Die Zeitung ist kein Anzeigenblatt – auch online nicht!
Ihr schätzt die Texte und Bilder in Eurer Zeitung, als würden sie in einem Anzeigenblatt stehen! Dieser Vorwurf wird lauter gegenüber Zeitungen, die ihren Inhalt kostenlos ins Netz stellen. Jan Bayer, Springer-Vorstand, formuliert es ein wenig vornehmer:
Wenn es uns gelingt, eine qualitative Reichweite mit zahlenden Abonnenten aufzubauen, dann steigt auch deren Wert für die Tageszeitung. (Horizont 8/2013)
Jürgen Scharrer, Horizont-Chefrredakteur, interpretiert den Bayer-Satz folgerichtig so:
User, die für ein Medium bezahlen und ihm entsprechend mehr Aufmerksamkeit schenken, sind ein wertvollerer Werbekontakt als Nutzer von Gratisangeboten – ein Argument, das von Print die vergangenen Jahre sträflich vernachlässigt wurde.
Nur wenn Journalismus etwas wert ist, auch: Geld wert ist, haben also Döpfners goldene Worte eine Zukunft:
Das Digitalzeitalter hat alle Chancen, zum Goldenen Zeitalter des Journalismus zu werden. Darum bin ich nicht pessimistisch, sondern optimistisch, was die Zukunft der Publishing-Branche betrifft – vorausgesetzt, wir konzentrieren uns auf unsere Kernkompetenz – auf exzellenten Journalismus.
So wird der Springer-Chef zitiert in der Einladung zur „World Publishing Expo 2013“, die Matthias Döpfner eröffnen wird.
Empörte Leser und eine souveräne Redaktion
„Guten Tag, ich habe nur diese Mailadresse, um zu sagen, wie sehr mich die Verstümmelung und Verwässerung dieses geliebten Samstagteiles Ihrer Zeitung ärgert und beleidigt… Sie nehmen mir die wunderbare Kolumne „Wie war dein Tag, Schatz“ und Sie quetschen das Amputat des bisherigen Persönlichkeitsfeatures als „Ich über mich“ an den Rand der Seite, als hätte hier ein Azubi in der ersten Woche mal das Layout machen dürfen. Shame on you!“ Dr. Reimer Hoffmann, Oldenburg
Kompliment an die FAZ-Redaktion! Ihre Leser ärgern sich, und die Redaktion druckt den Protest in den Leserbrief-Spalten ab (FAZ, 23.2.2103). So viel Souveränität ist selten in Redaktionen.
Grund des Ärgers ist der Wegfall einer Kolumne im Stellenteil der Samstagsausgabe: „Wie war Dein Tag, Schatz!“. Der Münchner Rechtsanwalt Georg M. Oswald, Jahrgang 1963, schrieb kleine Satiren als „Berichte aus dem Bürokampf“; eine Auswahl davon ist als Buch im Piper-Verlag erschienen. Vorbild sind die „Business Class“-Kolumnen des Schweizer Martin Suter, die zuerst erschienen sind in der Züricher Weltwoche und dann den Grundstein legten für Erfolg und Ruhm des Schriftstellers Suter.
Gisela Heil aus Saarbrücken überschüttet die FAZ-Kolumne mit Lob in ihrem Leserbrief, spricht von „Leere in Zehntausenden Ihrer Anhänger!“:
Könnten Sie sich nicht ab und zu zurückmelden, sozusagen als Kür… Dann blieben Sie aus dem Korsett der regelmäßigen Kolumne befreit, und alle hätten Spaß! Ihre Leser würden es Ihnen danken.
Einen Kolumnisten, den die Leser so schätzen, sollte man pflegen; er wird manchen Abonnenten halten, der leicht unzufrieden ist, sich aber auf die Samstagsausgabe und seinen Kolumnisten freut. Die Kolumne nur ab und an zu drucken, bringt wenig: Eine Kolumne erscheint regelmäßig, mindestens einmal in der Woche, oder sie ist keine Kolumne, sondern ein beliebiger Essay oder Gastbeitrag.
Ob die Kolumne wieder erscheint?
Die Financial Times und die Digital-First-Strategie
Nach einem Besuch im Silicon Valley schrieb Lionel Barber, der Herausgeber der britischen Financial Times, an seine Mitarbeiter: Wir müssen weniger Geld für die Zeitung ausgeben und mehr für Online – „auch wenn Print immer noch eine wichtige Quelle für die Werbe-Einnahmen ist“.
Er wirbt für seine „Digital-First-Strategie“, die also vorrangig auf digitale Angebote setzt, und kündigt an, die Mitarbeiter effizienter einzusetzen, also: auf 25 Redakteure in der Zeitung verzichten und 10 fürs digitale Geschäft einstellen zu wollen. Und welche Regeln gelten Online?
Natürlich müssen wir uns an die bewährten Methoden eines guten Journalismus halten: gründliche, ursprüngliche Berichterstattung auf der Grundlage mehrerer Quellen und ein waches Auge für die Exklusivmeldung.
Neben Veränderungen, die nur die FTD betreffen wie Zusammenlegen von Ausgaben, gibt es zwei Vorgaben, die für alle Redaktionen gelten sollten:
- Ein Ende der „vielarmigen Auftragsvergabe“ – wir brauchen weniger Auftragsvergabekanäle.
- Wir bedienen zuerst eine digitale Plattform und an zweiter Stelle eine Zeitung.
Am gemeinsamen Newsdesks arbeiten nicht mehr Seitenredakteure, sondern Content-Redakteure:
Wir müssen nachdenken, wie, wann und in welcher Form wir unseren Content veröffentlichen, ob konventionelle Nachrichten, Blogs, Video oder Social Media.
Wir brauchen Reporter, die bereit sind, ihre Talente für die Bearbeitung der großen FT-Artikel einzubringen, und nicht Gefahr laufen, in ein Silodenken zu verfallen.
Die E-Mail im Wortlaut (übersetzt von Thomas Bertz, TBM Marketing GmbH)
Liebe Kolleginnen und Kollegen,in meiner Neujahrsbotschaft habe ich erklärt, dass das Jahr 2013 zum Testlauf für unsere Entschlossenheit werden würde, weitergehende Schritte rascher zu gehen, um Journalismus der Spitzenqualität in einer im rasanten Wandel befindlichen Medienlandschaft zu unterstützen.
Ich möchte jetzt im Detail darstellen, welche Vorschläge wir für den Umbau der FT für das digitale Zeitalter machen möchten. Wir müssen in einigen Bereichen weniger und in anderen mehr tun. Wir müssen sehr viel wendiger sein und wir müssen unsere Teams umgestalten.
Heute haben wir Beratungen mit der britischen Journalistengewerkschaft National Union of Journalists (NUJ) aufgenommen, um eine erste Regelung zum freiwilligen Personalabbau auf den Weg zu bringen. Ziel ist es, die Produktionskosten der Zeitung zu senken und uns die Flexibilität zu geben, mehr in die Online-Sparte zu investieren.
Es ist unsere gemeinsame Sache, die Zukunft der FT in einem zunehmend von Wettbewerb geprägten Markt zu sichern, auf dem die alten Titel regelmäßig Erschütterungen durch neue Anbieter wie Google und LinkedIn und Twitter ausgesetzt sind. Die Marke FT, die für präzisen, zuverlässigen Journalismus steht, kann prosperieren, aber nur, wenn sie sich an die Anforderungen unserer Leser im Digital- und im Printbereich anpasst, der noch eine äußerst wichtige Quelle für Werbeeinnahmen ist.
Mein Besuch in Silicon Valley im letzten September hat mir das Tempo der Veränderung bestätigt. Unsere Wettbewerber nutzen Technologie, um das Nachrichtengeschäft durch Aggregation, Personalisierung und Social Media zu revolutionieren. Mobil allein macht jetzt z. B. 25 Prozent des gesamten digitalen Traffic der FT aus. Stillstand würde bedeuten, dass wir uns grob fahrlässig verhielten.
Natürlich müssen wir uns an die bewährten Methoden eines guten Journalismus halten: gründliche, ursprüngliche Berichterstattung auf der Grundlage mehrerer Quellen und ein waches Auge für die Exklusivmeldung. Wir müssen aber auch anerkennen, dass das Internet neue Wege und Plattformen für die umfassendere Vermittlung und Übertragung von Informationen bietet. Wir sind auf dem Weg von einem Nachrichtengeschäft zu einem vernetzten Geschäft.
Um die Beziehung zu unseren Lesern zu intensivieren, müssen wir unsere Investitionen und unsere Mitarbeiter intelligenter, ausgewogener und effizienter einsetzen. Deshalb schlagen wir vor, einige unserer Ressourcen von Nacht- auf Tagarbeit und von Print auf digital zu verlagern. Dies erfordert eine FT-weite Initiative, um unsere Journalisten so zu schulen, dass sie ihre Fähigkeiten bestmöglich nutzen. Und es erfordert entschiedene Führung.
Ich bin fest entschlossen, dass wir unser Allermöglichstes tun, um die Zukunft der FT als finanziell tragfähige Nachrichtenorganisation auf Weltniveau zu sichern. Unsere früheren Entscheidungen, Preise zu erhöhen, Gebühren für Content zu erheben und ein Abonnementsgeschäft aufzubauen, haben sich als klug und mutig erwiesen. Während viele unserer Rivalen sich abgemüht haben, ein profitables Geschäftsmodell zu finden, und deshalb schwere Arbeitsplatzverluste angekündigt haben, waren wir Industriepioniere. Dies ist nicht der Augenblick für zögerliches Handeln.
Natürlich ist Veränderung schmerzlich. Ich möchte Ihnen deshalb versichern, dass die folgenden Vorschläge genauestens überlegt und intensiv beraten wurden und dies auch weiterhin der Fall sein wird. Das gilt ebenfalls für unseren Wunsch, fair, ehrlich und transparent zu sein. Und wir treten jetzt in eine Beratung mit der National Union of Journalists und Mitarbeitern ein, um über die Zukunft der Financial Times und diese Vorschläge zu beraten, so dass wir im fairen und offenen Dialog den richtigen Weg nach vorn einschlagen können.
Zu Beginn möchte ich einige Punkte klarstellen.
Ich möchte unsere Auftragsvergabe verbessern, um selektiveren, relevanten, qualitativ hochwertigen Content zu produzieren.
Ich möchte Maßnahmen umsetzen, mit denen es der Zeitung erleichtert wird, die Arbeitsbelastung zu verringern und die für die Printausgabe aufgewendeten Ressourcen zu reduzieren. Diese umfassen:
1. Gemeinsame Anzeigenformen in allen Ausgaben – was unnütze Optimierung und Bearbeitung zwischen den einzelnen Ausgaben reduziert.
2. Eine stärker von Gemeinsamkeit geprägte internationale Ausgabe mit gemeinsamen Titelseiten und zweiten Titelseiten.
3. Mögliche Umstellung auf eine gemeinsame laufende Reihenfolge zwischen britischen und internationalen Ausgaben mit Weltnachrichten auf der Titelseite
4. Beschränkungen hinsichtlich der Anzahl der Veränderungen, die für die zweite US-Ausgabe verlangt werden.
5. Kürzung der dritten britischen Ausgabe.
6. Weitaus diszipliniertere Einhaltung der Lieferzeiten des Anzeigenmaterials und verbessere Vorausplanung
7. Ein Ende der „vielarmigen Auftragsvergabe“ – wir brauchen weniger Auftragsvergabekanäle. Ebenso müssen Nachrichtenredakteure Berichte, die Priorität haben, eindeutig kennzeichnen.
8. Straffere Kontrolle der Paginierung. Wir müssen sicherstellen, dass wir zuerst eine digitale Plattform und an zweiter Stelle eine Zeitung bedienen. Dies stellt eine große kulturelle Veränderung für die FT dar, die wahrscheinlich nur mit einer weiteren strukturellen Veränderung erreicht werden kann.
Wir müssen einen Weg finden, die Produktionsressourcen während der Nacht zu reduzieren und sie am Tag zu vergrößern; dieselben Ressourcen müssen auch zunehmend für das Web und weniger für die Zeitung aufgewendet werden.
Auf vereinigten Newsdesks müssen wir von Seitenredakteuren zu Content-Redakteuren werden. Wir müssen neu darüber nachdenken, wie, wann und in welcher Form wir unseren Content veröffentlichen, ob konventionelle Nachrichten, Blogs, Video oder Social Media.
In unserem britischen und internationalen Reporternetz müssen wir bestrebt sein, Menschen an der richtigen Stelle zu haben, die bereit sind, ihre Talente für die Bearbeitung der großen FT-Artikel einzubringen, und nicht Gefahr laufen, in ein Silodenken zu verfallen oder in bestimmten geografischen Regionen isoliert zu werden.
Pearson, die Muttergesellschaft der FT, steht fest hinter unserer Strategie und unserer geplanten Umwandlung und leistet finanzielle Unterstützung für die Umstrukturierung, die wir für das erste Quartal dieses Jahres planen.
Das geplante Programm für einen freiwilligen Stellenabbau wird uns helfen, unsere Strukturen neu zu gestalten und unsere Kosten im laufenden Jahr um 1,6 Mio. GBP zu senken. Nach unseren Schätzungen könnte dies in einer Nettoreduzierung der Mitarbeiterzahl um ca. 25 nach Einführung von 10 weiteren digitalen Jobs zum Ausdruck kommen, von denen wir einige bereits bewerben.
Mitarbeiter, die die Zeitung verlassen möchten, ermutigen wir zu diesem Schritt. Wir werden uns außerdem mit der NUJ über die weiteren Schritte beraten, die wir möglicherweise vorschlagen müssen, wenn das geplante Programm zum Stellenabbau nicht im erforderlichen Maße angenommen wird.
Schließlich werden wir 2013 online neue Produkte und Dienstleistungen einführen. Starten werden wir mit unseren „Fast FT“-Märkten und einer neuen App „Weekend FT“.
Dies wird uns allen Gelegenheit geben, intensiver über eine dynamischere und interaktivere Form des FT-Journalismus nachzudenken, die über das gedruckte Wort hinausgeht. Dies ist entscheidend, um die Beziehung zu unseren Lesern zu intensivieren und unser Abonnementsgeschäft aufzubauen.
Ich werde an Sitzungen mit Teamleitern teilnehmen, um diese Veränderungen zu erklären, mir Ihre Ideen anzuhören und Fragen zu beantworten. Inzwischen wird Redaktionsleiter James Lamont die Details des Programms zum freiwilligen Stellenabbau unterbreiten und sich umfassend mit Ihnen beraten.
Redaktionsassistenten und Teamleiter werden in groben Zügen über die Vorschläge informiert. Sie werden ihr Bestes tun, um Ihre Fragen zu beantworten und Ihnen ihre Unterstützung anzubieten. Während der gesamten Geschichte der FT haben wir großartige Fortschritte in einer im Wandel begriffenen Industrie erzielt. Sie haben eindrucksvolle Schritte unternommen, um die FT zu modernisieren, und ich bin zutiefst dankbar für Ihre Bereitschaft, sich Veränderungen anzupassen. Dies ist keine einfache Umstellung, aber wir sind gezwungen, die schwierigen Maßnahmen zu treffen, um die Zukunft der FT als eine der großartigsten Nachrichtenorganisationen der Welt zu sichern.
Und mit Ihrer Unterstützung in diesem 125. Jubiläumsjahr können wir dies erreichen und weiterhin das tun, was wir am besten machen: das Geschäft eines qualitativ hochwertigen Journalismus.
Das journalistische Grundgesetz des Respekts: Zehn Regeln (Respekt und Nähe, Teil 2)
Der kategorische Imperativ im Lokalen lautet: Respektiere Deine Leser! Das bedeutet nicht, jedem nach dem Munde zu reden. Die Maxime, die Luther nachgesagt wird, ist gut auf den Respekt zu übertragen: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund!
Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.
Hier der zweite Teil meines Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012; Teil 1 befasste sich mit der Berichterstattung zum Amoklauf in Erfurt vor zehn Jahren.
Die Leser der lokalen Zeitung verlangen nach Nähe, gerade weil ihnen die Globalisierung ungeheuer ist und diffuse Ängste auslöst. Die Welt ist für die meisten unbegreiflich.
Die Nähe schließt ein, dass Lokalredakteure über die Menschen, ihre Nachbarn, berichten. Das gelingt nur mit Respekt. Wer mit seinen Lesern lange und ernsthaft spricht, wird diesen Wunsch, ja diese Forderung immer wieder hören: Behandelt uns mit Respekt!
Dieser Respekt beginnt schon beim Machen der Zeitung:
• Die Leser wollen keine verspielten Überschriften, sondern verständliche – um schnell entscheiden zu können, ob sie einen Artikel lesen wollen oder nicht. Führt sie eine Überschrift in die Irre, protestieren sie: Die Redakteure nehmen uns nicht ernst!• Die Leser wollen eine verlässliche Ordnung in der Zeitung, um sich morgens leicht orientieren zu können. Irren sie durch die Zeitung, protestieren sie: Wir stehen eine halbe Stunde früher auf, um vor der Arbeit die Zeitung zu lesen – und nicht um in der Zeitung mühsam zu suchen, was für uns wichtig ist!
• Die Leser wollen ihren Platz in der Zeitung einnehmen, buchstäblich. Sie fordern unmissverständlich: Lasst uns mitreden! Gebt uns Raum genug, um uns artikulieren zu können – auch wenn es denen oben nicht gefällt!
Noch genauer als „Nähe“ kennzeichnet „Respekt“ die ethische Haltung
eines Lokalredakteurs. Der kategorische Imperativ im Lokalen lautet: Respektiere Deine Leser! Das bedeutet nicht, jedem nach dem Munde zu reden. Die Maxime, die Luther nachgesagt wird, ist gut auf den Respekt zu übertragen: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund!So ist dieser Entwurf eines Grundgesetzes des Respekts zu verstehen, zu debattieren in den Lokalredaktionen und in allen Leserzirkeln:
1. Respektiere unsere Verfassung, die verlangt: Schreibt alles unverzüglich, glaubwürdig und unbeeinflusst, was die Bürger in einer Demokratie brauchen, um mitwirken zu können.
2. Respektiere unsere Demokratie, deren Fundament die Kontrolle der Macht und der Mächtigen bildet. Fürchte nicht den Unmut der Mächtigen, wenn sie in ihrem Tun genau beobachtet werden; weiche nicht zurück vor ihrem Zorn, wenn sie ertappt werden; meide aber auch die Umarmung und zu große Nähe, die verführen und korrumpieren kann. Warte nicht darauf, dass die Nachrichten kommen, sondern grabe tief nach den Nachrichten, vor allem denen, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollen.
3. Respektiere aber auch die Integrität der Mächtigen, die – wie jeder andere – Anspruch auf Fairness haben, also gründliche Recherche, das Recht zur Stellungnahme, Unterscheidung von Nachricht und Meinung sowie Achtung vor ihrem Privatleben.
4. Respektiere die professionellen Regeln – also Achtung vor der Wahrheit, Wahrung der Menschenwürde und wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit -, so wie sie im Pressekodex formuliert sind und vom Presserat kontrolliert werden.
5. Respektiere die Leser mit ihrem Anspruch, verständlich und umfassend informiert zu werden.
6. Respektiere den Wunsch der Leser, in ihrem Staat mitreden und mitwirken zu wollen. Ermutige die Bürger dazu – das ist das Gute, das jeder Journalist tun sollte. Räume den Lesern ausreichend Raum für ihre Meinungen, Anregungen und Kritik ein; verhindere keine Debatten, sondern rege sie an.
7. Respektiere den Wunsch der Leser, auch die Medien und die Redakteure kritisieren und kontrollieren zu wollen. Sei nicht der Oberlehrer, sondern der Partner und Treuhänder der Leser.
8. Respektiere die Gefühle der Leser, wenn Trauer und Leid über sie kommt. Respektiere ihre Weigerung, mit Journalisten zu sprechen und ihr Gesicht zu zeigen. Zerre nichts in die Öffentlichkeit, was ihr Leid, auch verschuldetes, noch leidvoller macht.
9. Respektiere die Ahnungslosigkeit von unerfahrenen Lesern, die oft weder die Wirkung ihrer Zitate noch die Tragweite ihres Handelns richtig einschätzen können.
10. Respektiere nicht nur die Leidenschaft der Menschen für ihre Heimat, sondern teile sie mit ihnen. Pflege eine kritische Nähe, die den Lesern zeigt: Es ist gut, hier zu leben, aber wir kritisieren, damit es noch besser wird.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 Der neue Lokaljournalismus + 48-49 Ethik + 53 Was die Leser wollen)
Respekt und Nähe – am Beispiel des Amoklaufs in Erfurt
Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs (am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt), auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe.
Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.
Hier mein Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012 (1. Teil):
Ein 19jähriger ermordet im April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und tötet sich am Ende selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle Erfurter.
Wer einen Angehörigen verloren hat, einen Freund oder Bekannten, der ringt um Fassung, manche verlieren sie. Sie wollen nur noch schweigen angesichts des Unbegreiflichen. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht, oder jeden Film, der im Fernsehen läuft.
Die Redakteure in der Lokalredaktion können nicht schweigen – auch wenn einige überwältigt sind, weil sie Angehörige oder Freunde verloren haben. Es gibt keinen in der Redaktion, der das Gymnasium nicht kennt, sei es von der eigenen Schulzeit her, sei es von Terminen, um vom „Gutenberg“ zu berichten:
Wie sollen die Redakteure berichten?
Was sollen sie erwähnen?
Welche Sprache ist angemessen?
Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen?
Das Wort verweist auf eine spontane Tat statt auf einen lang geplanten Mord. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.Auch wenn für die Angehörigen Schweigen die beste Lösung wäre, so wiegt schwerer der Anspruch der Bürger, zu erfahren, was wirklich geschehen ist. In einer Gesellschaft, in der unzählige Medien unaufhörlich berichten, ist das Schweigen keine Alternative.
Es ist und war immer schon Aufgabe von Journalisten. die Wahrheit herauszufinden – auch um Legenden vorzubeugen und Agitatoren die Chance zu verwehren, aufzuwiegeln und die Trauer in Hass und Wut zu verwandeln. Zur Wahrheit gibt es keine Alternative.
Die Gesellschaft, als die Gemeinschaft der Bürger, muss versuchen, eine solche Tat zu verstehen – zum einen um Vorsorge zu treffen, wie künftig solch ein Amoklauf zu verhindern ist; zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.
Die Gesellschaft muss verstehen, um handeln zu können. Aber wie sollen Redakteure berichten? Recht einfach ist die Frage zu beantworten: Wie sollen sie nicht berichten.
Reporter haben in Erfurt die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen, haben Fotos von den Opfern aus den Kränzen am Sarg gestohlen. Sie haben Menschen, die bei sich bleiben wollen, selbst bei der kirchlichen Trauerfeier in die Öffentlichkeit gezerrt – als wären es Superstars oder Prominente, die die Kameras suchen; dabei waren diese Menschen gegen ihren Willen und gegen ihren Lebensplan in ein Unglück gestürzt, das der Verstand nicht fassen kann und das die Seele verdunkelt.
Die Menschen können zwischen den Zeilen lesen: Ihnen reicht die Andeutung, die Beschreibung durch Worte, um sich selbst eine Vorstellung von der Verzweiflung machen zu machen. Worte sind kühler, glaubhafter, menschlicher als Fotos, weil sie dem Leser die Chance bieten, sich selber ein Bild malen zu können. Worte, klug gewählt, fördern das Verstehen; Fotos können das Verstehen verstellen.
Wenn die Redaktion erklärt, dass viele der Trauernden nicht sprechen wollen – und dass die Redaktion dies akzeptiert, dann akzeptieren es auch die meisten Leser. Man lässt seine Nachbarn in Ruhe trauern, das ist seit altersher eine menschliche Regung.
Die Menschen können auch hinter die Bilder schauen: Sie brauchen keine verzweifelten Gesichter; ihr Mitgefühl ist so groß, dass ihnen Andeutungen und Gesten reichen, um sich die Trauer in den Augen der Angehörigen vorstellen zu können. Sie müssen nicht Bilder von verweinten Augen sehen, um mit den Menschen zu leiden.
Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen; Erfurter haben Journalisten beschimpft, bespuckt, mit Steinen beworfen, wenn sie Jagd machten nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen.
Dass diese Kritik auch in den Medien selber diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und, man möchte hoffen, Journalisten auch lernfähig. Doch als 2009 ein 17jähriger in Winnenden fünfzehn Menschen ermordete, drehten Journalisten auf der Jagd nach der Sensation wieder durch – als hätten sie nichts gelernt aus der massiven Kritik nach dem Amoklauf in Erfurt.
Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs, auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe:
• Auch Lokaljournalisten brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von Emotionen übermannen zu lassen und um Verantwortung zu klären.
• Lokaljournalisten brauchen Nähe, um mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, um Unerklärliches doch erklären zu können und sei es bruchstückhaft.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
„Taschendiebinnen“, die Sprache und der Sexismus
Frage der Drehscheibe:
Gibt es in der Redaktion Regeln zum nicht-sexistischen Sprachgebrauch, zum Beispiel was männliche und weibliche Schreibweisen betrifft? Wenn ja, wie sehen diese Regeln aus?
Meine Antwort:
Die Debatte um das große I, um Diskriminierung in der Sprache, führen wir schon lange in der TA, zum Beispiel in der Kolumne „Friedhof der Wörter“. Im November begann die Kolumne so:
„Frauen sind die Benachteiligung leid, lehnen sich dagegen auf und erregen sich über die Sprache, die überwiegend männlich geprägt ist. Warum nur sind der Gott und der Mensch männlich?“
Zitiert wird dann aus einem Infobrief der Erfurter „Linke“: „Ein Parallelität zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht (Genus und Sexus) besteht nicht.“
Und die Kolumne endet: „Zudem ist unsere Sprache ungerecht auch zu den Männern: Warum ist die Brüderlichkeit weiblich und der Hampelmann männlich? Die Liebe weiblich und der Hass männlich? Der Verbrecher männlich, auch der Sündenbock und der Taschendieb – oder haben Sie schon einmal gelesen: Vor Taschendieben und Taschendiebinnen wird gewarnt?“
Es ist Unsinn, die Debatte um den „Sprachgebrauch“ in die „sexistische“ Ecke zu stellen. Das ist zu viel Ehre für Herrn Brüderle.
Chefredakteur in Thüringen über Sexismus: „Küsschen, Küsschen“
Hans Hoffmeister, Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) , hat in seiner Samstag-Kolumne einige Fälle von Sexismus geschildert, so die aufdringliche Annäherung eines Manager:
Ein namhafter Kaufhaus-Boss schickte seine eigene Ehefrau vor, um eine TLZ-Redakteurin fragen zu lassen, ob sie mit ihm schlafen wolle. Als es rauskam, schenkte er ihrem Mann ein Gummibärchen.
Hoffmeister erzählt auch vom Auftritt Dieter Althaus‘, Ex-Ministerpräsident in Thüringen, bei einem CDU-Landes-Parteitag in Eisenach, „wo er dem vorn neben ihm sitzenden Silvergirl so überschwänglich für die gute Organisation dankte, dass die ganze wahrscheinlich schon bierselige Männerhorde im Saal ,Küsschen, Küsschen‘ grölte, worauf er sie schnappte und ihr tatsächlich einen langen, scharfen Kuss verpasste. Zum Gaudi der Gemeinschaft.“
In der TLZ gibt Hoffmeister auch „Verhaltensmaßregeln“, wie sie für seine Redakteurinnen gelten:
An der Bar, immer schon Ort der Kontaktanbahnung dieser oder jener Art, kann eine Frau bei verbalen Übergriffen, bei Grenzüberschreitungen, drei Schritte zurücktreten, den Politiker zu einem Kurzgespräch unter vier Augen zur Seite bitten und gesichtswahrend Klarheit schaffen.
**
Das komplette „Schlüsselloch“ der THÜRINGISCHE LANDESZEITUNG vom 29. Januar .2013:
Patriarch hat ausgedient
Die Debatte um den Sexismus und der Blick zurück
Von Hans Hoffmeister
Haben wir in Thüringen mit dieser Debatte was zu tun? Aber ja! Seit etwa einer Woche geht es hin und her um die Äußerung des Spitzenpolitikers Rainer Brüderle, des Gesichts der FDP , gegenüber einer Redakteurin. Thema war des nachts an der Bar deren Körbchengröße, also das, was man gemeinhin Zoten-Inkontinenz nennt.
Durfte der das? War das eine Äußerung noch im Grenzbereich, nämlich um genau zu sein, dass die Oberweite der Dame in einem Dirndl durchaus Platz hätte? Worauf sie sich wohl sehr sachlich wehrte und er, der ihr auch noch eine Tanzkarte verkaufen wollte, offenbar nicht aufhören mochte.
Ein Jahr später hat sies nun enthüllt, nachdem Brüderle, inzwischen allenthalben ein ältlicher und faltiger Dödelgescholten, bei der notleidenden FDP als die große Nummer bestätigt wurde. Da sei die Frage erlaubt: Ist das nicht eigentlich dann auch so etwas wie Altersdiskriminierung?
Ist es angemessen, dass Parteifreund Wolfgang Kubicki (auch) ein solches Gespräch für vertraulich und somit geschützt, dazu noch für natürlich erklärt? Dass die FDP ansonsten tagelang gar nichts dazu zu sagen hat? Nur Silvana Koch-Mehrin, die langjährige FDP-Frau für Europa, blond und schön, aber leider vom Blitzstrahl der Plagiatsvorwürfe schwer getroffen, sprach Klartext:
Die FDP ist das Schlusslicht, wenn es darum geht, Gleichberechtigung in der eigenen Partei zu leben.
Ja, natürlich haben wir auch hier zu Lande mit dem Thema was zu tun. Was gab s nicht alles an Machotum. Wir erinnern uns dabei zuerst an die gängige Christinchen -Herabsetzung von Frau Lieberknecht, die Bernhard Vogel eingeführt hatte.
Wir erinnern uns an die in der TLZ wiederholt so genannte Erfurter Bussi-Gesellschaft, die vielen angejahrten Herren aus diesen zahlreichen Klubs, die zeitweise von der Umgebung jüngerer, fröhlicher Frauen halböffentlich so angetan waren, dass die Ehefrauen gar einen Umgangsboykott ausriefen. Wo ein jahrelang in vorderster Front agierender, ansonsten tadelloser, namhafter, hochrenommierter Kaufhaus-Boss seine eigene Ehefrau vorschickte, um eine TLZ-Redakteurin fragen zu lassen, ob sie mit ihm schlafen wolle. Als es rauskam, schenkte er ihrem Mann ein Gummibärchen…
Wo sich erst spät und zögerlich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass solche und andere Nummern gar nicht gehen.
Wir erinnern uns an den Auftritt des (wow!) Dieter Althaus bei einem kleinen CDU-Parteitag in Eisenach, wo er dem vorn neben ihm sitzenden Silvergirl so überschwänglich für die gute Organisation dankte, dass die ganze wahrscheinlich schon bierselige Männerhorde im Saal
Küsschen, Küsschen grölte, worauf er sie schnappte und ihr tatsächlich einen langen, scharfen Kuss verpasste. Zum Gaudi der Gemeinschaft.Was ihm dennoch schlecht bekommen sollte: Im Eichsfeld sprach sich das rum, und dort mögen sie das schon gar nicht. Schließlich schoss ein Gerücht ins Kraut und schlug immer weitere Wellen, so dass er es auf einerBild -Titelseite meinte dementieren zu müssen. Das war natürlich die denkbar beste Weiterverbreitung eben dieses Gerüchts…
Hang zum Weiblichen (und umgekehrt) hat immer sehr die Fantasie zu Nachwendezeiten beschäftigt. Das Image half ihm und der CDU politisch: so ein dynamischer, sportlicher, gesunder,jungenhafter Politiker… Doch er vermochte es nie, richtig glaubwürdig die Grenze zu ziehen. Er hatte einfach keine Idee davon.
Wobei: Dass Redakteurinnen (und Redakteure) auch gern neben Politikern Platz nahmen, sich so gar geehrt fühlten, das kann man sich heute eigentlich gar nicht mehr in dieser Art vorstellen. Aber das gab’s.
Und noch immer nutzten diesen Wunsch nach Nähe zur Macht nicht nurPolitiker, sondern auch schon mal Wirtschaftsführer aus. Der eine verschenkte ein Kompliment: Sie ist aber auch eine angenehme Erscheinung gegen den Preis zurückwirkender Nettigkeit . Der andere schenkte einer anderen ein Osterei gegen den Preis eines (hoffentlich) genehmen Interviews. Welche Redakteurin (und welcher Redakteur) hat so etwas noch nicht erlebt?
Wenn die Frontfrau Zimmermann, früher FAZ, später Mitteldeutsche Zeitung, in der damals üblichen nächtlichen Chefredakteursrunde des Ministerpräsidenten neben Bernhard Vogel Platz nehmen durfte (auf der anderen Seite neben IHM saß der Frauen-Freund MDR-Landesfunkhaus-Direktor Kurt Morneweg), dann platzte sie schier vor Ego und belehrte die Runde im Wettbewerb mit TA-Lochthofen den ganzen Abend über.
Vogel brauchte eigentlich kaum noch was zu sagen: Morneweg vollendete sonor und klug seine halben Sätze, und Zimmermann spielte stacheldrahtig die CDU-Agitatorin. Und Regierungssprecher Hans Kaiser hatte stets mit erhobenem Kinn die Übersicht über das Agitationsprogramm, während sein Auge mit Wohlgefallen auf der Szene ruhte. Zeiten waren das! Die Zeiten sind vorüber.
Heute halten längst Frauen (und Männer) zumal in der Zeitungsbranche
Abstand. Regierungs-, Minister- oder sonstige Sprecher (es soll von ihnen um die 200 in Thüringen geben), die tatsächlich und dennoch Einflusszonen für ihre Chefs zu schaffen versuchen, sind entweder blöd oder sollten ihren Job wechseln. Oder beides.Vogels stets angestrebte Übernähe wurde schon damals jedenfalls von der TLZ als übel empfunden. Denn Übernähe hatte den Preis mehr oder weniger verdeckter Forderungen, und seien es nur gefällige Kommentare, Erwartungen, die natürlich kaum je erfüllt wurden. Mit der Folge von Verärgerung und Abstrafung im Gegenzug. Ein normaler Machtkampf, mochte man meinen. Doch normal war das nicht.
Heute können sich Frauen wehren. Damals ging das nicht immer. Schnell stand sie als Zicke oder blaustrumpfige Altjungfer in der Ecke.
Was sollte die TLZ-Redakteurin tun, der der Jenaer Mitarbeiter der Net-Zeitung ein Verhältnis mit dem Thüringer Kulturstaatssekretär und Weimarer Ex-Unirektor andichtete, was schnell die ganze Stadt und das halbe Land wussten? Es handelte sich um eine simple Verwechslung. Was partout nicht zu vermitteln war, man hätte denn den Althaus gemacht und per Dementi das Gerücht noch weiter verbreitet.
Klar, sie müsste klagen! Das tat sie. Doch die Pressekammer des Landgerichts war ähnlich hilflos wie heute noch immer, wenn es um Schmähungen im Netz geht: So sexistisch Beschuldigte können sich schon juristisch kaum durchsetzen. Die Verhandlung ging so: Der Richter fragte, wo denn der Schaden sei? Wie viele Klicks? Sie hatte plötzlich die Beweislast für die Folgen eines Gerüchts, dessen Opfer sie doch war und das längst durch aller Munde ging. Und sie verlor tatsächlich das Gerichtsverfahren. Am Ende durfte sie auch noch die Rechnung bezahlen.
Doch es gilt auch dies: An der Bar, immer schon Ort der Kontaktanbahnung dieser oder jener Art, kann eine Frau bei verbalen Übergriffen, bei Grenzüberschreitungen, drei Schritte zurücktreten, den Politiker zu einem Kurzgespräch unter vier Augen zur Seite bitten und gesichtswahrend
Klarheit schaffen. Sich Notizen zu machen und ein Jahr später rachedurstig zu versuchen, den mittlerweile zum mutmaßlichen FDP-Retter Aufgestiegenen aus dem Amt zu kegeln, das hat ein zusätzliches Geschmäckle.Nicht minder ein Geschmäckle hat es, wenn jüngere Menschen ältere pauschal alstüdelig bis notgeil bezeichnen und sie des notorischen Heranwanzens an junge Dinger bezichtigen.
Eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau, die vielleicht seine Führungs-, seine Formulierungsstärke, seine Erfahrung, seine analytische Kraft, seine Bedachtsamkeit, seinen ausgeprägten Schutzinstinkt und vielleicht auch das graue Haar schätzt siehe Franz Müntefering, Peter Röhlinger oder Willy Brandt ist so selten nicht. Alte Männer haben was, das weiß man doch!
Und es ist meist mit einem großen Glück verbunden, wenn solch einem Mann so eine 15 Jahre, vielleicht noch jüngere Frau, die auch noch lächeln kann, an seinem Lebensabend beschert wird. Sich über solches Glück zu erheben, hat auch etwas Diskriminierendes. Zwischen Männern und Frauen hat sich das Verhältnis in den vergangenen Jahren grundlegend geändert.
Der Patriarch, dessen Großvater noch mit Pickelhaube ging, der Prinzipal mit Gönnertum, wird heute präpotent und breitbeinig gescholten. Er ist out. Es ist gut und richtig, dass dies bei Gelegenheit des Rainer Brüderle nochmals in der aktuellen, überraschend breiten, neuerlichen Aufschrei-Debatte wieder einmal öffentlich vorgeführt und betrieben wird. Sie hält uns, den Herren über 60, zu Recht den Spiegel vor.
Wie Leser mit Facebook & Co den Redakteuren helfen
Lars Wienand (38), Social-Media-Redakteur der Rhein-Zeitung, gibt in einem Interview mit „istlokal.de“ Beispiele, wie Leser den Redakteuren helfen können mit Themen-Anregungen, Nachrichten und Meinungen, Bildern und Videos:
1. Videos von einem eindrucksvollen Unwetter kamen von Lesern; ein Drittel der Videos hatte die Redaktion allerdings auch selber im Netz gefunden.
2. Fünf Minuten nach der Meldung „Tankstellen verlangen jetzt Geld für Luft in Reifen“ hatten Leser zwei Fälle von Tankstellen im Verbreitungsgebiet gemeldet. Wienand: „Die Suche wäre ohne diese Hilfe wohl sehr mühsam gewesen. Das zeigt, dass Social Media nicht nur Arbeit, sondern auch Arbeitserleichterung bedeuten kann.“
3. Ein Dutzend Leser meldeten sich, als die Koblenzer Lokalredaktion der Rhein-Zeitung per Tweet erfahren wollte, wie Amazon mit seinen Beschäftigen umgeht.Nach dem Artikel in derZeitung meldeten sich auch zufriedene Amazon-Mitarbeiter.
4. Auf den Tweet der Kollision eines Autos mit einem Traktor reagiert eine Leserin: Ist die mehrspurige Straße überhaupt für Traktoren zugelassen? Die Redaktion postet die Frage bei Facebook und fragt gleichzeitig bei der Polizei. Doch auf die Antwort der Polizei, der Traktor dürfe nicht fahren, reagiert ein Fahrlehrer: Die Polizei irrt. Die Redaktion ruft noch einmal bei der Polizei an, korrigiert den Text und macht den Ablauf transparent. Lars Wienand: „Der Zugriff auf das Informationsbedürfnis (Dürfen da Traktoren fahren?) und die Expertise (Auskunft der Polizei ist falsch!) vieler Quellen macht uns besser. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Es nimmt auch die Zahl der Hinweise zu, die sich interessant anhören, sich aber bei Nachfragen in Luft auflösen.“
5. Auf „Google+“ können Leser Bilder posten, etwa bei einem Hochwasser, aber auch die schönsten „Sonnenuntergänge“.
Lars Wienand nennt als Regeln, wie genau man Leser-Reaktionen überprüfen muss, dieselben Regeln, die schon immer im Journalismus galten:
Wenn es ein leichtes Erdbeben gab, dann taugt auch die Dame, die sagt, dass ihr Hund eine halbe Stunde vorher bereits verrückt gespielt hat, für einen Satz – ohne weitere Überprüfung. Wenn aber eine Frau berichten will, dass ihr Nachbar ihr von unhaltbaren skandalösen Zuständen bei Amazon erzählt hat, dann bitten wir sie um Verständnis, dass wir das schon vom Nachbarn selbst hören möchten. Mit dem Gewicht einer Nachricht oder von Vorwürfen wachsen auch die Anforderungen an die Quelle und der Aufwand, die Glaubwürdigkeit zu checken.
Wenn Gott promoviert (Friedhof der Wörter zur Schavan-Affäre)
Wer in die Geschichte der Wörter schaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Nehmen wir ein Wort, das in der Schavan-Affäre die zentrale Rolle spielt: Promovieren.
Hat die Ministerin promoviert? Oder wurde sie promoviert?
Das ist nicht nur eine Frage für Fachleute, die transitive Verben untersuchen, sondern auch eine Frage der Moral:
- Hat die Ministerin promoviert, also selber den Doktor-Titel erlangt? Dann trägt sie allein die Verantwortung.
- Wurde sie promoviert? Dann ist die Verantwortung zumindest geteilt: Wer jemanden promoviert, muss prüfen, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist – Abschreiben inklusive.
„Promovieren“ taucht in der deutschen Sprache vor einem halben Jahrtausend auf und wird aus dem Lateinischen entlehnt, man dürfte auch sagen: abgeschrieben. In ihrem Wörterbuch erklären die Brüder Grimm: „Einen oder etwas weiter, vorwärts bringen, fördern, befördern.“
Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Worts: Jemanden nach vorne bringen – also beispielsweise mit einem Doktortitel.
Die Förderer müssen keine Professoren sein, auch Gott kann förderlich sein. Diesen Satz fanden die Brüder Grimm bei Abraham a Santa Clara, einem berühmten Volksdichter im 17. Jahrhundert:
„Gott wird uns nicht verlassen, sondern unsere Waffen mit seinen göttlichen Segen promovieren.“
Wer historisch korrekt sein will, lässt also promovieren: Gott oder Professoren samt einer kompletten Fakultät. Unter solch mächtigen Instanzen erscheint ein armer Sünder oder eine arme Studentin doch eher klein.
Thüringer Allgemeine, geplant für 11. Februar 2013
Wann beginnt journalistisches Kesseltreiben gegen Politiker?
Manchmal irritiert mich die Selbstgerechtigkeit unserer Zunft: Zu viele klopfen sich auf die Schultern, ja rühmen sich, die Ministerin Schavan fertig gemacht zu haben. Ist es Aufgabe von Journalisten, Politik zu machen, Minister zu stürzen?
Sicher haben Journalisten Macht, vor allem die Macht und die Pflicht, zu recherchieren und den Mächtigen auf die Finger zu schauen und zu klopfen. Wir schreiben im Handbuch dazu im Kapitel „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“:
Über Verfehlungen von Politikern lässt sich sagen: Die Presse hat so viele aufgedeckt, dass vermutlich kein hohes Risiko besteht, Verstöße gegen das Recht oder den politischen Ehrenkodex könnten lange unter der Decke bleiben. Zuweilen scheint eher die umgekehrte Sorge berechtigt: dass ihre Macht einige einflussreiche Journalisten dazu verführt, gegen einen Politiker auch wegen einer Lappalie ein Kesseltreiben zu veranstalten.
Ein Kesseltreiben beginnt, wenn
– die Verfehlung nicht ausreichend recherchiert ist (etwa im Fall Schavan: Warum lässt die Uni Düsseldorf keinen externen Gutachten zu? Warum hat die Universität vor Jahrzehnten nicht ausreichend bei der Promotion geprüft?)
– die Verfehlung lange zurückliegt.
Dazu mein Leitartikel zum Schavan-Rücktritt, geplant für die Thüringer Allgemeine 11. Februar 2013 mit dem Titel „Die Gnade des Vergessens“:
Wissen Sie noch, welche Dummheiten Sie mit 25 gemacht haben?
Joschka Fischer zum Beispiel gehörte der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ an, die Gewalt als Mittel der Politik gutheißt; er marschierte bei Demonstrationen mit, die in Straßenschlachten endeten.
Joschka Fischer wurde Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Annette Schavan war eine fromme junge Frau, die auch Theologie studierte, mit 25 Jahren promoviert wurde mit einem Thema über die Bildung des Gewissens; danach wählte sie katholische Bischöfe zu ihren Arbeitgebern.
Annette Schavan wurde auch Ministerin der Bundesrepublik; sie trat am Sonntag zurück, weil sie mit 25 nicht gewissenhaft gearbeitet haben soll.
Das sind zwei Politiker-Schicksale in Deutschland zu einer Frage, die nicht nur in der Politik gestellt wird: Wie lange dürfen uns unsere Fehler vorgeworfen werden? Wann soll, ja muss das Vergessen beginnen?
Das Bürgerliche-Gesetzbuch nennt als Frist für Verjährung drei Jahre; es gibt einige Ausnahmen. Diese Frist ist vor einem Jahrzehnt radikal verkürzt worden – um aus einer rachsüchtigen Gesellschaft eine tolerante zu machen.
Im Strafrecht darf ein Totschläger nach zwanzig Jahren mit Verjährung rechnen; nur wer mordet, ist von der Gnade des Vergessens ausgeschlossen.
So weit sind unsere Gesetze. Wie weit sind wir, die Bürger eines freien Landes? Müssen wir die Kunst des Vergessens noch lernen?
(zu: Handbuch-Kapitel 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht + 48-49 Presserecht und Ethik)
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?