoch allzu oft in einer Art Fehlermodus: Er suggeriert uns, da würde immer noch einer kommen, der den Fehler schon noch findet und ihn eliminiert. Bloß, dass diese Heinzelmännchen ausgestorben sind.

Was bleibt, sind allzu viele Fehler – und ein Leser, der unsere Zuverlässigkeit liebt und an unseren Fehlern verzweifelt. Es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt in diesem Zusammenhang: Fehler zermürben uns, sie durchlöchern unser Selbstbewusstsein. Fehler machen fertig, sind Sargsprossen zum Burnout. Das Verbergen von Fehlern und Defiziten, nicht das Korrigieren, frisst unglaublich Zeit und Energie, lähmt. Bei all dem sage ich: Mit offenem Visier gegen unsere Fehler, auch gemeinsam mit dem Leser, der gerade unsere Ehrlichkeit immer besonders schätzt und gern liest. Der Forscher würde sagen: Jeder Fehler bringt mich weiter.

Raue:  Bleiben wir bei den Fehlern. Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt Ihre Zeitung mit einer Schlagzeile, die ein Fall fürs Fehlermanagement wäre: „Hebel aus der Krise“ ist ein schiefes Bild, eher geeignet für den „Hohlspiegel“, den Sie in Ihrer Literaturliste empfehlen. Ist das Titelbild ein Wink in die Redaktion, gefälligst Ihr Buch zu lesen?

Noske: Nein, ich habe das Bild in der Bahnhofsbuchhandlung selbst geschossen – aber auf die Schlagzeile dieses Tages nicht geachtet. Darauf machen Sie mich erst aufmerksam. Ich bewundere Ihren Instinkt, mit dem Sie bei den abgebildeten 45 nationalen und internationalen Blättern im Miniformat untrüglich die Schlagzeile Ihrer Lieblingszeitung entziffern können und sich offenbar immer noch auf eine kleine Rauferei in der Konferenz freuen.

Ich nehme mal die Lupe und lese die ganze Schlagzeile: „Merkel und Sarkozy suchen den Hebel aus der Krise.“ Der Hebel ist im Zusammenhang mit den Euro-Rettungsfonds ist ein blindes Bild, das keiner bislang so richtig begriffen hat. Wir werden die Schlagzeile aber vermutlich nicht im Hohlspiegel finden. Trotzdem sollten alle gefälligst mein Buch lesen. Das hebelt richtig.

*

Der dritte und abschließende Teil des Interviews folgt. Teil 1 – Teil 3.

Eine ausführliche Besprechung des Noske-Buchs hat Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, geschrieben: „Wie man guten Journalismus macht“ (BZ, 22. Dezember 2012)

Das Buch: Henning Noske, Journalismus – Was man wissen und können muss. Ein Lese- und Lernbuch. Klartext-Verlag, Essen, 234 Seiten, 17.95 Euro

Noske-Interview „Journalismus – Was man wissen muss“

Geschrieben am 14. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Paul-Josef Raue sprach mit Henning Noske über ein „Lehr- und Lernbuch“, das er gerade  herausgegeben hat: „Journalismus. Was man wissen und können muss“ (Klartext Verlag, Essen, 234 Seiten, 17.95 Euro).  Noske, Jahrgang 1959,  ist Lokalchef Braunschweig der „Braunschweiger Zeitung“ und Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Braunschweig.

Raue: Es gibt zwei große Bücher über den Journalismus in unserer Zeit, die sich auch in Ihrer Handbibliothek finden: Den La-Roche und, ohne Bescheidenheit, „Das neue Handbuch des Journalismus“. Was treibt den Redakteur einer Regionalzeitung an, noch ein Journalismus-Buch zu schreiben – statt an einer Serie, die den nächsten Preis holt?

Noske: Ich würde noch „Die Reportage“ von Michael Haller hinzufügen. Mein Buch setzt setzt aber ganz anders an als diese „Klassiker“. Und zwar bei vielen Fragen, die nicht nur ganz am Anfang stehen, sondern noch vor dem Anfang:
– Welche Haltung müssen Journalisten haben?
– Wie engagiert müssen sie sein?
– Welche Tugenden braucht man denn eigentlich, um Themen zu finden, gründlich zu recherchieren – und möglichst wenige Fehler zu machen?
– Warum will ich das eigentlich machen?

Entstanden ist mein Projekt aus Seminaren mit unzähligen Studenten, bei dem ich mich selbst immer gefragt habe: Warum ist Journalist bloß ein Traumberuf für die? Umgekehrt kam nach meinem aufrüttelnden Tugend- und-Themen-Tremolo oft die Frage auf: Kann man das so eindrucksvoll nicht mal nachlesen?

Raue: Sie arbeiten bei einer großen Zeitung, die das Lokale schätzt. Nicht wenige sagen: Der arbeitet in der Provinz – und lächeln leicht. Kränkt Sie das?

Noske:  So wenig wie Sie. Daraus erwächst gerade mein Selbstbewusstsein. Es ist – mit Verlaub – nicht der leichteste Job, den wir in der „Provinz“ tun. Aber im Journalismus der wichtigste. Schon der Begriff Provinz ist seit jeher blödsinnig, denn er qualifiziert die normalen Leute ab. Es ist ein Begriff, mit dem schon immer das Entrücktsein einer Kaste von Eingebildeten verknüpft war. Hoffentlich sind nicht so viele Journalisten dabei. Denn sie sollen direkt neben den Leuten sitzen und das echte Leben aufspüren. Davon handelt mein Buch.

Raue: Was haben Sie in Ihr Buch genommen, was in den anderen Büchern fehlt?

Noske: Die Kapitel über das Schreiben und die Präsentation sind zentral und dann eben sehr praxisorientiert.

Wie anfangen? Mit konkreten Beispielen. Dranbleiben, Übergänge, Tricks für einen eigenen Stil. Mit konkreten Beispielen. Wie versetzt man sich in den Leser hinein? Wie packt man ihn. Zum Beispiel mit einer ganz einfachen Dreifingerregel: Reizen – Informieren – Unterhalten.

Wie bastelt man wirklich eine gute Überschrift? Hier findet man mal einen richtigen Baukasten.

Und was heißt eigentlich „Augenhöhe“ wirklich, von der immer die Rede ist? Da war mal eine kleine Psychologie unseres Lesers fällig.

Und ein eigenes großes Kapitel nur über Fehler und Fehler-Vermeidung? Dazu gehört das Eingeständnis, dass wir täglich regelmäßig Fehler produzieren. Ich zeige: So kriegen wir sie weg.

Raue: Legen Sie Ihre mal Ihre Bescheidenheit beiseite: Warum sollen junge Leute Ihr Buch lesen?

Noske: Wenn es um den Berufswunsch geht, hören wir doch immer wieder: Irgendwas mit Journalismus! Unser Beruf hat immer noch eine magische Anziehungskraft. Und das ist auch gut so. Doch in der Praxis sehen wir ja doch oft auch, wie sehr Vorstellung, Anspruch und Wirklichkeit immer mehr auseinanderklaffen. Dazu gehören ja immer zwei. Da ist die Zeitung beziehungsweise der Verlag, der einen Rund-um-die-Uhr-Job mit viel Stress, Routine und ungesunder Lebensweise zu bieten hat. Und da sind junge Leute, die eben zunehmend auch manches an Einstellung und Qualitäten mitbringen müssen.

Wer rauskriegen will, ob das also wirklich etwas für ihn ist, der sollte mein Buch lesen. In aller Bescheidenheit: Das konnte man bislang noch nirgendwo so gut lesen.

Raue: Sie haben seit Jahren einen Lehrauftrag an der Braunschweiger Universität. Sie entdecken immer wieder Talente, fördern sie. Welche Erfahrungen mit den Studenten sind in Ihr Buch geflossen?

Noske: Das knüpft an das eben Gesagte an. Mir geht es darum, die Leute auch wirklich zu finden, die wir meinen und die wir brauchen. Es gibt sie nicht wie Sand am Meer. Am Ende sind es tatsächlich Talente, die wir entdecken müssen. Wie sie dazu geworden sind, wissen wir nicht wirklich. Sie lesen viel, schreiben tatsächlich zum Spaß, pflegen vielfältige Kontakte, haben was zu sagen, eigene Hobbys, Projekte, eine eigene Haltung.

Ich habe immer gedacht: Das kann ich doch keinem jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren mehr beibringen. Ich habe mich geirrt. Ein schöner kleiner Werkzeugkasten mit dem nötigen Handwerkszeug und den richtigen Tipps kann zumindest manchmal Wunder wirken. Die Studenten haben sich im Zuge von Bachelor und Master stark verändert: Sie wollen an die Hand genommen werden, warten ab, was ihnen geboten wird. Das nervt, aber es lehrt auch, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen.

Raue: Und warum sollten Ihre Kollegen und andere Journalisten Ihr Buch lesen?

Noske: Weil wir uns immer an den Zauber des Anfangs erinnern müssen! Weil wir uns vergewissern müssen, wie weit wir uns möglicherweise von unserem Ideal entfernt haben. Eine Kollegin in der Redaktion hat mir nach der Lektüre meines Buches gesagt: Schön und gut, ich habe es gern gelesen – aber ich komme nicht dazu, so zu arbeiten. Dieser Satz ist wahr, er ist ehrlich. Und er ist Sprengstoff für Redaktionen.

Warum schaffen wir es oft nicht, unsere Träume vom Journalismus im täglichen Redaktionsalltag zu verwirklichen. Und warum tun wir es nicht endlich, verdammt nochmal? Darum habe ich das Buch auch für meine Kollegen geschrieben. Es können nicht nur Anfänger lesen, sondern auch gestandene Redakteure. Mit einer Bedingung: Ich bin scharf auf ihre Reaktionen. Ich will die Diskussion.

Der zweite und dritte Teil des Interviews folgt: Teil 2 – Teil 3

Schneiders Lebensstil: Kein Yoga – kein Joghurt

Geschrieben am 8. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Wolf Schneider, einer der beiden Handbuch-Autoren,  erhielt am 6. Mai 2011 den Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk. Im ersten Teil seiner Dankesrede sagte er:

„Ich bedanke mich und bin stolz auf diesen Preis. Er trifft insofern nicht ganz den Falschen, als ich unter den Preisträgern der erste (und in diesem Haus vermutlich der letzte) bin, der Henri Nannen in seiner größten Zeit erlebt und noch direkt von ihm gelernt hat – mehr als von jedem anderen Men-schen; und unbefangen füge ich hinzu: Es hat auch kein anderer Mensch von ihm so viel gelernt wie ich.

„Lebenswerk“ freilich – das klingt ein bisschen nach „gewesen“, nach Plusquamperfekt. Deshalb hänge ich mich nicht ungern an das an, was mir heute früh im Fahrstuhl Helmut Markwort vorgeschlagen hat: doch einfach von einem „Lebensabschnittspreis“ zu sprechen.

In der Tat, ich habe noch viel vor – beflügelt von den journalistischen Generaltugenden Neugier, Misstrauen und Ungeduld – gestützt auf vier Kinder, auf die ich stolz bin – Arm in Arm mit meiner Frau. Ohne sie stünde ich nicht hier. Gemeinsam betreiben wir ein florierendes Kleinunternehmen für gehobene Prosa. Und einig sind wir uns auch über unsern Lebensstil: Kein Yoga – kein Joghurt – Dampf in der Hütte – und einen Hauch von Leichtsinn bis zum Schluss. Danke, Lilo.

Henri Nannen! „Dieser überwältigende, lastende Mann“ – so hat Gerd Bucerius ihn genannt: diesen großen Zámpano der deutschen Presse – den Renaissance-Fürsten, fröhlichen Leute-Schinder und Baum von einem Mann! Zugunsten der Leser warf er mit Millionen um sich und schaufelte dabei seinen Verlegern Milliarden in die Tasche. Ein launisches Kraftpaket, von den Redakteuren gefürchtet, bewundert, gehasst, geliebt. Meldete er sich in den Urlaub ab, ging ein Aufatmen durch die Redaktion – dasselbe aber, wenn er wiederkam.

Wir keuchten unter ihm, wir strampelten in dem Hochdruckkessel, den er lustvoll beheizte – und entgegen einem populären Fehlurteil ist Druck etwas Wunderbares für alle, die etwas schaffen wollen.

Natürlich, es war viel Frust in der Redaktion: Denn sie produzierte ja immer Stoff für zwei bis drei „Sterne“, aus denen Nannen den einen herausknetete, der dann erschien. Aber es zog auch ein Hauch von Begeisterung durch die Räume, wenn wir es wieder mal gestemmt hatten, dieses unglaubliche Blatt, das das heißeste Medium deutscher Sprache war, die größte, erfolgreichste, renommierteste Illustrierte der Welt! Und ich kann sagen: Ich bin dabeigewesen.

Wie man den bloßen Blätterer permanent überrascht und förmlich hineinreißt in die Geschichten: Das wusste Nannen besser als jeder andere, das lehrte er, das setzte er um. Dass drei pakistanische Eigennamen in zwei Zeilen den Leser zuverlässig verscheuchen – dass ein schwerfälliger zweiter Absatz alle folgenden Absätze sinnlos macht – und natürlich, dass jeder Text mit einem Satz beginnen oder auf einen Satz zulaufen muss, den der Leser so schön oder so verblüffend findet, dass es ihn drängt, ihn seiner Frau zuzurufen: der Küchenzuruf in Nannens Bildersprache! Ich lehre ihn seit 32 Jahren, fast gerührt habe ich in wiedergefunden als Mahnung in den „Textstandards“ von Spiegel online.

Das Erstaunliche ist nun, dass alles, was Nannen erspürte, praktizierte, lehrte und erzwang, noch ungleich wichtiger geworden ist, als es zu seiner Zeit war. Denn dramatisch gestiegen ist ja das Angebot an gedrucktem und gesendetem Text – gleichzeitig gesunken die Bereitschaft zu gründlicher, gar geruhsamer Lektüre – gewachsen schlechthin die Kurzatmigkeit, die Ungeduld! Wer erreicht auf dem Bildschirm noch die letzte Zeile? Ist der typische Blogger nicht ein Mensch, der erst mal protestiert, ehe er gelesen hat? (Wenn überhaupt.)“

Blog-Gebote: Fairness, Sorgfalt, Überprüfen aller Fakten

Geschrieben am 31. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
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Arianna Huffington (61) ist der Star unter den Bloggern. In die „Huffington Post“ lockte sie Legionen von Bloggern, ohne ihnen ein Honorar zu zahlen, machte die Post zur stärksten Nachrichten-Seite im US-Internet und verkaufte sie 2011 für über 300 Millionen Dollar an AOL.
In einem Focus-Interview nennt sie die Grundregeln für Blogger:

„Unsere goldenen Gebote heißen: Fairness, Sorgfalt, Überprüfen aller Fakten. Wie heißt es so schön: Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten.“

Die Themen, über die die Menschen am meisten sprechen: „Politik, Kunst, Bücher, Essen oder Sex.“

(Focus 4/2012, Seite 91)

(zu Handbuch-Kapitel 10 „Was Journalisten von Bloggern lernen können“)

Wulff-Affäre: Medien haben Ansehen und Vertrauen verloren

Geschrieben am 26. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
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„Es gibt bei diesen Vorgängen rund um den Bundespräsidenten keine Gewinner. Alle haben an Ansehen und Vertrauen verloren: der Amtsinhaber, das Amt selbst sowie die Medien. Das ist bedauerlich.“ (Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU, im Focus 4/2012)

(zu: Handbuch Kapitel 3 „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)

Presserabatte und Schnäppchenjäger

Geschrieben am 24. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
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„Eine der wichtigsten Aufgaben von Journalisten ist es, Sachverhalte auch moralisch zu bewerten. Aber wer bewertet eigentlich die Moral der Journalisten?

Man kann verstehen, wenn das Publikum in diesen Tagen gleich doppelt genervt ist: vom Staatsoberhaupt, das sich ans Amt klammert. Und von Journalisten, die nun »enthüllen«, dass die Präsidentengattin zu bestimmten Anlässen kostenlose Abendgarderobe trug – als ob die Medien nicht selbst ein Problem mit Presserabatten und Schnäppchenjägern hätten. Journalisten werfen Politikern ja gern so etwas wie Volksverdummung vor. Aber leider tragen die Medien manchmal genau dazu bei.“

(Marc Brost in „Die Zeit“ vom 12.  Januar „Die Machtprobe“)

 

zu: Handbuch-Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“

Vom „Dönermord“ zum „Neonazi-Mord“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 17. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.

In der TA (Thüringer Allgemeine)-Kolumne „Friedhof der Wörter“ stand dieser Text am 5. Dezember:

Der „Dönermord“ wird das Unwort des Jahres, so fürchte ich.

Es ist ein grässliches Wort, spätestens, wenn aus dem Dönermord ein Dönermörder wird. Es ist ein Unwort, wenn man die wahren Täter kennt. Doch viele sprachen vom „Dönermord“, als der Abgrund des braunen Landesverrats nicht offen vor uns lag. Wer widersprach damals?

Sicher hätte uns auffallen können, dass der „Dönermord“ die Gewalt verniedlicht oder sogar verachtend gemeint war, dass wir jedem kleinen Döner-Griller Mafia-Verbindungen unterstellten oder, wie die Polizei argwöhnte, ein Banden-Mord wahrscheinlich sei. Da ließen wir schon deutsche Arroganz spüren, als wir das Wort prägten und nutzten. Vom Vorurteil zur Fremdenfeindlichkeit ist ein gerader Weg, den wir zuerst mit Worten gehen – oder wieder verlassen.

Gleichwohl ist die Selbstgerechtigkeit derer, die auf die „Dönermord“-Erfinder zeigen, unaufrichtig. Über Wörter sollen wir sprechen, wir müssen erklären, wie der Untergrund der Wörter beschaffen ist. Wer mit Wörtern richten will statt aufzuklären, der baut mit Sprache keine Brücken der Verständigung, sondern reißt sie ab.

Solange wir über die Wörter streiten, verhindern wir das Schlimmste. Der „Dönermord“ gehört heute, da wir die Täter kennen, auf den Friedhof der Wörter. Wir wissen es genau: Es sind Neonazi-Morde − und die Opfer waren Menschen, die ermordet wurden, weil sie Fremde waren.

US-Verhältnisse nach der Wulff-Affäre

Geschrieben am 17. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
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Es dürfte bald kein unveröffentlichtes Details mehr geben in Wulffs Amts- und Privatleben, vor allem in der Vermischung der Leben. Es gibt einen Grund, warum die Opposition so milde ist in der Verurteilung Wulffs: Kein Politiker will dasselbe erleben und erleiden wie der Bundespräsident.

In den USA ist es normal, dass die Medien das Unterste nach oben kehren, wenn ein Politiker Karriere machen will. Wahlkämpfe sind nach unserem Verständnis immer schmutzige Wahlkämpfe.

Diese moralischen Kehrwochen der US-Medien haben zwei Funktionen:

  • Sie zeigen, worauf die Bürger anspringen und was sie tolerieren;
  • sie ermitteln, ob der Kandidat die Nerven hat für ein hohes Amt.

Nach der Wulff-Affäre, ob mit oder ohne Rücktritt, werden wir wohl US-Verhältnisse haben. Das Internet ist nicht die Ursache: Amerikanische Medien hatten die Kehr-Woche schon immer auf der Tagesordnung.

Allerdings beschleunigt das Internet die Einführung in Deutschland:
• Journalisten sind nicht mehr die einzigen Akteure, die über Berichten oder Verschweigen entscheiden;
• die Bedenkzeit ist extrem kurz geworden, da sich Nachrichten in Minutenschnelle vervielfältigen – ob mit oder ohne die klassischen Medien.

(zu: Handbuch Kapitel 5 „Internet-Revolution (Das Internet wirbelt die Mächtigen durcheinander)“ und Kapitel 10 „Was Journalisten von Bloggern lernen können“ und Kapitel 48 „Wie Journalisten entscheiden“)

Scheibchen-Journalismus

Geschrieben am 16. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 16. Januar 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik, Recherche.

So wie der Bundespräsident die Wahrheit in Scheibchen serviert, tun dies auch einige Zeitungen. Nehmen wir die FAZ. Aus einem Seite-3-Beitrag von Eckart Lohse, „Christian Wulffs Gratwanderung“, in der Sonntagszeitung lässt sich diese Chronik zusammenstellen:

28. November: Die Bildzeitung fragt beim Bundespräsidenten wegen der Finanzierung seines Hauses.
ca. 10. Dezember: Der Bundespräsident bittet die Bildzeitung um Aufschub; er wird gewährt.
12. Dezember: Der Bundespräsident spricht dem Chefredakteur der Bildzeitung auf die Mailbox; er bittet, droht und spricht von „Krieg führen“.
16. Dezember: Die Sonntagszeitung der FAZ schreibt Olaf Glaeseker, dem Sprecher des Bundespräsidenten, eine SMS, wünscht eine Stellungnahme zum Mailbox-Anruf und erwähnt Worte aus dem Anruf wie: „Krieg führen“ und „der Rubikon ist überschritten“.
„Danach“: Olaf Glaeseker informiert die Bildzeitung über die FAZ-Anfrage.
Erst danach“: Glaeseker schreibt eine SMS an die FAS: „Es gab Differenzen. Diese sind zwischen Christian Wulff und Kai Diekmann sollständig ausgeräumt.“

Offenbar wollte die Bildzeitung nicht direkt mit dem Wulff-Anruf in die Öffentlichkeit. Ihr Chefredakteur hatte offenbar Skrupel (was ihn ehrte); wenn man davon ausgeht, dass Kai Diekmann alle Fäden in der Hand hält, ist zu folgern: Er ließ in aller Eile eine Informations-Brücke zur FAZ bauen. Sie war und ist offenbar stabil, auf jeden Fall war die FAZ gut über die Kontakte zwischen Wulff, der Bildzeitung und der Spitze des Springer-Verlags informiert.

Dies „über-die-Bande-spielen“ ist ein eingeübtes Verfahren unter Rechercheuren:

• Ist der Geschäftsführer oder Verleger gegen eine Veröffentlichung (oder denkt man, er sei es), dann steckt man die Fakten einem bekannten Journalisten;
• versucht ein Chefredakteur eine Recherche zu verhindern, spricht man mit einem Kollegen und bekommt so seine Geschichte doch noch ins Blatt (wenn auch unter einem anderen Namen: „Nach Informationen des SP-Magazins…“);
• will ein Chefredakteur oder Verleger den delikaten Erpressungs-Versuch eines Politikers öffentlich machen, tut er dies in der Regel nicht im eigenen Blatt, sondern nimmt den Politiker noch genauer in den Blick und erzählt den Vorfall anderen; er aber kann nur bei Staatsaffären davon ausgehen, dass andere Journalisten dies veröffentlichen und eine Debatte anstoßen.

Es dürfte für Politiker in Deutschland nahezu unmöglich sein, die stimmige Recherche eines Journalisten zu unterdrücken. Dass er sie in Scheibchen serviert, hat mit der Sorge zu tun, von Richtern gestoppt zu werden.

Es ist für geübte Rechtsanwälte einfach, gegen eine Tatsachen-Behauptung eine Unterlassung zu erwirken mittels einer einstweiligen Verfügung. Da ist es hilfreich, noch weitere Fakten und Vorwürfe recherchiert zu haben, denn Verfügungen können nicht vorbeugend erlassen werden. Da helfen nur Drohungen mit Anwälten, wie es offenbar auch der Bundespräsident in seinem Anruf auf die Diekmann-Mailbox getan hat: Ich werde gegenüber Journalisten Strafanträge stellen; die Rechtsanwälte sind beauftragt.

Erfahrene Rechercheure kennen den Grundsatz: Habe bei schwierigen Recherchen immer noch einen Pfeiler im Köcher. Dies trifft sich übrigens mit der Kriegs-Metapher des Bundespräsidenten: Einige Politiker sehen sich im ständigen „Krieg“ mit Journalisten (umgekehrt aber auch).

Der Unterschied zwischen dem Scheibchen-Journalismus und der Scheibchen-Wahrheit des Bundespräsidenten liegt auf der Hand: Die einen wollen aufklären, der andere will verhindern – alles dazwischen ist Taktik.

(zu: Handbuch Kapitel 17 „Die eigene Recherche“)

Pressefreiheit durch Brüssel in Gefahr

Geschrieben am 15. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. Januar 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Weitaus gefährlicher für die Pressefreiheit als die Anrufe des Bundespräsidenten bei Chefredakteuren könnte die geplante Verordnung der Europäischen Kommission zum Datenschutz sein. Laut SZ-Montagausgabe (Feuilleton 9. Januar 2012, Seite 2 unten) würde die Verordnung, die wie ein Gesetz wirkt, „die Gewährleistung der Meinungs- und Pressefreiheit dem Bundesverfassungsgericht auch allgemein entwunden werden“. Dies schreibt Johannes Masing, Richter am Bundesverfassungsgericht.

Zudem wird laut Masing ein Datenschutzbeauftragter in Brüssel, den keiner kontrollieren wird, auch die persönlichen Daten zwischen Privaten im Internet kontrollieren. „Bisher befindet sich alles in einem Entwurfsstadium – für eine Diskussion ist es nicht zu spät“, appelliert der Richter.

Debatte dazu : www.internet-law.de

(zu: Handbuch 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“)

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

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