Christian Krachts Rat an junge Schriftsteller und Journalisten (Zitat der Woche)
Schreiben Sie kürzere Sätze. Lesen Sie Joseph Roth.
Ausnahmsweise keine Empfehlung von Wolf Schneider, sondern die Antwort von Christian Kracht, der vor 20 Jahren Faserland“ geschrieben hatte, auf der FAZ-Frage: „Was raten Sie denen, die heute Schriftsteller werden wollen?“
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Quelle: FAZ 25. April 2015
Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen
„Absurd“ nennt FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525. „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.
Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?
Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:
Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.
Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:
Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.
Aber wie sollen wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:
Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.
(W&V 16.4.)
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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik
Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?
Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:
Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.
Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“
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Hatte der Co-Pilot gute Absichten?
Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.
Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“
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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter
Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook:
Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.
Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich?
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BILD und der Absturz
Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:
Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß
Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.
Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts
Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs.
Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte
Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.
Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht
Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht.
Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte.
Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch
Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.
Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen
Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit.
Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen
Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.
Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen
Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.
Ethik nach dem Absturz (3): Zu viel Rechthaberei, zu wenig Aufklärung?
Warum wahren Journalisten in ihren ureigenen Debatten nur so schwer die Distanz, die zum Handwerk gehören sollte? Warum dominiert Rechthaberei? Verteufelung von Argumenten, die nicht die eigenen sind?
Ein Beispiel: Michael Hanfeld (miha) schreibt in der FAZ einen kurzen Text zu der Ethik-Debatte nach dem Absturz und entdeckt in Sendungen der ARD „eine moralische Besserstellung“ – weil sie den Namen des Kopiloten nicht nennt. Aber auch er holt die moralische Keule heraus: „Die Öffentlich-Rechtlichen sind ja gern immer die Guten“, die Sondersendungen nach dem Absturz seien „ekelerregend“, und er entdeckt bei der ARD „Journalismus-Gefühlsduselei“.
Hanfeld kritisiert die Haltung von Journalisten, „die selbst bei einer solchen Gelegenheit nur von sich selbst berichten können“ – und zeigt nicht, wie er es besser machen würde. So geht seine Frage unter, die nachdenkenswert ist: „Wer den mehr als mutmaßlichen Täter anonymisiert, verhöhnt die Opfer. Die zwingendste Trennung geht unter – diejenige zwischen Täter und Opfern.“ (FAZ, 18. April).
Die Debatte dreht sich nicht allein um Namens-Nennungen, sei es von Kopilot oder Opfern, auch nicht um die Fotos, die gezeigt werden dürfen, sondern auch um den Umgang mit den Lesern: Was dürfen wir ihnen zutrauen? Wieviel Informationen dürfen sie bekommen? Wieviel Urteil überlassen wir ihnen? Wo endet die Nachricht? Wo beginnt die Sensation? Was ist „unangemessen“?
Verstecken wir unter dem Deckmantel der Ethik nicht ein feudales Verständnis: Wir, die Journalisten, da oben sagen dem Volk, was es wissen darf und anschließend, was und wie es zu denken hat? Zielt Aufklärung nicht auf den denkenden Menschen, der zum eigenen Urteil fähig ist?
Das sind grundsätzliche Fragen, die stets bei einem überwältigenden Thema – sei es die Love Parade, sei es der Flugzeug-Absturz – auftauchen, aber zu oft in Rechtfertigungen und Rechthaberei untergehen.
Das sind die Fragen, die der Presserat Anfang Juni beantworten will; ihm liegen 430 Beschwerden gegen die Berichterstattung über den Absturz von 4U9525 vor – so viele wie noch nie zu einem Thema:
> Durfte über den Co-Piloten identifizierend berichtet werden?
> War die Veröffentlichung von Opferfotos und Opfergalerien angemessen?
> Mussten die Angehörigen von Co-Pilot und Opfern geschützt werden?
> War die Berichterstattung unangemessen sensationell?
> Gab es Vorverurteilungen?
> Ist das Ansehen der Presse beschädigt worden?
Auf seiner Internet-Seite hat der Presserat allerdings schon kurz nach dem Absturz darauf hingewiesen: „Opferschutz hat Vorrang“ und an die Richtlinie 8.1 des Pressekodex erinnert:
Opfer haben einen Anspruch auf den besonderen Schutz ihrer Identität, denn für das Verständnis des Geschehens ist das Wissen darüber in der Regel unerheblich. Als zufällige Opfer eines Unglücks werden die Verstorbenen auch nicht automatisch zu Personen von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Der Schutz ihrer Persönlichkeit überwiegt daher regelmäßig das öffentliche Interesse. Auch die Angehörigen haben ein Recht auf Privatsphäre.
Wir müssen die Freiheit im Netz viel stärker verteidigen (Zitat der Woche)
Das Netz war nie ein Platz der Romantik. Es sollte aber nicht ein Platz der Unfreiheit werden. Was mir derzeit große Sorgen bereitet: Das Vertrauen in das Netz, diesen großartigen Raum des Wissens und der Kommunikation, nimmt rapide ab… Wir müssen die Freiheit im Netz viel stärker verteidigen, rigoroser schützen, genauso wie die Freiheit in der analogen Existenz.
Mathias Müller von Blumencron, FAZ-Onlinechef, in W&V vom 16. April 2015
Absturz von 4U9525 und der Leser Fragen: Was ist Boulevard?
Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:
Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.
Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:
Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:
„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“
In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.
Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.
Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.
In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.
Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.
Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.Wie würden Sie entscheiden?
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THÜRINGER ALLGEMEINE, 4. April 2015, Leser fragen
Muss nicht jede Zeitung eine Debatten-Zeitung sein? Das neue FAZ-Feuilleton
Der neue FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube:
Das Debattenfeuilleton hat sich bewährt. Die Frage ist, ob die Themenbreite dieser Diskussionen nicht breiter ist, als sie manchmal bei uns war. Über längere Strecken wurden jeweils die Genetik, die Demografie oder die Probleme mit der Internetökonomie behandelt, andere Themen wie Migration oder soziale Ungleichheit blieben im Hintergrund. Ich strebe einen ausgeglicheneren Stil an. Und im Feuilleton dürfen die klassischen Künste und ästhetischen Fragen nicht zu kurz kommen. Die Entscheidung zwischen Debatte und Ästhetik wäre eine schlechte Alternative.
Kaube auf die Frage von Martin Eich „Was werden Sie anders machen als Frank Schirrrmacher?“ (Mainz, Allgemeine-Zeitung vom 17.12.2014)
Die Frage muss sich jede Zeitung, erst recht Regional- und Lokalzeitung stellen:
> Erkennen wir die Themen, die die Menschen umtreiben?
> Recherchen wir sie tief genug?
> Bieten wir die Themen an, die zur Debatte taugen?
> Vernachlässigen wir Themen?
> Drängen wir den Politiker die Themen auf, wenn wir erkennen, dass die Bürger auf eine große Debatte oder Entscheidung drängen?
Wer meint, dies sei nicht Aufgabe einer Zeitung, der lese im Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom August 1966, zu lesen im Handbuch auf Seite 21:
Die Presse fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran.
Darf eine Zeitung das Bild eines rasenden Politikers drucken? Ramelows Blitzerfoto und Quietsche-Enten
Ein Leser der Thüringer Allgemeine fragt zum „Blitzerstreit des B.R.“, gemeint ist Bodo Ramelow, der erster Ministerpräsident der Linken in Deutschland werden will: „Der Abdruck des Blitzerfotos ist gesetzwidrig, er verletzt das hohe Gut des Persönlichkeitsrechtes – warum dazu kein Hinweis?“ Der Leser bezieht sich auf Berichte und Fotos, zuerst der Bildzeitung, über Bodo Ramelow, der zu schnell gefahren sein soll, wie ein Blitzerfoto beweise (was von ihm bestritten wird: Erst akzeptierte er den Bußgeldbescheid nicht, aber zahlte dann laut eigener Angabe doch, nachdem der Fall ans Amtsgericht weitergeleitet und öffentlich diskutiert worden war).
Auch die Thüringer Allgemeine und der FAZ berichteten ausführlich, FAZ und Bild sogar mit Angabe des Kennzeichens von Ramelows Wagen.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ auf der Leserseite:
Es gibt in der Tat ein Recht am eigenen Bild. Doch gibt es auch eine Reihe von Ausnahmen – vor allem für Bürger, die gewählt sind als Vertreter des Volks, für Bürger, die berühmt sind und die sich in der Öffentlichkeit stolz präsentieren.
Blitzerfotos waren sogar Gegenstand einer Klage beim Bundesverfassungsgerichts, das entschied: Sie sind erlaubt, denn sie werden auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet und sind jedermann wahrnehmbar – und schließlich gehe es um die Sicherheit im Straßenverkehr, die eine Einschränkung der „grundrechtlichen Freiheiten“ erlaubt.
Vor allem Politiker, die von den Bürgern als Vorbild gesehen werden, müssen akzeptieren, dass sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Bodo Ramelow nennt dies in einer Facebook-Nachricht sinngemäß: Die Presse spiele mit Quietsche-Enten. Selbst eine Politikerin wie Heidi Simonis, die abgewählt war, musste ertragen, dass sie beim Einkaufen fotografiert wurde. Der Bundesgerichtshof entschied: Die Bürger dürfen erfahren, wie sich ein Politiker verhalte – gerade in spektakulären Situationen. Er könne sich “nicht ohne Weiteres der Berichterstattung unter Berufung auf seine Privatheit entziehen“.
Und dass sich Bodo Ramelow in einer spektakulären Situation befindet, dürfte selbst bei ihm unstrittig sein, wie sein persönliches Engagement in den sozialen Netzwerken beweist.
Zudem: Wen sollte ein Reporter nach der Zustimmung zur Veröffentlichung des Blitzerfotos fragen, wenn unklar ist, wer überhaupt auf dem Foto abgebildet ist?
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 15. November 2014 (hier erweitert)
Quellen: Bild 6.11. „Wird hier Thüringens neuer Landeschef geblitzt?“ und FAZ 7.11. von Claus Peter Müller „Zur Akteneinsicht gebracht“
Shitstorm und Putin-Versteher: Sind Journalisten aus dem Osten empfindlicher als die im Westen?
Ist ein Journalist, aufgewachsen in der DDR, empfindlicher als einer aus dem Westen? Muss man ihn mit Walter Ulbricht vergleichen, weil er keine Lust und keine Nerven mehr hat, in Shitstorms zerlegt zu werden? Kann ein ehemaliger DDR-Korrespondent in Moskau heute nicht objektiv über Putins Russland schreiben?
Paul Schreyer kommentiert auf heise.de einen Beitrag des Spiegel-Autor Christian Neef, der im Medium Magazin beklagte:
Onlinemedien wie Spiegel Online nehmen inzwischen sogar in Kauf, dass die Berichte ihrer Korrespondenten gleich im Anschluss an den Text in den Foren aufs Übelste zerpflückt und als unwahr bezeichnet werden, sie desavouieren damit ihre eigenen Mitarbeiter und liefern sie schutzlos dem Shitstorm aus. Ich habe die Kollegen bei Spiegel Online deswegen gebeten, bei bestimmten Texten, die ich schreibe, die Kommentarfunktion künftig abzuschalten – so wie es andere Webseiten schon länger tun.
Paul Schreyer wundert sich, dass die üblen Kommentare „langsam Wirkung auf einzelne Journalisten zeigt“ und fragt: „Geht es nicht am Ende um den Leser? Ist dieser nicht der Souverän in einer offenen Mediengesellschaft?“
Das sind interessante Ansichten, intelligente Fragen – allemal eine Debatte wert, zumal Günther Nonnenmacher (FAZ) und Hans Leyendecker (SZ) ähnlich wie Christian Neef argumentieren. Nur – was um alles in der Welt – hat das mit der DDR zu tun? Warum wird einer aus dem Osten abgekanzelt, weil er aus dem Osten kommt? Und dies noch auf eine, vorsichtig ausgedrückt, seltsame und unjournalistische Art – unter Berufung auf Widerstand im Spiegel, der unter „vorgehaltener Hand“ geäußert wird. Das ist eher DDR-mäßig: Anonym und hinterhältig.
Schreyer schreibt:
Auch innerhalb des Spiegel regt sich nun Widerstand gegen Neefs Ansichten. Unter vorgehaltener Hand heißt es aus der Redaktion, hinter den Äußerungen des Russlandkorrespondenten stecke „eine Denkweise, die Walter Ulbricht einst auf die Formel brachte, man dürfe ‚die Dinge nicht dem Selbstlauf überlassen'“. Die Pointe dabei: Neef ist selbst in der DDR aufgewachsen, war in den 1980er Jahren Korrespondent des DDR-Rundfunks in Moskau, ist seit der Wende aber beim Spiegel und profiliert sich dort seit vielen Jahren vor allen Dingen mit massiver Russlandkritik. Er war es auch, der den Begriff „Putinversteher“ 2011 erstmals in einer Schlagzeile verwandte.
Und was ist wirklich die Pointe?
Wenn Politiker ausrasten: Wahlkampf und die Nerven von Redakteuren wie Kämpfern
Der Wahlkampf in Thüringen war ein heftiger. Es deutet sich ein Wechsel an, und ein Novum in der deutschen Geschichte: Der erste deutsche Ministerpräsident von den Linken, der Nachfolge-Partei der SED – im 25. Jahr nach dem Fall der Mauer.
Selten thematisieren Redakteure, was sich alles zwischen Politikern und Redaktionen abspielt. Mirko Krüger, Desk-Chef der Thüringer Allgemeine, hat in einem Leitartikel auf der Titelseite die „Misstöne im Thüringer Wahlkampf“ erklärt:
Je näher die Entscheidung rückt, umso mehr liegen die Nerven vieler Kandidaten blank. Das bekommen auch Journalisten zu spüren. Seit Tagen häufen sich Anrufe von Politikern in der Redaktion; wohlgemerkt: von Politikern aus nahezu jedem politischen Lager.
Der eine fühlt sich beleidigt, wenn wir über ihn berichten. Ein anderer flippt regelrecht aus, dass über ihn angeblich zu wenig berichtet würde. Ein dritter droht mit Abbestellung seines Zeitungsabos. Ihm passt nicht, dass sein parteiinterner Konkurrent in einem Artikel erwähnt worden ist.
In solchen Momenten macht unter Journalisten gern mal eine ketzerische Bemerkung die Runde. Zeitung machen könnte so schön sein, wenn es keine Politiker gäbe. . .
Wirklich? Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Die letzten Tage vor einer Wahl offenbaren nicht selten auf besondere Weise den wahren Charakter mancher Kandidaten.
In den USA lauern deshalb vor allem politische Gegner auf verbale Entgleisungen und Wutausbrüche ihrer Gegner. Wenn etwa ein Funktionär, der ach so gern ein Staatsmann wäre, ab und an ausrastet, lässt sich das herrlich ausschlachten.
Solche Videos zeigt man gern im eigenen Wahlkampf – und fragt dabei die Bürger: Möchten Sie wirklich die Zukunft unseres Landes in die Hände dieses Politikers legen?
Gut möglich, dass noch heute mein Telefon klingelt. Gut möglich, dass schon wieder ein Kandidat meint, ich könne ja nur ihn allein gemeint haben. Das wäre sogar gut: Jede Besserung beginnt mit Einsicht.
Was sich detailliert in der Redaktion an Druck und Drohung durch Politiker abspielt, können andere besser beschreiben. Claus Peter Müller hat in der FAZ den Linken-Kandidaten Bodo Ramelow beobachtet:
Ob alles stimmt, was über Ramelow geschrieben wird, sei dahingestellt. Aber er hält das Stöckchen, über das die anderen springen. Er macht sich interessant, um dann aber auch die Grenzen der Berichterstattung mit aller juristischen Entschlossenheit aufzuzeigen. In der „Tageszeitung“ steht, seine Mutter habe ihn wegen seiner schulischen Leistungen mit der Peitsche geschlagen. Von „Gewaltorgien“ soll er gesprochen haben.
Kaum eine Reflexion über Ramelow versäumt, seine Legasthenie zu thematisieren. Als aber jüngst ein Autor der Zeitung „Thüringer Allgemeine“ zu dem Schluss kam, Ramelow sei ein Narzisst, wurde er ungehalten und forderte von der Chefredaktion die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung.
Die Korrespondenz versandte er im ganzen Land. Nun haben es alle schriftlich: „Lesen konnte und kann ich und zwar sehr gut“, steht dort als einer von vielen Punkten. Auch dass Ramelow nie Lehrling in Marburg gewesen sei, sondern dort Lehrlinge ausgebildet habe. Ferner habe er nicht an der Beerdigung von Professor Wolfgang Abendroth teilgenommen, und der „Abbruch des Interviews“ mit dem „Spiegel“ sei aufgrund von Beleidigungen durch den fragenden Journalisten „notwendig“ gewesen.
Das ist eben auch ein Wesenszug des Kandidaten Ramelow. Er gilt als dünnhäutig und empfindsam.
Die Thüringer Allgemeine hat keine Unterlassungserklärung abgegeben. Im Klartext-Verlag hat sie ein E-Book herausgegeben: Frank Schauka – Bodo Ramelow. Eine biographische Skizze
Im Frühjahr gab ebenfalls der Klartext-Verlag die Biografie der Ministerpräsidentin heraus, geschrieben vom TA-Redakteur Martin Debes: Christine Lieberknecht – Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin (Besprechung in der WAZ und im MDR).
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Quellen:
FAZ-Online vom 11. September „Ramelow im Präsidenten-Modus“
TA vom 6. September
Kann man sich hinter der „Floskel der Objektivität“ verschanzen?
Thomas Scheen schreibt in der FAZ ein Porträt der südafrikanischen Richterin Masipa, die das Urteil im Prozess gegen Oscar Pistorius spricht. Sie war Journalistin bei der Post in Johannesburg, kämpfte gegen die Apartheid und galt „als zäher Brocken“:
Das war in den siebziger Jahren, als das Apartheidsregime mit roher Gewalt gegen seine Gegner vorging und ein Reporter sich nicht hinter der Floskel der Objektivität verschanzen konnte, sondern Farbe bekennen musste.
Gelten die journalistischen Regeln der Objektivität nur in friedlichen und demokratischen Zeiten? Darf ein Journalist ansonsten Nachricht und Meinung vermischen? Und wenn ja: Warum? Darf auch ein Richter die Objektivität als Floskel sehen?
Quelle: FAZ 12. September 2014
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