Der Zauber des Sonntags (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Warum heißt der Sonntag überhaupt Sonntag? Vor zwei Jahrtausenden betrachteten die Römer  die Planeten, wählten sieben aus und gaben den Wochentagen ihren Namen.

Dem Lieblings-Gestirn, das Licht in Überfülle schenkt, ebenso Wärme und Leben, der Sonne also widmeten die Römer den ersten Tag der Woche: Sonntag, der Tag der Sonne.

Auch wenn der Sonntag – wie in der Schöpfungsgeschichte – auf den letzten Tag der Woche gerutscht ist, bleibt der Zauber: Die Sonne erfreut uns an keinem Tag mehr als an diesem, meist freien Tag der Woche; fehlt sie, sinkt die Stimmung, nicht selten auch an den Tagen danach.

In ihrem Zukunft-Roman „Die Verratenen“ erzählt Ursula Poznanski von der Zeit nach der „Langen Nacht“, als die Erde in Dunkelheit und Kälte gefallen war. Während der Langen Nacht haben die Menschen auch die Wörter verändert, entzaubert. Der Sonntag heißt nicht mehr Sonntag – „weil die Menschen nicht an eine Sonne erinnert werden wollten, die sich ihnen nicht zeigte“.

Wörter bergen einen Zauber in sich. Sie entwerfen ein Bild, das uns verzaubert, in gutem wie im schrecklichen Sinne.

Viele neue Wörter, die wir erfinden,  lassen noch nicht einmal den Zauber ahnen. Wer spürt schon einen Zauber, wenn er liest: Elektrizitätswirtschaftsorganisationsgesetz oder Nahrungsmittelunverträglichkeit?

 

Thüringer Allgemeine 29. Oktober 2012

Ein Journalist recherchiert – mit Gefühl und Distanz

Geschrieben am 10. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Was ist ein guter Journalist? Die Definition der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev für ihren Beruf ist auf Journalisten übertragbar:

Einerseits mit jeder Regung des eigenen Inneren mit den Ereignissen verbunden zu sein und andererseits sie mit Abstand zu betrachten.

In ihrer Dankrede zum Welt-Literaturpreis erzählt sie von ihrer Zeit in der israelischen Armee, als sie Soldaten bei ihren Problemen helfen sollte. Oft brach sie vor Kummer und Mitleid in Tränen aus, so dass die Soldaten sie beruhigen mussten.

Ich gab mir das Versprechen ab, ab jetzt nur noch literarische Figuren zu behandeln, keine Menschen aus Fleisch und Blut. Auch das war natürlich nicht leicht, aber die Verantwortung war weniger groß.

(Quelle: Die Welt 10.11.2012)

Der erste Satz: Flop und Top

Geschrieben am 9. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Zunächst ein paar unnütze Statistiken.

Süddeutsche, Sport in der Region (Aufmacher), 8.11.2012

**

Kiffst du?

Deniz Aykanat in Süddeutsche, München-Lokalteil(Aufmacher Seite R 7), 8.11.2012

Burda: Das Politisch Korrekte als Religionsersatz

Geschrieben am 9. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Es gibt eine große Fraktion unter Journalisten, für die das politisch Korrekte als eine Art Religionsersatz herhalten muss.

Hubert Burda (nach: Süddeutsche 8.11.2012)

Ulrich Wickert wollte kein Journalist werden (Zitat der Woche)

Geschrieben am 7. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Journalist aber wollte ich immer noch nicht werden. Ich blieb nur wegen des regelmäßigen Einkommens. Ein richtiger Job würde sich irgendwann noch finden.

Ulrich Wickert in seinem neuen Buch „Neugier und Übermut“ über seine Jugend, als er das Jura-Studium nach dem ersten Staatsexamen beendet hatte und bei Monitor-Chef Claus-Hinrich Casdorff viel Geld verdiente.

Martin Walser, der Dichter des Bandwurm-Wortes

Geschrieben am 7. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Warum lieben wir Deutschen Bandwurm-Wörter? Warum mögen wir es kompliziert, wenn es doch einfach geht – und wenn einfach sogar schön ist?

Ein Wort verliert mit jeder Silbe seine Kraft, erst recht mit jeder überflüssigen Silbe. Schopenhauer, der Philosoph, spottete schon über die Wortdreimaster. Den hinteren Mast kann man oft einfach entfernen, schlägt er vor.

Was ist der Unterschied zwischen Glatteisbildung und Glatteis? Glatteis ist nur glatt, wenn es sich gebildet hat.

Und was der Unterschied zwischen Rückantwort und Antwort? Also können wir oft auch den vorderen Mast entfernen und bekommen ein kurzes, kraftvolles Wort.

Der Dichter des Bandwurmwortes ist Martin Walser. In seinem neuen Roman „Das dreizehnte Kapitel“ strapaziert er die Geduld der Leser, indem er neue Wörter erfindet – lang, länger, am längsten. Eine Auswahl:

  • Gefühlsausführlichkeiten
  • Zudringlichkeitsverfasser
  • Unerwachsenheiten
  • Voraussetzungslosigkeit-Beziehung
  • Mittagsonnenfarbe
  • Tannenwipfelwiegen

Wenn wir ein Hauptwort mit einem anderen kuppeln, zerstören wir seine Anschaulichkeit. Walsers „Gewohnheitskäfig“ brennt kein Bild in unserem Kopf – Im Gegensatz zum „Käfig voller Gewohnheiten“.

Und mein „Bandwurmwort“ kann auch anschaulich werden: „Wörter, so lang wie ein Bandwurm“.

 

Aus der Thüringer Allgemeine vom 22. Oktober 2012

„Zum Pinkeln zu McClean“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 6. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Küssen Sie gerne? Und wo? Wie wäre es am Bahnhof. Dort hat die Bahn eine Küss-Zone eingerichtet: „Kiss and ride“, übersetzt: Küssen und Fahren.

Dieses Schild findet man auch in Taiwan und Wien, es soll in holprigem Englisch nicht das Rotlicht-Viertel anzeigen, sondern: Hier darf man parken, hier darf man küssen (oder auch nicht) und die Liebste in den Zug setzen. Also: Eine Kurzpark-Zone.

Über die Vorliebe der Deutschen Bahn für Anglizismen wunderte sich sogar ein Engländer, den ein Reporter des „Hamburger Abendblatt“ auf dem Hauptbahnhof sagen hörte: „Wenn die Würstchenstände und die Brezelbuden nicht gewesen wären, hätte ich geglaubt, ich wäre bei British Rail, nicht bei der Deutschen Bahn.“

Und der deutsche Sprachprofessor Walter Krämer grollte im Bahnhof: „Zum Pinkeln muss man zu McClean.“

Als Bahnchef Grube jüngst bei den „Molsdorfer“ Gesprächen in Erfurt zu Gast war, kündigte er an: Die Bahn spricht wieder deutsch. „Call a bike“ soll „Mietrad-Angebot“ heißen, der Flyer „Handzettel“ – und, hoffentlich, der „Service-Point“ wieder „Auskunft“.

Ganz im Grubeschen Sinn wirbt die Bahn in Köln mit einem Spruch, der einen Sprach-Preis verdient hätte:

„Mobilitätskette? Seid ihr jeck? Ich sach dazu: Mit Bus und Bahn.“

So macht sich die Bahn über die „Mobilitätskette“ lustig, die auf unseren „Friedhof der Wörter“ gehört, und lästert fröhlich, ins Hochdeutsche übersetzt: „Seid ihr verrückt? Ich sag dazu: Mit Bus und Bahn.“

Thüringer Allgemeine 5. November 2012

„Welche Spielchen werden mit der freien Presse gespielt?“

Geschrieben am 5. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Welchen Einfluss haben Politiker auf Redakteure? Diese Frage beschäftigt nach der CSU-ZDF-Affäre auch die Leser von Tageszeitungen. Ein Leser der Thüringer Allgemeine reagierte auf die TA-Samstags-Kolumne „Leser fragen“, in der die stetigen, aber erfolglosen Rügen der Politiker thematisiert waren:

Man „rügt“ Sie, wie Sie schreiben, „immer wieder“. Sind das etwa „Leute“, die an oder in der Regierung sind oder politische Pöstchen haben?

Hier denke ich an Herrn Dr. Strepp und das ZDF!

Ich frage Sie, Herr Chefredakteur, welche Spielchen werden mit uns und der ‚sogenannten‘ freien Presse gemacht in unserem schönen Thüringenland; der alte Vogel und Althaus sind doch nicht mehr da. Aber sicher gibt es neue Akteure, die Telefone bedienen können.

Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortete in der TA:

Weder auf die Leser-Seite noch auf die Artikel der Redakteure haben Politiker einen Zugriff. In der Tat rufen Minister bisweilen an, mal in scharfem Ton, mal in gesteigerter Tonstärke, mal umwerbend, mal umarmend. Das ist ihr gutes Recht: Auch Politiker dürfen sich beschweren, dürfen rügen, dürfen loben.

Doch keiner spielt mit uns ein Spielchen. Wir haben einen großen Vorteil gegenüber einigen Redakteuren bei ZDF oder anderen öffentlich-rechtlichen Sendern: Wir werden nicht von Politikern kontrolliert; kein Redakteur, vor allem kein Leitender, verdankt seine Karriere einem stark politisch durchsetzten Gremium.

(zu: Handbuch-Kapitel 49 Wie Journalisten entscheiden sollten)

„Das Internet, eifersüchtige und unendlich anspruchsvolle Geliebte“ oder: Das Netz und die Konservativen

Geschrieben am 5. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Man sehe sich an einem beliebigen Bahnsteig um, an dem viele Menschen warten, oder im Zug selbst und vergleiche diese Situation mit der von vor fünfzehn Jahren: Die ununterbrochene digitale Kommunikation mit Abwesenden lässt die Menschen wie Autisten, ja, von einem rein phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet, schon fast wie Geisteskranke aussehen.

Edo Reents sieht in den sozialen Netzwerken die „allgemeine Durchinfantilisierung“ der Gesellschaft:“Aus Leuten werden Kindern“ (FAZ 3. November 2012)

In derselben Ausgabe schreibt Jan Wiele in „Bilder und Zeiten“ über den ersten Social-Media-Pilger, der sich seine Schlafplätze über Twitter besorgt und unentwegt bloggt auf seinen zehntausend Kilometern durch Europa. Er schreibt der holländischen Königin, die beklagt hatte, das Internet fördere die soziale Kälte und verhindere Nächstenliebe:

Majestät, ich stimme mit ihnen darin überein, dass bestimmte soziale Werte heute im Verfall begriffen sind. Das sieht man auch im Internet, aber es wird nicht notwendigerweise durch dieses verstärkt… Der mittelalterliche Pilger trug nichts außer einer Schale und einem Löffel und fand Unterkunft mit gleichgesinnten Gläubigen. Ich habe ein iPhone und den Glauben daran, dass helfende Hände immer noch zu finden sind.“

Eine Ausgabe der FAZ, vier Mal die Auseinandersetzung mit dem Internet: Patrick Bahners berichtet über den amerikanischen Wahlkampf, in dem das Internet fröhlich herrscht. In Obamas Hauptquartier entdeckt Bahners den Chefwissenschaftler, der einst Modelle entwickelt hatte, mit denen der Endpreis einer Ebay-Auktion zu 96 Prozent vorherzusagen ist. Für Obama entwickelt der Chefwissenschaftler den „Dreamcatcher“, ein Programm, mit dem Wähler zu umgarnen sind.

Und auf der letzten Seite räsonniert der in Leningrad geborene US-Dichter Gary Shteyngart über das Ende des Lesens:

Im Grunde lesen die Amerikaner nicht mehr oder nicht mehr viel, weil sie so viel Zeit mit den Spielereien auf ihren iPads, iPhones und iPods zubringen. Diese Dinger und das Spielen führen zu einer echten Sucht. Manche Leute stehen inzwischen sogar mitten in der Nacht auf, um nach ihren E-Mails zu sehen. Unter solchen Umständen liegt es auf der Hand, dass die Literatur leidet

Und was passiert nach dem Ende der Literatur?

Zunächst einmal weniger Einfühlungsvermögen. Bücher machen es möglich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen… Außerdem bedeutet es weniger Introspektion, denn die ist der schlimmste Feind des Internets, dieser eifersüchtigen und unendlichen anspruchsvollen Geliebten. Und schließlich ständige Ruhelosigkeit, denn Ruhe ist vollkommen unvereinbar mit den neuen Technologien.“

(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution)

Vorsicht: Ironie!

Geschrieben am 4. November 2012 von Paul-Josef Raue.

Leser schreiben auch vortreffliche Satiren – beispielsweise Karl-Ernst Schwartz aus Sondershausen in der Thüringer Allgemeine, als er während der Schulessen-Affäre auf die Frage reagierte: Warum waren nur ostdeutsche Länder von der Lieferung vergifteter Erdbeeren betroffen?

Das ist nur die Spitze des Eisberges. Um das dahinterliegende System zu verstehen, müssen wir in die Vergangenheit schauen:

Zuerst hat man uns Ostdeutschen unsere zwei Eriche genommen, von denen der eine uns besonders geliebt und dies auch öffentlich zum Ausdruck gebracht hat. Dann wurde der Hauptteil unserer Ersparnisse in harter DDR-Mark auf Wunsch des westdeutschen Großkapitals 2:1 abgewertet.

Anschließend verschleuderte die Treuhand unser Eigentum an modernsten Betrieben und Einrichtungen, wie wir fast jeden Tag in dieser Zeitung lesen können. Unsere Rentner kümmern mit ihren jämmerlichen, nicht angepassten Ostrenten dahin und verhungern reihenweise, auch hier fast täglich nachzulesen.

Nicht genug damit, unsere ostdeutsche Jugend, insbesondere die jungen, gut ausgebildeten Frauen, werden mit Versprechungen höherer Löhne und Gehälter in die Betriebe westdeutscher Ausbeuter gelockt, wer weiß, was dort mit ihnen geschieht.

Zu guter Letzt werden auch noch unsere ostdeutschen Kinder, von denen es sowieso nicht viele gibt, und möglicherweise unsere intellektuelle Elite, die Pädagogen, mit verseuchtem Schulessen, zum Hohn auch noch mit roten chinesischen Erdbeeren, vergiftet.

Das ist Völkermord! Wann schreitet endlich die UNO ein?

Die TA druckte die Satire, aber unter der Überschrift: Vorsicht Ironie!

(zu: Handbuch-Kapitel 38 Die Satire)

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