„Wahrhaft“: Stadelmaier schrieb den 208-Wörter-Satz und bekommt den Deutschen Sprachpreis
Hält ein Journalist, der lange verschachtelte Sätze pflegt, die deutsche Sprache rein? Ja, meint die Jury des „Deutschen Sprachpreises“, berufen von der Henning-Kaufmann-Stiftung. Den Preis bekommt in diesem Jahr Gerhard Stadelmaier, der vor drei Jahren in diesem Blog herausgehoben wurde: Er schrieb mit 208 Wörtern den längsten Satz. Seitdem ist der Theaterredakteur der FAZ stets bemüht, den eigenen Rekord zu brechen.
Die Jury ehrt Stadelmaier für „beispielhafte sprachliche Gestalt seiner journalistischen Texte“. Die Begründung im Wortlaut:
Mit dieser Auszeichnung ehrt die Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft erstmals einen Theaterkritiker, der sich große Verdienste um die sprachliche und literarische Qualität des deutschen Theaters erworben hat, nicht zuletzt durch die beispielhafte sprachliche Gestalt seiner journalistischen Texte.
Stadelmaier ist ein wahrhaft sprachmächtiger Publizist, dessen Texte ihrem Gegenstand, dem Theater deutscher Sprache, in Lob und Kritik stets angemessen waren. Er hat das Theater auf dem „herrlich langen Weg vom Dichter über den Schauspieler zum Zuschauer“ begleitet und ihm dabei nicht selten den Weg gebahnt. Seine Arbeit hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu den führenden Feuilletons Deutschlands gehört. Er ist ein vorbildlicher Vermittler und Förderer der Theaterkunst, dessen außerordentliche sprachliche Leistungen mit dem Deutschen Sprachpreis 2016 gewürdigt werden.
„Du bist auf dem Holzweg“ (Friedhof der Wörter)
Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege.
So schreibt Martin Heidegger über den Holzweg als ein Sprachbild, das wir im Alltag oft gebrauchen, ohne den ursprünglichen Sinn noch zu kennen.
„Du bist auf dem Holzweg“ bedeutet: Du hast dich verlaufen, du kommst nicht weiter, du musst umkehren – denn der Weg ist gemacht, um Bäume zu schlagen und nicht, um zu einem Dorf, einem Haus oder einem anderen Weg zu kommen. Doch, so schreibt Heidegger weiter, gibt es schon Leute, die auf dem Holzweg sind und sich nicht verlaufen haben:
Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.
Juristen bedienen sich auch der Sprache der Waldarbeiter: „Totholz“ sind Bestimmungen in einer Verfassung, die wirkungslos sind – etwa der Artikel 21 über die Todesstrafe in der hessischen Verfassung. Im Artikel 102 des Grundgesetzes allerdings ist die Todesstrafe abgeschafft, und da Bundesrecht das niedrigere Landesrecht bricht, braucht auch Hessen keinen Henker mehr.
Totholz nennen die Waldarbeiter Bäume und Äste, die abgestorben sind: Stehendes Totholz für Bäume, die noch nicht gestürzt sind, und liegendes Totholz, wenn sie auf den Boden gefallen sind. So gesehen ist der Artikel 21 der hessischen Verfassung stehendes Totholz, das jedoch bald zum liegenden erklärt werden soll. Es soll gelöscht werden, was aber nicht einfach ist: Das Volk muss darüber abstimmen.
Das ist schon reichlich Aufwand für totes Holz, liegend wie stehend.
**
- Quelle Totholz juristisch: FAZ 9. April 2016 „Rauschen im Verfassungswald“
- Das komplette Heidegger-Zitat:
Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören.
Sie heißen Holzwege.
Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so.
Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.
Kollegenschelte: FAZ gegen SZ und die Panama-Papers
Die Süddeutsche Zeitung landete mit den Panama-Papers einen Coup. Wie reagierten die anderen, etwa die FAZ? . „Auf der Empörungswelle“ überschreibt Joachim Jahn den Leitartikel der FAZ am Samstag (9. April) gegen die „Aufgeregtheit“, den die Süddeutsche Zeitung mit der Veröffentlichung der Panama-Papers entfacht habe. Jahn wirft den Redakteuren der SZ vor: „Die breitangelegte Selbstvermarktung der ,Enthüllungen‘ ist fragwürdig“ – und er nennt folgende Gründe:
- Deutsche Bürger subventionieren mit Zwangsgebühren für die ARD die Kampagne privater Zeitungshäuser. (Die SZ arbeitet bei den Recherchen zu den Papers mit ARD-Redaktionen von WDR und NDR zusammen).
- Die SZ unterstellt, die Einschaltung von Briefkastenfirmen ist generell verwerflich.
- Sie stellt Prominente aus Politik, Sport und Wirtschaft unter Generalverdacht.
- Sie stellt die Dokumente den Ermittlungsbehörden nicht zur Verfügung, so dass sich die Anschuldigungen nicht überprüfen lassen oder gar widerlegen (Die SZ dazu: „Die SZ wird die Daten nicht der Allgemeinheit und auch nicht den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stellen. Denn die SZ ist nicht der verlängerte Arm der Staatsanwaltschaft oder der Steuerfahndung. Staatliche Ermittlungsbehörden haben in Deutschland wie im Ausland bereits jetzt, bei entsprechendem Verdacht, die Möglichkeit, die Unterlagen bei den Betroffenen zu beschlagnahmen.“
- Zu Recht Beschuldigte würden gewarnt und schaffen Beweise noch schnell beiseite.
**
Quelle: FAZ Titelseite 9. April 2016
Schreiben, was ist: War Germanwings-Absturz ein Verbrechen, der Kopilot ein Massenmörder?
Nur wer so zureichend wie möglich beschreibt, was ist, macht seinen Job als Journalist.
Michael Hanfeld, stellvertretender Leiter des FA-Feuilletons, reagiert so auf Journalisten, die zum Jahrestag des German-Wings-Absturzes weder die Krankheit des Piloten noch den Namen veröffentlichen wollten; sie führten als Begründung die Stigmatisierung von Depressiven und von Angehörigen an. Hanfeld zählt zu den radikalen Verfechtern einer möglichst uneingeschränkten Weitergabe von Informationen, die als wahr recherchiert wurden. Wenn sich die Presse Einschränkungen unterwirft, verfehlt sie laut Hanfeld ihren Daseinszweck.
So will Hanfeld nicht von einem „Unglück“ in den französischen Alpen sprechen, sondern von einem Verbrechen und vom Kopiloten Andreas Lubitz als Massenmörder.
**
Quelle: FAZ, 26. März 2016, Medien-Seite 16
Grammatik-Fallen: Wenn das Subjekt an die zweite Stelle rutscht
Im Wirtschafts-Teil der FAZ ist auf Seite 19 eine Sensation versteckt:
Das Wirtschaftsnachrichtenportal „Business Insider“ hatte Springer im vergangenen Jahr komplett übernommen.
Haben wir da etwas komplett übersehen? Ein kleines Internet-Portal übernimmt einen Milliarden-Konzern? Nein, der Grammatik-Teufel hat zugeschlagen: Springer ist das Subjekt, und das Portal ist das Objekt. So wäre es korrekt:
Springer hatte im vergangenen Jahr das Wirtschaftsnachrichtenportal „Business Insider“ komplett übernommen.
So verständlich es auch ist, mal ein wenig mit der Grammatik zu spielen, die Subjekt-Objekt-Reihenfolge zu verändern kann tückisch sein. Da wäre selbst eine Passiv-Konstruktion besser, wenn auch nicht schön: „Das Wirtschaftsnachrichtenportal „Business Insider“ wurde von Springer im vergangenen Jahr komplett übernommen.“
**
Quelle: FAZ 4. März 2016 „Springer sorgt sich um selbst erzeugte Verwirrung
Der Minister antwortet nicht. Oder: Was ist ein gutes Interview? (Teil 1)
Das FAZ-Interview mit Innenminister Thomas de Maizière zu seiner Kritik an der Polizei beginnen die Journalisten mit der Frage „Warum haben Sie das getan, Herr Minister?“ Der Minister beantwortet die Frage nicht, sondern schwadroniert: „Anschließend habe ich mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister telefoniert…“
Die Journalisten lassen dem Minister durchgehen, dass er ihre Frage ignoriert, sie fassen nicht nach, sondern gehen zum nächsten Thema über.
Die dritte Frage besteht aus drei Fragen:
Sollte in Köln etwas unter den Teppich gekehrt werden? Vieles war der Polizei schon in der Silvesternacht bekannt: sexuelle Übergriffe, Verdächtige mit Migrationshintergrund. Führen Sie das auf den Umgang mit Kriminalität zurück, sobald die Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben? Ist das die Kehrseite der Willkommenskultur?
Nur zwei beantwortet der Minister.
Die siebte Frage ist keine Frage, auf die der Minister nicht antworten kann: Also nimmt er die Einladung dankbar an und schwadroniert wieder.
In Köln ist nach außen hin aber das Gegenteil passiert: Die Polizei verbreitete am Neujahrstag eine Darstellung, die all diejenigen bestätigt, die sagen, da wird uns ein Bild präsentiert, das gar nicht der Wirklichkeit entspricht.
De Maizière: Ein Generalverdacht ist genauso wenig der richtige Weg wie das Tabuisieren der Herkunft von Kriminalität. Es darf keine Schweigespirale geben, schon gar nicht darf sie von der Polizei ausgehen.
Die neunte Frage ignoriert der Minister einfach und macht ein eigenes Thema auf:
Gewalt gegen Asylbewerberheime, Gewalt in Asylbewerberheimen, Gewalt auf öffentlichen Plätzen. Hat die Polizei noch die Kontrolle?
De Maizière: Ich will den Bogen etwas weiter spannen. Es gibt weit über die Vorfälle in und um Asyleinrichtungen hinaus eine Tendenz zur Verrohung sowohl der Sprache als auch des Verhaltens in wachsenden Teilen der Gesellschaft. Das hat ein Ausmaß angenommen, das nicht hinzunehmen ist…
Nach der 18. Frage korrigiert der Minister die Journalisten und stellt die Frage, die er für die richtige hält:
Nach den Kölner und anderen gewalttätigen Vorfällen fragt man sich außerdem: Was ist mit dem Entzug des Aufenthaltstitels?
De Maizière: Da stellt sich zunächst die Frage: Wirkt sich die Strafbarkeit auf die Erteilung von Asyl aus? Geltendes Recht ist, dass bei einer Strafe von drei Jahren eine Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist…
Was macht ein gutes Interview aus:
- Die Journalisten fassen nach, wenn die Frage nicht beantwortet wird – solange sie eine Antwort bekommen oder dem Leser klar wird, dass der Gast nicht antworten will. Ein Interview mit einer unbeantworteten Frage zu beginnen, ist zumindest unglücklich.
- Journalisten stellen immer nur eine Frage, sonst laufen sie Gefahr, dass sich der Gast die Frage aussucht, die ihm gefällt.
- Wenn sie keine Frage formulieren, sondern Fakten präsentieren oder Meinungen äußern, müssen sie darauf achten, dass ihr Gast darauf reagiert.
- Korrigiert der Gast eine Frage zu Recht, dann ändert man in der Autorisierung die eigene Frage: Nicht nur der Gast kann seine Antworten ändern, auch die Redaktion ihre Frage – vor der Autorisierung selbstverständlich. Fragen und Antworten müssen aufeinander abgestimmt sein.
Gerade wenn ein Interview autorisiert wird, lassen sich in der zum Druck vorgesehenen Fassung manche Unebenheiten des Gesprächs ausgleichen – auf beiden Seiten. Ein Interview mit einem unsicheren Minister zu einem heftig diskutierten Thema ist nicht einfach zu schreiben, zumal – so ist zu vermuten – nur wenig Zeit bestand, es von einer sperrigen Presseabteilung autorisiert zu bekommen; dennoch sollten einfache Regeln beachtet werden wie „Nachfassen“ oder „klare Fragen stellen“. Der Leser verlangt es.
**
Quelle: FAZ, 9. Januar 2016, Seite 2 „Es darf keine Schweigespirale geben“
Innenminister de Maiziere gegen den Presserat: Es darf keine Schweigespirale geben
Ein Migrations- oder ein Flüchtlingshintergrund darf nicht verschwiegen werden. Das wäre im Ergebnis nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Politik und Medien bewusste Verzerrung vorwerfen.
Sagt Innenminister Thomas de Maizières im Interview mit der FAZ. Er meint das generell und plädiert indirekt für die Abschaffung von Richtlinie 12.1 des Pressekodex, die eine Erwähnung von Nationalitäten bei Straftätern nur ausnahmsweise gestattet („Erwähnung könnte Vorurteile gegenüber schutzbedürftigen Gruppen schüren.“) Die Tabuisierung der Herkunft von Kriminalität ist laut de Maizières nicht der richtige Weg.
Der Innenminister plädiert dafür, dass der Bürger sich selber eine Meinung bilden solle in Kenntnis aller Informationen:
Wir müssen schon aufpassen, dass nicht vor lauter politischer Korrektheit die Dinge nicht beim Namen genannt werden. Und wir müssen die Bürger auch nicht in Watte packen.
Der Innenminister greift einen Begriff auf, den Elisabeth Noelle-Neumann, Chefin des Allensbacher Meinungsforschungs-Institut, vor gut vier Jahrzehnten geprägt hat: „Es darf keine Schweigespirale geben.“. Medien bestimmen laut Noelle-Neumann die öffentliche Meinung, so dass Bürger, die eine andere Meinung haben, gehemmt werden, diese zu äußern: „Belohnt wird Konformität, bestraft wird der Verstoß gegen das übereinstimmende Urteil“, so Noelle-Neumann in ihrem Buch „Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut“.
Im Interview bezieht de Maizières die Schweigespirale nicht nur auf die traditionellen Medien, sondern vor allem auf das Internet, das seine „große aufklärerische Wirkung“ verloren habe:
Internetforen sind sich selbst bestätigende Zirkel, in denen fremde Argumente als störend empfunden werden.
**
Quelle: FAZ 9. Januar 2016, Aufmacher Titelseite und Seite 2
Kriminelle Ausländer und Flüchtlinge: Muss der Presserat seinen Kodex ändern?
Nach dem Silvesterabend auf dem Kölner Bahnhofsplatz werden Medien hart kritisiert: Dürfen sie sexuelle Übergriffe auf Frauen verschweigen oder verharmlosen, um Fremdenfeindlichkeit nicht zu schüren? Dürfen sie die Herkunft der Täter unterdrücken?
Auf der einen Seite sind Medien wie ARD und ZDF, aber auch die taz, die ihre Zurückhaltung verteidigen. Daniel Bax schreibt in der taz:
Unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz, sind auch seriöse Medien im vorauseilendem Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt.
Auf der anderen Seite kritisieren nicht nur Nutzer der sozialen Medien die Zurückhaltung oder gar Einseitigkeit von Journalisten, vor allem im Fernsehen, sondern beispielsweise auch Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer. Er versteht die Menschen, die den „Nanny-Journalisten“ vorwerfen, „eher einem pädagogischen als einem journalistischen Auftrag zu folgen“.
Das sind die Fakten und Fragen:
- Der Presserat zieht diese Grenze in der Berichterstattung:
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
In dieser Richtlinie 12 überwiegt das pädagogische Moment. Der Presserat setzt voraus: Die Leser oder zumindest eine ausreichend große Zahl haben Vorurteile. Daraus folgt er: Der Journalist soll durch Verschweigen bewirken, dass die Leser in ihren Vorurteilen nicht bestärkt werden.
- Wie berichten Journalisten über Debatten, die öffentlich toben, ausgelöst durch die sozialen Netzwerke und einem Aktualitäts-Druck, der kaum Zeit zum Nachdenken lässt? Journalisten haben eine Recherche- und Sorgfalts-Pflicht: Reicht der Hinweis darauf aus, erst spät – vielleicht zu spät – zu informieren und reagieren?
- Gibt es eine Tendenz zur moralischen Zensur in einigen Medien? Hindert diese Zensur an einer intensiven Recherche? Der Vorwurf der Einseitigkeit aus moralischen Gründen trifft vor allen ARD und ZDF. FAZ-Redakteur Michael Hanfeld nennt es das „betreute Fernsehen“.
- Stehen wir vor einer Spaltung der Medien, zumindest im Internet: Die aktuellen, schnellen und vorschnellen, die jede Nachricht sofort raushauen, gegen die seriösen, die auf Sorgfalt achten, den Hintergrund ausleuchten und dem Leser Orientierung geben?
Die Debatte, geführt von Journalisten und in sozialen Netzwerken, sollte der Presserat aufgreifen: Dürfen Journalisten in einer aufgeklärten Gesellschaft zum Vormund ihrer Leser und Zuschauer werden? Sind sie laut Verfassung nicht Treuhänder der Bürger, die selber entscheiden sollen, wie sie Nachrichten bewerten? Hat sich die Öffentlichkeit nicht wesentlich durch die sozialen Netzwerke verändert – und muss nicht der Pressekodex darauf reagieren?
Sieben Tag nach der Silvesternacht in Köln hat sich der Presserat noch nicht geäußert – im Gegensatz zum DJV, der größten Journalistengewerkschaft; ihr Vorsitzender Frank Überall:
Eine nicht durch solide Recherchen gedeckte Verdachtsberichterstattung ist nicht nur unvereinbar mit den Prinzipien des professionellen Journalismus, sondern auch innenpolitisch brandgefährlich.
Das Wort des Jahres gendert nicht: Gibt es die „Flüchtlingin“? (Friedhof der Wörter)
„Flüchtling“ soll das Wort des Jahres sein. Es ist das Thema des Jahres und wird das Thema des nächsten sein. Aber was ist ungewöhnlich an dem Wort, das ihm eine Jury zu Ruhm und Ehre verhilft?
Maria und Josef waren Flüchtlinge, als sie mit ihrem Baby nach Ägypten flohen: So alt ist die Geschichte der Flüchtlinge – und noch viel älter. So lange gibt es das Wort oder ähnliche in anderen Sprachen. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg nennt „Flüchtling“ ein altes Wort und meint: Es ist so alt, dass keiner sein wirkliches Alter kennt.
Die Sprach-Experten vom „Wort des Jahres“ hängen dem „Flüchtling“ ein dunkles Gewand um: „Es klingt für sprachsensible Ohre tendenziell abschätzig“ – wegen der Endung „ling“, auf die auch Wörter wie Eindringling enden, Emporkömmling oder, was Journalisten besonders bedrückt, Schreiberling.
Auch wer nicht besonders sprachsensibel ist, kennt nette „ling“-Wörter. Sollen wir, wegen seiner ling-Tendenz, den Frühling abschaffen? Oder den Liebling, den Säugling und Zwilling, den Pfifferling und Saibling, den Häuptling und Schmetterling?
Aber das Abschätzige, das Experten vermuten, liegt an einer Eigenheit des Flüchtlings: Das Wort ist männlich und sonst nichts. Die „Flüchtlingin“ ist unmöglich in der deutschen Sprache. Das hat Gründe, komplizierte, die Wissenschaftler erklären können, aber sie alle kommen zu dem Schluss: Es kann keine „Flüchtlingin“ geben.
Das werden selbst die Grünen einsehen müssen und sonstige Gender-Aktivisten; aber sie greifen schon zu einem neuen Wort: Die oder der Geflüchtete. Aber bedeutet das neue Wort dasselbe wie der „Flüchtling“?
Nein, sagt der Sprachwissenschaftler Eisenberg:
„Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.“
Übrigens: Das Wörterbuch der Brüder Grimm findet einen Beleg für die „Flüchtlingin“ – ein „J.P.“ schrieb vom „vom Busen einer schönen Flüchtlingin“. Das passt.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Dezember 2015
Quelle für Eisenberg: FAZ, 16. Dezember 2015, Aufmacher Feuilleton „Hier endet das Gendern. Flüchtlinge haben ein Geschlecht, aber das Wort braucht keines“
Wer ist Uwe Vetterick – der Chefredakteur des Jahres 2015?
Bei der Wahl der „Journalisten des Jahres“ werden die beachtet, die aus dem Fernsehen bekannt sind wie Anja Reschke oder Oliver Welke. Sie haben die Auszeichnung zu Recht erhalten – ebenso wie Hans Leyendecker von der Süddeutschen, der bescheidene Star unter den investigativen Rechercheuren, für sein Lebenswerk. Aber da ist auch noch Uwe Vetterick, Sächsische Zeitung, der Chefredakteur des Jahres bei den regionalen Tageszeitungen. Diese Ehrung wird überregional wohl wieder untergehen:
Wer ist Uwe Vetterick? In der Tat wohl der beste deutsche Chefredakteur, dessen Laufbahn so faszinierend ist wie die Zeitung, die er macht und die dank seiner Strategien und Ideen zu einer großen wurde – nicht nur im Osten Deutschlands.
Uwe Vetterick ist Ostdeutscher und begann seine Karriere als Zwanzigjähriger in der Wende: Eine beneidenswerte Startposition!
Ich bin Journalist geworden, weil mich ein Verleger und ein Chefredakteur im Frühjahr 1990 zu einem Praktikum überredet haben
schreibt er, in der ihm eigenen Bescheidenheit, im Online-Portal der Sächsischen Zeitung
Er begann bei dem in der Wende neu gegründeten Greifswälder Tageblatt, für das Unternehmer aus dem Oldenburger Münsterland ihr Geld gegeben hatten. Es war eine phantastische Wende-Zeitung, die 1990 als erste ostdeutsche den Deutschen Lokaljournalismus-Preis bekam – in dem Jahr, als Vetterick als Volontär begonnen hat.
Der Preis begleitete Vetterick: Als Chefredakteur der Sächsischen Zeitung holte er ihn 2013 nach Dresden für den „SZ-Famlienkompass“, für eine Serie mit 400 Artikeln: Wie glücklich sind die Familien in den sächsischen Städten? Was ist gut? Was fehlt?
Vetterick wird wohl ein Abonnent dieses Preises werden. Seine erste Zeitung überlebte den Preis und die ersten Jahre nicht: Die erst gelungene, dann schreckliche Geschichte des Greifswälder Tageblatts lohnt, einmal aufgeschrieben zu werden.
Für Vetterick war sie ein guter Start, wie übrigens auch für Frank Pergande, der bei der FAZ eine beeindruckende Karriere gemacht hat.
Vetterick stieg steil auf, wurde stellvertretender Chefredakteur bei Bild und verantwortlich für den Osten (in dem Bild nie Fuß fassen konnte), ging für ein Jahr als Vize-Chefredakteur zum Tagesanzeiger in die Schweiz – als einer der ersten Deutschen; heute leitet mit Wolfgang Büchner, dem Ex-Spiegel– und dpa-Chef, ein Deutscher die Blick-Gruppe, der sich mit Michael Ludewig von dpa eine Art Super-Deskchef geholt hat.
Stellvertretende Chefredakteure von Bild werden gute Chefredakteure bei Regionalzeitungen: Es gibt einige Beispiele, die herausragenden sind Uwe Vetterick und Sven Goesmann, der die Rheinische Post wieder in Schwung gebracht hatte und nun bei dpa reüssiert, nicht nur weil er gerade drei Frauen in die Chefredaktion berufen hat.
Wie kam Vetterick aus der Schweiz zur Sächsischen Zeitung:
Ein Anruf des damaligen Geschäftsführers, zwei gemeinsame Essen (einmal Frühstück, einmal Brunch), ein ungewöhnliches Gespräch. Das war’s.
In Dresden spielt Uwe Vetterick seine entscheidende Stärke aus: Er ist Stratege, der Kopf der Redaktion, der mehr Ideen hat als der Verlag je umsetzen kann, der aber auch Ideen seiner Redakteure zulässt, der ermutigt, vorantreibt und bei Flops nicht die Peitsche schwingt, sondern gleich das nächste Projekt aus den Ruinen des alten auferstehen lässt. So nahm zwar vor wenigen Wochen der Verlag die Wochenzeitung AuSZeit nach einem Jahr vom Markt, weil nur tausend Exemplare verkauft wurden, aber Neues aus der Vetterick-Werkstatt wird sicher folgen.
Er besitzt das Vertrauen von Julia Jäckel, der Chefin von Gruner+Jahr, die weiß, dass Vetterick die SZ zu einer Zeitung gemacht hat, die man nicht mehr verkaufen will – und auch nicht verkaufen muss, weil Erfolg das beste Argument ist.
Vetterick nutzt intensiv die eigene Leser-Forschung: „Lesewert“: Er weiß genau, was seine Leser wirklich lesen und richtet nach den Bedürfnissen der Leser seine Zeitung aus – wohl wissend, dass selbst eine kontinuierliche Leserforschung nur das messen kann, was in der Zeitung steht. Für das Neue, das Experiment, das Überraschende ist er verantwortlich. So antwortet er auch auf die Frage, was er an seinem Job mag: „Geschichten erzählen, Blattmachen, Menschen überraschen.“
Und da ein Chefredakteur kaum mehr zu eigenen Recherchen und großen Geschichten eine Zeit findet, geht die Antwort auf die Frage nach seiner besten Story in die Greifswälder Zeit zurück:
Sie ging kurz erzählt so. Ein Mann, Mitte 50, verliert durch Krankheit seine geliebte Frau. Eine Frau, Mitte 50, verliert durch Krankheit ihren geliebten Mann. Durch Zufall werden beide nebeneinander begraben. Zufällig auch treffen sich bei der Grabpflege Witwe und Witwer und verlieben sich ineinander. Die Geschichte erschien zu einem Totensonntag. Selbst aus großem Leid kann neues Glück wachsen.
Pegida ist für Dresden ein Unglück, für Vetterick bringt sie die Auszeichnung als Journalist des Jahres. Er hätte sie auch ohne Pegida verdient gehabt – aber wer schaut schon genau in die Provinz hinein?
So bezieht sich die Jury-Begründung auch auf die Pegida-Berichterstattung:
Uwe Vetterick und seine Redaktion erleben vor Ort Tag für Tag, was es heißt, wenn die Stimmung im Land kippt. Seit Ende 2014 werden jeden Montag ,Lügenpresse‘- Parolen direkt vor der Dresdner Verlagstür skandiert. Die Berichterstattung über die politische Stimmung und Spaltung ist eine permanente Gratwanderung. Er muss seine angefeindete Redaktion auf Kurs halten und motivieren. ,Rückendeckung von oben‘ ist täglich nötig und wird von Vetterick gegeben. Zugleich treibt er redaktionelle Innovationen voran (z. B. das Onlineportal Schul-Navigator). Bester Lokaljournalismus unter widrigsten Bedingungen: Das verdient hohe Anerkennung.
Auch den SZ-Reporter Ulrich Wolf ehrt die Jury:
2015 war das Jahr, in dem Dresden nicht mehr als Elbflorenz glänzte, sondern zur Pegida-Stadt wurde. Ulrich Wolf hat Recherche dagegen gesetzt – und u.a. Lutz Bachmanns kriminelle Machenschaften aufgedeckt. Und er hat sich jeden Montag aufs Neue zwischen die Demonstranten gestellt – trotz unmittelbarer Drohungen gegen ihn persönlich. Er ist der Journalist Deutschlands, der sich am längsten und intensivsten mit dem Thema Pegida beschäftigt und von dessen Recherchen viele nationale Medien profitieren.
Wer fragt, wie ein Chefredakteur das alles leisten kann, der schaue auf die Online-Seiten der SZ, wo Vetterick seinen typischen Arbeitstag beschreibt – mit gerade mal dreißig Minuten Pause zwischen 8.30 und 21 Uhr:
08.30 – 10.30 Uhr Zeitungslektüre, Agenturen checken, Kaffee trinken
10.30 – 11.00 Uhr Konferenz mit den newsgetriebenen Ressorts und Onlinern
11.00 – 12.00 Uhr Verwaltungskram
12.00 – 13.00 Uhr große Redaktionskonferenz
13.00 – 13.30 Uhr Lunch
13.30 – 14.30 Uhr neue Redaktionsprojekte besprechen und entwickeln
14.30 – 21.00 Uhr Blattmachen
Herzlichen Glückwunsch, Uwe Vetterick!
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?