Das Ulrich-Wickert-Interview: „Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält“

Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Herr Wickert, die meisten kennen Sie als den Moderator der Tagesthemen, als einen seriösen, freundlichen Mann. Ihr neues Buch nennen Sie „Neugier und Übermut“. Die Neugier nimmt man Ihnen leicht ab – aber den Übermut?

WICKERT Da mögen Kleinigkeiten gewesen sein – wie etwa dem Bundestagspräsidenten Hilde Knef auszuspannen, oder den übel gelaunten Bundeskanzler Helmut Schmidt zu fragen, ob er nur schnupfe oder auch spritze, oder gar einen Film über den marxistischen Philosophen Herbert Marcuse zu beginnen, obwohl die ARD dafür gar kein Geld bereit gestellt hat – und es eigentlich auch keiner wirklich sich traute.

Aber zum Ende meines Buches sage ich ja: Übermut ist gar nicht so wichtig gewesen. Es reichte schon, keine Angst zu haben. Und das ist übrigens auch wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse.

Mut kann man nicht lernen. Aber, so schreiben Sie, man kann lernen, was Mut bedeutet. Und Sie belegen es mit einer Jugend-Episode.

WICKERT Ja, in der Universität Bonn wollten mich Professoren vom Studium ausschließen, weil ich öffentlich gemacht hatte, wie die Diskussion über die Nazi-Vergangenheit des neuen Rektors unterbunden wurde. Der Dekan der philosophischen Fakultät Wolfgang Schmidt hat mich gerettet, in dem er mit seinem Rücktritt drohte, falls ich rausgeworfen würde. Da habe ich gelernt, dass man mit seiner Meinung und Haltung in der absoluten Minderheit sein kann – und trotzdem den Mut haben soll, bei seiner Haltung zu bleiben.

Wer in der DDR gelebt hat, dürfte erstaunt sein: Ein Bonner Student konnte von der Universität fliegen, weil er einen Nazi, der wieder Professor ist, einen Nazi nennt. Wie braun war die Bundesrepublik noch in ihrer Jugend?

WICKERT Bis in die achtziger Jahre hinein waren noch ehemalige Nazis in öffentlichen Ämtern. Manche hatten ihre Namen und Biographien geändert! Ich schildere ja in einem der ersten Kapitel meines Buches den Fall von Hans Fritzsche, einem ehemaligen Widerständler des 20. Juli, der nach dem Krieg in den Staatsdienst ging.

Beim Aufbau der Bundeswehr wurde er abgelehnt, weil er im Widerstand gewesen war. Und er wurde vom Verfassungsschutz als angeblicher „Bolschewik“ observiert. Frauen wurden auf ihn angesetzt, die bei ihm zu Hause nachschauen sollten, welche Bücher er las.

Da stand auch neben anerkannten Historikern wie Treitschke und Mommsen auch Karl Marx, weil er als Historiker solche Bücher las. Wer ließ ihn observieren: Die alten SS-Leute, die im Verfassungsschutz saßen! Andere Widerständler wie Erich Kordt wurden nicht mehr in den Auswärtigen Dienst aufgenommen, da sie – so Adenauer – „schon einmal ihren Chef verraten haben“.

Sie schreiben: Im Kalten Krieg war es schlimmer, Kommunist zu sein als ein Ex-Nazi. Sind Sie darüber in Ihrer Jugend zum heimlich Kommunisten geworden?

WICKERT Da muss ich doch lachen. Nein, ich bin deshalb kein heimlicher Kommunist geworden. Ich war dafür zu faul: ich habe das Kommunistische Manifest gelesen und fand darin vieles richtig. Aber vom „Kapital“ habe ich nur eine Seite gelesen. Das war mir zu anstrengend!
Ich bin humanistisch erzogen worden und war deshalb Mitglied der Humanistischen Studentenunion. Später, als Korrespondent in New York, habe ich einmal einen Film über die Hutterer gedreht. Diese religiöse Gemeinschaft hat mich tief beeindruckt. Denn dort wird ein „christlicher Kommunismus“ gelebt, der funktioniert!

Sie litten als junger Mensch darunter, dass in der Bundesrepublik vieles fehlte, was mit Freiheit zu tun hat. Wie fällt Ihr Urteil heute, Jahrzehnte später, über das vereinte Deutschland aus: Fehlt immer noch zu viel, was mit Freiheit zu tun hat?

WICKERT Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man im Rahmen der ethischen Vorgaben machen kann, was man für richtig hält. Aber in Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw.

Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!

Sie waren in einer der entscheidenden Stunden der Einheit dabei: Die beiden Außenminister Dumas aus Frankreich und Genscher aus Deutschland einigen sich, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren gegen Kohls erklärten Willen. Wie gelang es Ihnen, bei einem solch geheimen Treffen zuhören zu dürfen?

WICKERT Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen. Und der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher vertraute mir, als ich Korrespondent in Paris war, ebenso wie sein französischer Kollege, der Außenminister Roland Dumas.

Als ich nun erfahren hatte, dass Genscher sich plötzlich und ungeplant in Paris mit Dumas traf und die beiden dabei drehte, sagte mir Genscher, nachdem der Kameramann den Raum wieder verlassen hatte: „Setzen Sie sich doch zu uns.“

Es war kein Dolmetscher dabei, da Dumas deutsch spricht. So konnte ich miterleben, wie Hans-Dietrich Genscher mit harten Worten die Ablehnung von Bundeskanzler Helmut Kohl kritisierte, die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens öffentlich anzuerkennen, und mit Dumas beriet, wie der französische Präsident Francois Mitterrand Druck auf Kohl ausüben könnte.

Manche im Osten fühlen sich als besiegt, obwohl sie selber die friedliche Revolution erstritten haben. Die Frage geht an den Journalisten, der nach dem Krieg intensiv über „besiegt und befreit“ nachgedacht hat: Wer hat denn nun im Osten gesiegt?

WICKERT Im Osten hat die Bevölkerung gesiegt! Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hat das Volk sich erhoben und eine Regierung davongejagt. Ja, mehr als eine Regierung, ein ganzes politisches System. Also gibt es keine Frage: „Wir sind das Volk!“ hat gesiegt.

Dann kam allerdings: „Wir sind ein Volk!“ Und da hat die Bundesregierung in Bonn ihre ganze Macht ausgespielt, um Sieger zu sein. Es wäre politische für unsere Zukunft klug gewesen, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, wie es ja im Grundgesetz vorgesehen war. Aber die Regierung Kohl, die fürchtete im Dezember 1990 die Bundestagswahl zu verlieren, nutzte ihre Überlegenheit aus.

Sie wollten eigentlich kein Journalist werden. Hat es sich dennoch gelohnt? Und würden Sie jungen Leute heute raten, Journalist zu werden?

WICKERT Ja, ich war nie auf den Gedanken gekommen Journalist zu werden – und wer das Kapitel „Neugier als Lebensmotto“ in meinem neuen Buch liest, der wird sich biegen vor Lachen, wie dämlich ich mich in dem ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt habe. Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.

Und wenn heute ein junger Mensch diese Neigung in sich spürt, wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen.

Sie gehören,nach eigenem Bekunden, einer Generation an, die keine Angst hatte. Ist die neue Generation eine ängstliche Generation?

WICKERT Mit „Generation ohne Angst“ meine ich: Wir mussten uns keine Sorge um einen Beruf zu machen; der würde schon irgendwie kommen. Wir empfanden Vorgesetzte als Personen, die man erst einmal kritisch behandeln sollte. Vor ihnen hatten wir auch keine Angst. Die Zukunft war für uns wie ein Blick in den blauen, sonnigen Himmel.

Die heutige Generation erlebt schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?

Doch, wie ich schon eingangs sagte: Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.

Thüringer Allgemeine 17. November 2012

BUCH Ulrich Wickert: Neugier und Übermut (Hoffmann und Campe, 22.99)

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten)

Wickert zum 70.: „Es reicht, keine Angst zu haben“

Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Wieviel Misstrauen braucht ein Journalist? Wenig, meint Ulrich Wickert, der heute, am 2.  Dezember 2012, seinen  70. Geburtstag feiert. „Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen“, sagt Ulrich Wickert in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen.

Eigentlich wollte er kein Journalist zu werden. Dämlich habe er sich im ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt: Wer das in seinem neuen Buch „Neugier als Lebensmotto“ lese, werde sich biegen vor Lachen. „Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.“

Hans Leyendecker schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.12.2012), ein wenig resignierend über den Beruf des Journalisten: „Wickert gehört zu den Glücklichen, die einen Sinn in all dem Schaffen erkennen können.“

Was ist Wickerts Glück, Leyendecker folgend:

  • Rheinischer Optimismus
  • Der nie beirrte Glaube an den Sinn journalistischer Arbeit
  • Der nie schwindende Glaube an die Aufklärung (der bei anderen in der Regel mit dem Alter abhanden kommt)
  • Fehlender Zynismus („Zynismus wird in diesem Beruf  Erfahrung genannt“)
  • Realismus statt Resignation
  • Weltenbummler
  • Nachrichtenversessen (liest morgens Herald Tribune, Le Monde und drei weitere Zeitungen,  schaut Tagesschau, Tagesthemen und Dokumentationen bei Arte)
  • Charmant, sehr gelassen, erstaunlich normal (im TV-Studio wie beim Einkaufen im Gemüseladen)

Einem jungen Menschen gibt Wickert im Interview der Thüringer Allgemeine den Rat, Journalist zu werden – „wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen“.

Im Gegensatz zu seiner Generation, die eine „Generation ohne Angst“ war, erlebten die jungen Leute in ihrer Generation heute „schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?“

Sein Rat lautet: „Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.“

Kritisch geht Wickert, der die Welt kennt, mit seinem Heimatland um: „In Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw. Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!“

Das komplette TA-Interview: Freiheit ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Der Journalist)

Vor Taschendieben und Taschendiebinnen wird gewarnt! (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 26. November 2012 von Paul-Josef Raue.

Frauen sind die Benachteiligung leid, lehnen sich dagegen auf und erregen sich über die Sprache, die überwiegend männlich geprägt ist. Warum nur sind der Gott und der Mensch männlich?

Da haben in Jahrtausenden die Patriarchen  Gott an ihre Seite gestellt und sich selbst über den Rest der Menschheit. Das ist Geschichte.

Die Klugen  wissen, dass unser Fortschritt, unser Wohlstand und der Frieden in unserer Gesellschaft weiblich sind –  und männlich zugleich. Das ist Gegenwart, wenn auch noch ein wenig Überzeugung für die Gestrigen zu leisten ist.

Aber, Ihr Kluginnen und Klugen, müssen wir uns dabei unsere Sprache verbiegen lassen? Kurz sei sie, verständlich und schön: Können wir uns darauf einigen?

„Ein Parallelität zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht (Genus und Sexus) besteht nicht“, steht im Impressum des „Infoblatt der Erfurter Landtagsabgeordneten der Linken“.  Das klingt ein wenig gestelzt, soll aber bedeuten: „Der“-Wörter schließen Frauen mit ein – „der“ Mensch ist auch weiblich, immer und überall.

Doch die Linken halten sich in keinem Artikel ihres Infoblatts daran. Allein fünf Mal erscheinen in einem Artikel die „Lehrerinnen und Lehrer“, einmal dazu „Sozialarbeiterinnen und -arbeiter“ und „Kolleginnen und Kollegen“; in den anderen Artikeln stehen Politikerinnen und Politiker, Kleinkünstlerinnen und Kleinkünstler, Seniorinnen und Senioren.

Wie wäre es im nächsten Infobrief mit einer Meldung wie dieser:  „Gleichstellungspolitiker und Gleichstellungspolitikerinnen und die beauftragen Vertreterinnen und Vertreter laden die Abwesenheitsvertreterinnen und Abwesenheitsvertreter ein, die von Bad Langensalzerinnen und Bad Langensalzaer gewählt worden sind.

Ach, zudem ist unsere Sprache ungerecht auch zu den Männern: Warum ist die Brüderlichkeit  weiblich und der Hampelmann männlich? Die Liebe weiblich und der Hass männlich? Der Verbrecher männlich und der Sündenbock und der Taschendieb – oder haben Sie schon einmal gelesen: Vor Taschendieben und Taschendiebinnen wird gewarnt?

Sprache in Auflösung: Sätze, die keine Sätze sind

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Eine Marotte macht Schule: Nimm den zweiten Teil eines Satzes, setze davor einen Punkt und verunstalte ihn zu einem eigenständigen Satz ohne Subjekt, ohne Prädikat, ohne Sinn und ohne Verstand.

Die Marotte, die manche als literarisch rühmen, ist nicht nur im Feuilletons zu finden, sondern auch im Sportteil, wie in der FAZ vom 23. November 2012:

Auch wegen Mario Götze, der gegen Ajax drei Treffer, erzielt von Reus (8. Minute) und Lewandowski (41./67.) mit zielstrebiger Eleganz vorbereitete, und das 2:0 nach einem seiner spektakulären Sololäufe selbst erzielte (36.).

Das ist der komplette Satz. Er gehört zum Satz, an den er anschließt:

Alles scheint inzwischen möglich für dieses Perpetuum mobile des Meistertrainers Jürgen Klopp.

Statt des Punkte hinter Klopp wäre ein Gedankenzeichen sinnvoll. Der „auch-wegen“-Satz wird zudem unverständlich

1. durch drei Klammern,
2. durch fünf Zahlen (die ans Ende des Textes in eine Übersicht gehören),
3. durch ein Komma, das fehlt hinter „Lewandowski“, am Ende der Apposition zu „Treffer“,
4. durch ein Hängeverb: Zwischen „Götze, der gegen Ajax drei Treffer..“ und „vorbereitete“ stehen neun Wörter,
5. und durch den zweiten Relativsatz, der nicht mehr erkennbar ist, weil das zweite „der“ fehlt: „und (der) das 2:0 selbst erzielte“.

Es bleibt ein Geheimnis des Autors, warum Götze einen Vornamen bekommt, Reus, Lewandoswki und Hoesen aber keinen bekommen

Im folgenden Satz hemmt ein Klammerverb das Verstehen:

Das eine Törchen für Ajax durch Hoesen (86.) nahm er von der Bank aus, auf die er in der 70. Minute unter donnerndem Applaus von rund 5000 Dortmunder Fans gewechselt war, en passant zur Kenntnis.

Zwischen „nahm er…“ und „…zur Kenntnis“ stehen 23 Wörter und Zahlen mit einem eingeschobenen Nebensatz. Diese Umklammerung ist unverständlich, aber in der deutschen Grammatik korrekt – im Gegensatz zur englischen. Diesem Unsinn können wir nur ein Ende bereiten, wenn wir zwischen die beiden Verbteile maximal fünf Wörter stellen und nie ein Nebensatz.

(zu: Handbuch-Kapitel 22 Warum alles Informieren so schwierig ist + 27 Vorsicht, Zahlen!)

Der Boulevard im Feuilleton: Ist Wulff grauer geworden?

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Christian Wulff spricht wieder, öffentlich. Die großen Zeitungen sind dabei, die Zeitungen, die sich Qualitätsmedien nennen. Was er in der Alten Aula der Heidelberger Uni sagt, wird nur am Rande erwähnt.

Das Feuilleton wird zum Boulevard. Der Ex-Präsident hat, beobachtet Jan Wiele in der FAZ, eine neue Brille, randlos „wie in der Zeit vor der Katastrophe“, er ist sichtlich schmaler geworden – und er ist ein bisschen grauer (Anzug und Haare).

In der Welt hat Ulrich Exner den anderen Blick, den Anti-Blick: Wulff wirkt nicht ausgezehrt, nicht so verhärmt; und er bekennt sich zu seiner Scham – für die Mordserie des NSU.

Auch Exner sucht das Graue an Wulff: Dunkelgraue Hose, graues Jackett und graue Krawatte. Und die Haare? Da spielt Exner mit seiner Reporter-Rolle:

Sind da vielleicht ein paar mehr graue Haare? Man kann sich auch lächerlich machen als Beobachter. Christian Wulff sieht ziemlich genau so aus, wie Christian Wulff immer ausgesehen hat.

Ein Lob für die Reporter, der sich selbst mit leiser Ironie beobachten kann!

Ironisch wird auch Jan Wiele in der FAZ: Er nennt Wulffs Rede „postinformativ“; und er legt seine Bibel-Kenntnisse offen und schreibt „wahrlich“ in einer kommentierenden Anmerkung zu Wulffs Honorar, das dieser nicht bekommen hat.

Oder meint er es wahrlich ernst, weil es im Feuilleton steht, dem postinformativen Feuilleton?

(FAZ 23.11.2012 „Der Anfang nach dem ende ist schnell gemacht“ + Welt 23.11.2012 „Der neue alte Wulff“)

(zu: Handbuch-Kapitel 32-33 Die Reportage + 16 Lexikon unbrauchbarer Wörter)

Kein Grund für linksintellektuelle Schwermut: Das Zeitungssterben fällt aus

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

„Die allermeisten Verlage stehen grundsolide da“, schreibt Chefredakteur Armin Maus im Samstags-Essay der Braunschweiger Zeitung über die Insolvenz der Frankfurter Rundschau und das Ende der Financial Times Deutschland. Wie stark Zeitungen seien, werde verschwiegen, weil es schlecht ins Untergangsszenario passe. Stattdessen könne man viel Unfug vom „Zeitungssterben“ lesen.

Selbst eine gut gemeinte Titelgeschichte in der Zeit, in der viel Kluges über Qualität und Verantwortung zu lesen ist, war überschrieben: „Wie guter Journalismus überleben kann“. Diese Schlagzeile transportiert ein Bild, das in seiner pathetischen Schwarzfärbung vom Hang des linksliberalen Intellektuellen zur Schwermut zeugt.

Maus kritisiert Medienwissenschaftler, Experten und Politiker und bescheinigt ihnen ein Niveau zwischen Nostradamus und Radio Eriwan, wenn sie aus unterschiedlichen Geschichten die eine vom Zeitungssterben bastelten:

  • Medienwissenschaftler, hochgebildete Intellektuelle, sprechen über eine Realität, die sie mangels praktischer Erfahrung nur aus zweiter Hand kennen.
  • Experten, deren Geschäftsmodell auf der These beruht, die Verlage machen ohne sie alles falsch, rezensieren vom Turme herab.
  • Politiker, die die These vertreten, Tageszeitungen seien „ja nicht mehr so wichtig“.

Armin Maus stellt die Erfolge der Tageszeitungen heraus, die zu den wichtigen Faktoren des öffentlichen Lebens gehöre:

  • Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine vergleichbare Vielfalt. Deutschland spiegelt sich in seinen Regional-Zeitungen.
  • 47 Millionen Menschen lesen in Deutschland täglich Zeitung.
  •  Leser schätzen die Unabhängigkeit der Redaktionen. Die Staatsferne, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk für sich reklamiert, ist bei den Zeitungen Realität.
  • Die Tageszeitung genießt bei den Bundesbürgern höchstes Vertrauen, liegt weit vor der „Tagesschau“.
  • Das Vertrauen gilt auch für junge Leute, die sich in beachtlicher Zahl weigern, „keine Zeitung mehr zu lesen“, obwohl es allenthalben von ihnen behauptet wird.
  • Die Zahl der Leser, die ein Abonnement bezahlt, ist leicht rückläufig. Nimmt man allerdings die Reichweiten der Internetangebote der Verlage dazu, sieht das Bild schon anders aus. Denn auch Leser, die keine Papierzeitung wünschen, schätzen die Informationen, die ihnen eine unabhängige Redaktion anbietet.
  • Als Werbeträger haben die Zeitungen unbestreitbar an Boden verloren. Aber es gibt zum ersten Mal eine intensive Zusammenarbeit der wichtigsten Verlage, die die Schaltung bundesweiter Kampagnen erleichtert.
  • Zeitungshäuser – Springer allen voran – sind auf dem Weg zum Multimedia-Anbieter.

(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 53-57  Die Zukunft der Zeitung)

Ude (2): Die hohe Kunst des Lokaljournalismus

Geschrieben am 19. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Wenn Münchens Oberbürgermeister verstehen will, was seine Verwaltung schreibt, schaut er in den Lokalteil der Zeitungen: „Ich verstehe viele Vorlagen nicht. Aber seriösen Zeitungen gelingt es, den wesentlichen Inhalt zu vermitteln.“ Das eine, die Leistung der Lokaljournalisten, sei eine Kunst; das andere, die Verwaltungssprache, ein Milieu-Schaden.

So sprach Christian Ude bei der Lokaljournalismus-Konferenz des Netzwerk Recherche in München (9. November 2012). Daraus abzuleiten ist die Forderung an die Lokaljournalisten: Übersetze die Verwaltungssprache in ein verständliches Deutsch, damit es nicht nur der Oberbürgermeister verstehen kann, sondern jeder Bürger deiner Stadt!

Eine weitere Kunst, die Lokaljournalisten beherrschen, lobte Ude: Aus einer neunstündigen Sitzung das Wesentliche zu destillieren. „Wir profitieren davon!“ – und meinte mit „wir“ die Politiker. Auch daraus kann man eine Forderung formulieren.

Eine dritte Kunst hob Ude hervor: „Als Korrespondent in Südamerika ist es völlig wurscht, was sie schreiben, im Lokaljournalismus muss jede Zahl und jeder Vorname stimmen, zumindest bei einem Stadtrat. Die öffentliche und soziale Kontrolle ist nirgends so enorm wie im Lokaljournalismus.“ Daraus folgert Ude: „Das hohe Selbstwertgefühl der Lokaljournalisten ist durchaus berechtigt.“

So lassen sich die Ude-Regeln der Lokaljournalisten-Kunst formulieren:

1. Schreibe so, dass dich jeder versteht, sogar der Oberbürgermeister!
2. Hole das Wesentliche aus jeder langen Sitzung, aus jeder Versammlung heraus!
3. Recherchiere sorgfältig, weil dich jeder kontrollieren kann!

Eine vierte Regel fügte er an: Kontrolliere die Mächtigen! Sei Wächter der Demokratie! Diese Regel formulierte Ude als Kompliment: „Man muss Lokaljournalisten fürchten!“

Die Wächterfunktion sei notwendig, denn – so Ude – „alle Menschen jeglicher Couleur neigen zum Machtmissbrauch, wenn sie nicht von außerhalb kontrolliert werden.“ Zu schreiben, was verschwiegen werden soll, sei die vornehme Aufgabe der Lokaljournalisten.

Wie er selber einmal in seiner Jugend wenig sorgfältig, aber dennoch erfolgreich gewesen war, erzählte er vor hundert Gästen im Restaurant der Süddeutschen Zeitung:

Ich habe eine Musikkritik in der SZ geschrieben, ohne dabei gewesen zu sein. Ich hatte keine Lust, bin ins Textarchiv gegangen, habe mir eine entsprechende Kritik von Joachim Kaiser angesehen, die besten Passagen abgeschrieben – und mir stattdessen einen unvergesslichen Abend im Biergarten gegönnt.

Der Konzertverein hat sich bedankt: „Der Kritiker hat mit viel Herzblut geschrieben.“ Die Plattenfirma hat meine Kritik aufs nächste Plattencover gesetzt.

Die Macht des Lokaljournalisten erlebte Ude bei den großen Studenten-Demonstrationen 1968, bei denen die Schätzungen der Teilnehmer zwischen Polizei und Zeitung immer stark differierten – bis eines Tages der Polizeichef auf Ude zukam und ihn fragte: „Wären Sie mir 3000 einverstanden?“

Der Lokaljournalismus ist für Ude kein Sprungbrett nach oben, er ist schlicht der folgenreichste Journalismus, der Ernstfall, wo es auf jedes Wort ankommt. „Nirgendwo ist die publizistische Wirkung so erfolgreich.“

Ude plädierte für Seriosität und Hintergründigkeit gerade im Lokaljournalismus: „Ich wundere mich, wie viele Journalisten sich auf den Wettlauf um Aktualität einlassen, statt auf Qualität und Ausführlichkeit zu setzen. Der recherchierende Journalist wird immer wichtiger – und deswegen sage ich es auch in Anwesenheit der Geschäftsführung.“

(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 55 Der neue Lokaljournalismus + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)

Sind Deutschlands Chefredakteure bestechlich?

Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Christian Lindner, Chefredakteur der in Koblenz erscheinenden Rhein-Zeitung, zeigt sein Honorar bei Twitter an (18.11.12, 19:28):

Zeige hiermit mein Moderations-Honorar beim #forumWHU an: Eine Flasche Nahe-Riesling. Mit Blindenschrift auf Etikett.

(zu: Handbuch-Kapitel 38 Die Satire)

„Die Gesellschaft ist angewiesen auf reichhaltige Presse“

Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Die Bundesrepublik wurde auch erbaut auf den herrlichen Bleiwüsten ihrer großen und leidenschaftlichen Debatten, aus dem Zusammenwirken von politischem Journalismus, kultureller Reflexion und akademischer Brillanz…

Länder mit miserabler Presse sind schlechter regiert und haben mehr extremistische Parteien, da helfen schlaue Blogs bisher wenig…

Diese Gesellschaft ist viel zu komplex, viel zu angewiesen auf Analyse und Kritik, um auf eine reichhaltige Presse verzichten zu können.

Gustav Seibt „Wo die Demokratie lebt“, Leitartikel in der Süddeutschen zur Insolvenz der Frankfurter Rundschau (17.11.2012)

(zu: Handbuch-Kapitel Welche Zukunft hat der Journalismus (Seite 341))

Oma sagt für „Ich muss mal uff Klo“ stets „Austreten“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue.
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Alles Blödsinn? Alles Kokolores? Nach dem Wort des Jahres, nach dem Unwort des Jahres, dem Jugendwort des Jahres wird auch das Rentnerwort des Jahres gewählt. Das ist Kokolores, das ist das Rentnerwort des Jahres, gewählt von den Hörern des Berliner Jugendradios „Fritz“.

„Belästigt Eure Omas und Opas!“, forderte der Sender seine jungen Zuhörer auf, die den Schlagerabend ihrer betagten Altvordern „Gammelfleischparty“ nennen.

„Mein Opa sagte zu Jeans immer Nietenhose“, erzählt Charlotte aus Pankow. „Meine Schwiegeroma nennt Jeans gern Manchester-Hose – dies bitte so deutsch aussprechen wie möglich, nicht wie die britische Stadt“, schreibt Sophie

Christoph erinnert sich an „Piependecker für Base Cup“, und Tanja wundert sich immer noch, dass die Oma für „Ich muss mal uff Klo“ stets „Austreten“ sagt. Franzi findet „Knilch“ sehr schön – „wenn meine Oma mal wieder fragt, ob ich einen Freund habe“.

Die Abstimmung zum Rentnerwort verlief spannend: 16 Prozent stimmten für Kokolores – ein Wort, das in den goldenen zwanziger Jahren entstand in den Berliner Salons der Reichen; wer Kokain schnupfte, erzählte unentwegt Unsinn, eben Kokolores.

14 Prozent stimmten für Stanniolpapier und 13 Prozent für Rabauke, das ist ein altes niederdeutsches Wort für einen Randalierer und Rüpel, das seine Wurzeln im Lateinischen hat.

Larifari und Firlefanzerei, Mumpitz und Tinnef, Pipapo und Brühkaffee, Mischpoke und Rotzbengel: Diese Wörter entdeckten die Jungen auch noch – und finden sie schön.

Kolumne der Thüringer Allgemeine, geplant für 19. November 2012

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