Interview-Antworten und ihre öffentlich-rechtliche Absicherung

Geschrieben am 1. Januar 2013 von Paul-Josef Raue.
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Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Was soll das? Diese ebenso überflüssige wie unsinnige Anmerkung steht am Ende von Interviews auf der Internet-Seite von Deutschlandradio Kultur. Es ist journalistischer Standard, dass Aussagen von Interviewten deren Meinung wiedergeben ebenso wie Gastkommentare die Meinung des Gastes und Leserbriefe die Meinung des Lesers.

Offenbar muss man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Selbstverständlichkeiten für die Politiker im Rundfunkrat immer und immer wieder schreiben.

(zu: Handbuch-Kapitel 26 Das Interview)

Die „Süddeutsche“ verarscht

Geschrieben am 1. Januar 2013 von Paul-Josef Raue.

Wieviel Umgangssprache verträgt die Zeitung? Die Süddeutsche wird großzügiger. Nico Fried schreibt im Silvester-Leitartikel:

Gleichwohl fühlen sich auch hierzulande viele Bürger schnell und oft von der Politik verarscht.

Damit die Leser merken, dass „verarschen“ kein Ausrutscher war, schreibt Fried wenige Zeiten weiter über das Vertrauen in Politiker:

Oder auch beim Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, zumindest bis herauskam, dass der die Leute schon verarscht hatte, bevor er ein richtiger Politiker geworden war.

Fordern die Leser einer seriösen Zeitung die Umgangssprache, ja Gossensprache? Wer sich in Leserkonferenzen setzt, hört das Gegenteil: Die Sprache ist für viele ein Maßstab für Seriosität; Umgangssprache gilt als Beleg für den Boulevard.

Es kommen schon Leserproteste, wenn ein Redakteur „klaut“ in die Überschrift schreibt statt „stiehlt“ – weil es besser passt. Es ist nutzlose Anbiederung, wenn wir schreiben, wie die Leute sprechen (aber nicht schreiben!).

Wir müssen den Leuten aufs Maul schauen, um zu erfahren, über was sie sprechen und sprechen wollen. Aber wir müssen nicht so derb reden, wie die Leute gerne reden – weil Vertrauen nichts mit „verarschen“ gemein hat.

(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen)

Facebook-Reaktion von Alexander Marinos (Generalanzeiger, Bonn) am 1. Januar 2013:

Naja, es ist gewissermaßen ein indirektes Zitat. Er benutzt die Sprache Peter Strucks. Da die Anführungszeichen wegfallen, fehlt allerdings das unmittelbare Distanzierungssignal. Das ist grenzwertig.

Paul-Josef Raue: Ich kenne die indirekte Rede. Aber ein indirektes Zitat? Mir ist jedenfalls nicht klar geworden, dass der Kommentator zitiert. Und warum zitiert er ausgerechnet „verarschen“?

Alexander Marinos

Er zitiert zu Beginn des Kommentars Struck wörtlich und greift das hier in direkter Rede zitierte böse Wort später wieder auf. Ich verstehe das so, dass er sich einen zunächst fremden Duktus später zu eigen macht, weil ihm die unverblümte Art Strucks zu reden offenbar gefällt. Ihnen gefällt das nicht, mir auch nicht – da sind wir einer Meinung.

Mehr Synonyme: Hopfenkaltschale und Beziehungsüberhang

Geschrieben am 1. Januar 2013 von Paul-Josef Raue.
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Synonyme sind nicht nur Verzweiflungs-Wörter für Journalisten, die nicht zweimal dasselbe Wort nutzen wollen. Sie sind auch Spaß-Wörter, ironische Wendungen – wie die „Hopfenkaltschale“, am Sonntag im Münchner Tatort zu hören (30.12.2012),

Das Wort steht für „ein schönes kühles Glas Bier“, schreibt das Spaßwörter-Lexikon „Sprachnudel.de“, eine der nervigsten Pop-Up-Seiten, „die wo einem beim Lesen das Messer in der Hose aufgeht“ (Selbstbeschreibung). Die Hopfenkaltschale scheint nicht so scharf zu sein: Nur Platz 666 der Topliste.

Mehr Verzweiflung als Spaß ist „Beziehungsüberhang“, ein Wort, geprägt von Olaf Glaeseckers Anwalt Guido Frings. Gemeint ist schlicht „Freundschaft“, eine besonders private Freundschaft, also kein Netzwerk als „Geben-und-Nehmen“-Kontrakt mit nachfolgender Abhängigkeit.

Glaesecker war Wulffs Pressesprecher, erst in Hannover, dann im Berliner Schloss Bellevue.

(Quelle: SZ 29.12.2012)

Printen wir die Zeitung? Oder drucken wir noch?

Geschrieben am 31. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.

Die letzte Printausgabe von Newsweek erscheint, sagt die Moderatorin in Deutschlandradio Kultur. Printausgabe? Werden Zeitungen nicht gedruckt?

Print ist einer der überflüssigen Anglizismen. „Druckausgabe“ hat nicht einen Buchstaben und nicht eine Silbe mehr. Noch schöner, auch wenn dreisilbig, ist: gedruckte Ausgabe.

(zu: Handbuch-Kapitel 16 Lexikon unbrauchbarer Wörter + Service H Lexikon journalistischer Fachausdrücke)

Journalismus als „Rohentwurf der Geschichtsschreibung“

Geschrieben am 31. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Heute, Silvester 2012, erscheint die letzte gedruckte Ausgabe des Nachrichtenmagazins Newsweek, Jahrzehnte Konkurrent von Time; künftig kommt das Magazin nur als Internet-Ausgabe heraus.

Siegfried Buschschlüter, ehemals US-Korrespondent, würdigte im Mediengespräch des Deutschlandradio Kultur das Magazin und hob die Doppelausgabe nach dem 11. September 2001 hervor:

Eine detaillierte, gut recherchierte und hervorragend geschriebene Chronik. Dies sei auch Aufgabe des Journalismus, einen „Rohentwurf der Geschichtsschreibung“ zu liefern.

(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Recherche + 5 Die Internet-Revolution)

Wortschöpfer: Löffelfertig, ticktacken und mähmähen

Geschrieben am 30. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung, hörte ein neues Wort und twitterte:

Wie heißt das Pendant zu „Schlüsselfertig“ bei Hotel-Projekten? „Löffelfertig„. (In Gespräch mit Makler gelernt)

Das Wort hatte ich auch noch nicht gehört, scheint bei Hauskäufern- und verkäufern geläufig zu sein: 27.000 Einträge bei Google.

Dirk Koch hat in „Murt“, seinem fulminanten Erzähl-Buch aus Irland, lautmalend zwei Verben erfunden:

  • ticktacken“ hat gerade mal 1600 Fundstellen, kommt wohl im Plattdeutschen vor;
  • mähmähen“  hat gerade mal eine Handvoll Google-Einträge, die zu entlegenen Stellen führen.

Was interessierte die Deutschen 2012 mehr: Dirk Bach oder die Finanzkrise?

Geschrieben am 29. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Was und wer interessierte die Deutschen am meisten? Genauer als jede teure Meinungsumfrage zeigt es der „Google-Zeitgeist“, die Rangliste der am meisten gesuchten Stichworte in diesem Jahr.

Diese Rangliste ist Grundlage für mein Editorial, geplant für die Silvesterausgabe der Thüringer Allgemeine:

 

Den Revolutionen geht die Freiheit aus

Die Welt in Unruhe – doch die Deutschen interessierten diese Themen 2012 am meisten: Fußball und Olympia, Bettina Wulff, ein Fallschirmsprung vom Rand der Welt und das neue I-Pad

Es geht uns gut in Deutschland, ja: Es geht uns gut. Sicher wird bei einigen Zeitgenossen die Zornes-Ader schwellen, wenn sie dies lesen. Sie werden zu Recht auf die Schwächen hinweisen, auf Skandalöses in einem wohlhabenden Land wie die Armut, die zu viele Kinder trifft, oder das Versagen der Geheimdienste, die rechte Terroristen jahrelang morden ließen.

Wie können wir messen, ob es einer Gesellschaft gut geht? Der beste Maßstab ist der Vergleich: In einer unruhigen Welt ist Deutschland ein Ruheraum.

Bei uns herrscht nicht einmal eine Wechselstimmung: Bei aller Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien, trotz Präsidentenwechsel im Jahrestakt, Finanzkrise und Unmut über große Banken neigen die meisten Deutschen zum Gleichmut.

Während die einen seit Jahren großes Unheil vorhersagen, gar den Zusammenbruch in Europa menetekeln, bleibt die Mehrheit ruhig und widmet sich anderen Themen. Was interessierte die Deutschen in diesem Jahr?

Die Rangliste der Themen, die 2012 millionenfach im Internet gesucht wurden, darf als gigantische Meinungsumfrage gelten, als der Trend schlechthin. Auf den ersten vier Plätzen stehen:

• Zwei große Sportereignisse: voran die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, bei der die Deutschen wieder den Titel verpassten; auf dem dritten Rang die Olympischen Spiele in London, in der sonst kühle Engländer ein Sommermärchen inszenierten und Deutschland nicht nur 44 Medaillen holte, sondern eine Sportart feierte, die zuvor kaum jemand kannte: Beach-Volleyball, das überaus spannende Spiel im Sand.

• Dazwischen schiebt sich der Tod eines Komikers: Dirk Bach, gerade mal 51 Jahre alt, starb einsam in einem Berliner Hotel; das Herz, das plötzlich versagt hatte, bewegt die Menschen mehr als alle anderen nationalen Ereignisse.

•  Ein nahezu unbekannter Österreicher und sein Sprung vom Rand der Welt nimmt den vierten Rang ein: Felix Baumgartner ließ sich 39.045 Meter hoch fliegen, wo  es keine Luft mehr zum Atmen gibt, und sprang – buchstäblich atemberaubend – auf die Erde zurück.

Politik auf den ersten zehn Rängen? Nichts, einmal abgesehen von Bettina Wulff, bis zum Februar Deutschland Erste Dame, bei der die meisten Anfragen aber nicht ihrem Wirken galt, sondern einem Gerücht – das millionenfach online verbreitet wurde, sich dadurch wie eine Wahrheit las und das doppelte Gesicht der Internets offen legte.

Wirtschaft auf  den ersten zehn Rängen? Keine Finanzkrise, kein Banken-Skandal, keine Ratingagentur – sondern zwei Produkte, das Samsung-Smartphone und das neue I-Pad von Apple.

Um uns herum die Welt ist meist unruhig. Einige Jahr lang feierten wir den Triumph von Freiheit und Demokratie und das Ende der Diktatoren. Wir gaben diesen Revolution einen schönen Namen: Der arabische Frühling – und wir dachten an eine Idylle, wie wir sie von unseren Reisen in die Sonne kennen.

Doch in der Welt ist kein Frühling ausgebrochen, sondern der Herbst der Revolutionen:

• In Syrien tobt der Bürgerkrieg, und so recht traut kaum jemand den Aufständischen zu, dass sie Freiheit und Gleichheit etablieren werden.

• Im Jemen gilt die Scharia, die Gesetze-Sammlung nach islamischem Recht wie etwa das Verschleierungs-Gebot für Frauen; in Ägypten soll sie etabliert werden.

• In Tunesien gilt offiziell nicht die Scharia, aber die herrschenden Islamisten dulden Verfolgung im Namen der Scharia.

• Palästina ist gespalten, wobei sich keines der befeindeten Lager als Vorhut der Freiheit versteht.

• Der Iran hatte den persischen Diktator verjagt, aber nach der islamischen Revolution einen neuen Unterdrückungs-Staat aufgebaut mit Geheimpolizei und Steinigungen; heute droht das Land mit Atombomben, die nicht nur Israel vernichten, sondern auch  Ziele in Westeuropa treffen könnten.

• Der Irak ist nicht befreit, die Emirate wehren jede Revolution ebenso ab wie Saudi-Arabien.

In diesen und vielen anderen Ländern spielt die Religion eine große Rolle, auch bei Menschen, die gegen die Unterdrückung kämpfen. Wir können uns im aufgeklärten Deutschland, vor allem im weitgehend religionsfreien Osten, nicht mehr vorstellen, wie sich Gott und seine Vertreter auf  Erden in die Ordnung der Gesellschaft einmischen – und dies von der Mehrheit der Menschen bejaht wird.

Wir verstehen diese Welt nicht mehr, obwohl wir Weltmeister im Verreisen sind – und die Welt versteht uns oft nicht mehr.

Dabei heißt „verstehen“ nicht: gut heißen oder gar akzeptieren. Aber wer nicht verstehen will, verliert zu schnell den Respekt vor dem anderen, dem Fremden.

Auch auf anderen Kontinenten herrscht mehr Unterdrückung als Freiheit, auch im wirtschaftlich aufstrebenden China, das jährlich Tausende von Aufständen unterdrückt.

Russland hat die Revolution von 1990 längst verraten: Das Land ist von einem Rechts- und Freiheitstaat so weit entfernt wie Pussy Riot von Putin. Undsoweiter

Selbst in Westeuropa, in einer der besten Demokratien der Welt, zerfleddern die ersten Freiheits-Fahnen der Revolution: Ungarn nähert sich ungeniert einer Ein-Parteien-Herrschaft, der Balkan kommt erst gar nicht zu Ruhe.

Und ist es ein Zufall, dass Spanien und Griechenland Europa ins Wanken bringen – zwei Länder, in denen die Menschen noch nach dem Zweiten Weltkrieg Diktatoren erleiden mussten?

Es scheint ein Gesetz der Geschichte zu sein, dass auf Revolutionen die Konterrevolutionen folgen. In der Tat ist es wohl leichter, die Freiheit zu zerstören, als sie mühsam aufzubauen. Die nachrevolutionären Wirren der Welt zeigen nicht mehr Bilder von Frauen, die unverschleiert Rosen in Gewehrläufe stecken, sondern zerfetzte Leiber von Kindern und Flüchtlingslager. Revolutionen sind keine Jahreszeiten: Es gibt keinen Frühling und keinen Winter, es gibt nur Freiheit, die Menschen erkämpfen – immer wieder.

Vielleicht lohnt ein Gedanke, ein dankbarer Gedanke, dass Deutschland seine friedliche Revolution nicht verraten hat – bei aller Ungleichheit, die noch herrscht, bei allen Missverständnissen und Vorurteilen, die östlich wie westlich wabern.

Deutschland ist ein friedliches Land, ein ruhiges Land, in dem der Tod eines Komikers mehr erregt als ein Bürgerkrieg, gerade mal vier Flugstunden von uns entfernt.

(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen + 5 Die Internet-Revolution)

Wie viele gibt es, die Journalismus als Berufung sehen?

Geschrieben am 28. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Max Brods „Prager Tagblatt – Roman einer Redaktion“ ist eines der schönen Geschenke zu Weihnachten. Ein guter Kollege schickte mir das längst vergriffene Buch mit den Zeilen:

Das Buch behandelt die redaktionellen Zustände in der ,guten alten Zeit‘, als Redakteure Besessene waren, die keinen Feierabend kannten und sich mit Haut und Haaren dem Journalismus verschrieben haben.

In meinem Dank für das Geschenk formulierte ich meine Hoffnung:

Ich kenne Brods „Prager Tagblatt“ in der Tat noch nicht. Aber ich hoffe, dass ich in Brod einen Vorfahren aller Redakteure entdecke, die sich auch heute noch  mit Haut und Haaren dem Journalismus verschreiben.

Ja, es gibt diese Idealisten noch, wahrscheinlich mehr als früher. Sie fallen nur weniger auf, weil es viel mehr Journalisten gibt als zu Brods Zeiten – und deshalb heute viele, die ihren Beruf nicht als Berufung sehen, sondern als ein Beamten-Dasein mit Ärmelschonern.

Brods Buch erschien erstmals 1957 und hieß „Rebellische Herzen“; Brod änderte den Titel selber 1968, kurz vor seinem Tod.

(zu: Handbuch-Kapitel 2 Welche Journalisten wir meinen – und welche nicht + Service A Literatur)

Joachim Braun: Ein junger Wilder wird Chefredakteur des Jahres

Geschrieben am 27. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.

Joachim Braun ist ein ungewöhnlicher Chefredakteur: Kein Manager, dem Zahlen wichtiger sind als Recherchen; kein Presseclub-Dauergast, der die Welt erklärt; kein Liebling der Mächtigen in der Provinz, auch wenn sie ihn umarmen wollen. Joachim Braun ist Chefredakteur des Nordbayrischen Kurier in Bayreuth, ist Regional-Chefredakteur des Jahres – und feiert heute Geburtstag (27. Dezember).

Braun plädiert für eine strikt journalistische Haltung

Das alte Sowohl-als-auch, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, zählt nicht mehr. Journalisten müssen sich bekennen, müssen Orientierung geben, Hintergründe aufarbeiten, darstellen und vor allem: Sie müssen Klartext schreiben. Nur so bekommen sie Relevanz und erreichen ihre Leser auch emotional.

So steht es in seinem Blog „An(ge)kommen in Bayreuth“, eine ebenfalls ungewöhnliche Chronik eines Chefredakteurs, der vom ersten Tag an notierte und öffentlich machte, was ihm in der Redaktion und in der Stadt auffällt und missfällt.

So machte er sich nicht überall beliebt – auch nicht bei allen in seiner Redaktion, vor allem nicht bei jenen, die – so steht es in seinem Blog – „immer noch glauben, sie hätten in den vergangenen 25 Jahren alles richtig gemacht,

  • weil ihnen die Abonnenten nicht davon gelaufen sind,
  • die soziale Netzwerke standhaft ablehnen, weil sie glauben, sie verrieten dort ihre Ideale,
  • die eine Schulverbandsversammlung 60 Zeilen lang ins Blatt hieven, obwohl sie der Text nicht interessiert,
  • denn: Das haben wir schon immer so gemacht.

Dazu passt eines der Lieblings-Zitate von Braun, das er in einem Interview mit Jürgen Klopp, dem Meistertrainer von Borussia Dortmund, gelesen hat:

Sollten wir einen finden, den ich nicht mehr motivieren kann – der wäre hier auch nicht mehr so glücklich.

Der regionale Chefredakteur des Jahres, den eine Jury des Medium Magazin  wählt, kommt am Ende einer langen Liste von Journalisten, die unsere eitle Zunft als die wahren Journalisten preist: Dreimal FAZ, einmal Spiegel, Welt und dpa, je einmal WDR und ZDF.  Mit der Provinz will man sich nur am Rand ein wenig schmücken, wenn man sich feiert „unterstützt von der Metro group und otto group“.

Die Jury- Begründung für Joachim Braun ist jedoch vorzeigbar:

Er steht für einen unerschrockenen Journalismus, wie man sich ihn nur wünschen kann in einer Region: Gradlinig und kantig scheut er keine Konfrontation mit der Obrigkeit (was u.a. 2012 dazu führte, dass der Bayreuther Oberbürgermeister nicht wiedergewählt wurde). Ebenso wenig scheut er sich davor, alte redaktionelle Zöpfe abzuschneiden (z.B.Vereins- und Honoratioren-Berichterstattung). Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und gibt mit seinem kritischen Blog „An(ge)kommen in Bayreuth“ täglich die journalistische Haltung vor, die er auch von seiner Redaktion erwartet.

Da ist allerdings noch ein Rest von Verachtung der Provinz zu lesen: Vereinsberichterstattung als alter Zopf, der abzuschneiden ist – als ob der Bürger, der sich engagiert und selbst organisiert, unserer Gesellschaft schadet. Da wird Lokalberichterstattung gerühmt, nur wenn sie Skandale entdeckt und Bürgermeister absägt – als Provinz-Spiegel sozusagen.

Diese Kopf-ab-Mentalität ist nicht Brauns Sache. Er mag seine Leser, er mag den  Stolz der Menschen auf ihre Heimat, er mag die Provinz, aber nicht das Provinzielle. In seinem Blog ist zu lesen:

Um’s klar zu stellen: Der Nordbayerische Kurier ist weder CSU noch SPD, weder rechts noch links, weder für noch gegen Festspielhaus. Er ist ausschließlich der Wahrhaftigkeit verpflichtet und damit seinen Lesern.

Bei allem Übermut, der Joachim Braun bisweilen überfällt, ist das die rechte Haltung. Glückwunsch,  lieber Joachim Braun!

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten + 55 Der neue Lokaljournalismus)

 

Die rauhen langen Nächte (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 27. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 27. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Als sich der Kalender noch nach dem Mond richtete, waren die Tage nach Weihnachten eine ruhige Zeit: Die Frauen wuschen keine Wäsche, die Männer taten nur das Notwendigste, und die Kinder durften nach Sonnenuntergang nicht mehr das Haus verlassen.

Die Familie saß zusammen, oft mit den Nachbarn. Doch die reine Idylle war dies nicht. Irgendeiner begann, wenn es draußen dunkelte, von Werwölfen zu erzählen, von Vampiren und von Jungfrauen, die nicht nur den Bräutigam, sondern auch den Tod sahen.

Ein anderer hatte die Tiere sprechen gehört. Wieder ein anderer erzählte, er wisse von einem, der die Tiere verstand – und prompt verstorben sei. „Rauhnächte“ nannten unsere Altvorderen die Zeit zwischen Winteranfang, also dem kürzesten Tag des Jahres, und dem Fest der drei Könige, wenn die Tage wieder länger werden.

Was „rauh“ sei in diesen Nächten, haben Sprachhistoriker nicht geklärt. Es könnte von der „Reue“ stammen. Die Tage zwischen den Jahren sind eine gute Zeit der Erinnerung: Man kann das Böse bereuen und das Gute in die Zukunft verlängern.

So sollten wir die Rauhnächte auferstehen lassen, bevor wir gute Vorsätze in der Neujahrsnacht fassen und das Gute tun – oder lassen, bevor die Drei Könige wieder Licht ins Dunkel bringen.

Thüringer Allgemeine,  Silvesterausgabe 2012, Friedhof der Wörter

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