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Was interessierte die Deutschen 2012 mehr: Dirk Bach oder die Finanzkrise?

Geschrieben am 29. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Was und wer interessierte die Deutschen am meisten? Genauer als jede teure Meinungsumfrage zeigt es der „Google-Zeitgeist“, die Rangliste der am meisten gesuchten Stichworte in diesem Jahr.

Diese Rangliste ist Grundlage für mein Editorial, geplant für die Silvesterausgabe der Thüringer Allgemeine:

 

Den Revolutionen geht die Freiheit aus

Die Welt in Unruhe – doch die Deutschen interessierten diese Themen 2012 am meisten: Fußball und Olympia, Bettina Wulff, ein Fallschirmsprung vom Rand der Welt und das neue I-Pad

Es geht uns gut in Deutschland, ja: Es geht uns gut. Sicher wird bei einigen Zeitgenossen die Zornes-Ader schwellen, wenn sie dies lesen. Sie werden zu Recht auf die Schwächen hinweisen, auf Skandalöses in einem wohlhabenden Land wie die Armut, die zu viele Kinder trifft, oder das Versagen der Geheimdienste, die rechte Terroristen jahrelang morden ließen.

Wie können wir messen, ob es einer Gesellschaft gut geht? Der beste Maßstab ist der Vergleich: In einer unruhigen Welt ist Deutschland ein Ruheraum.

Bei uns herrscht nicht einmal eine Wechselstimmung: Bei aller Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien, trotz Präsidentenwechsel im Jahrestakt, Finanzkrise und Unmut über große Banken neigen die meisten Deutschen zum Gleichmut.

Während die einen seit Jahren großes Unheil vorhersagen, gar den Zusammenbruch in Europa menetekeln, bleibt die Mehrheit ruhig und widmet sich anderen Themen. Was interessierte die Deutschen in diesem Jahr?

Die Rangliste der Themen, die 2012 millionenfach im Internet gesucht wurden, darf als gigantische Meinungsumfrage gelten, als der Trend schlechthin. Auf den ersten vier Plätzen stehen:

• Zwei große Sportereignisse: voran die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, bei der die Deutschen wieder den Titel verpassten; auf dem dritten Rang die Olympischen Spiele in London, in der sonst kühle Engländer ein Sommermärchen inszenierten und Deutschland nicht nur 44 Medaillen holte, sondern eine Sportart feierte, die zuvor kaum jemand kannte: Beach-Volleyball, das überaus spannende Spiel im Sand.

• Dazwischen schiebt sich der Tod eines Komikers: Dirk Bach, gerade mal 51 Jahre alt, starb einsam in einem Berliner Hotel; das Herz, das plötzlich versagt hatte, bewegt die Menschen mehr als alle anderen nationalen Ereignisse.

•  Ein nahezu unbekannter Österreicher und sein Sprung vom Rand der Welt nimmt den vierten Rang ein: Felix Baumgartner ließ sich 39.045 Meter hoch fliegen, wo  es keine Luft mehr zum Atmen gibt, und sprang – buchstäblich atemberaubend – auf die Erde zurück.

Politik auf den ersten zehn Rängen? Nichts, einmal abgesehen von Bettina Wulff, bis zum Februar Deutschland Erste Dame, bei der die meisten Anfragen aber nicht ihrem Wirken galt, sondern einem Gerücht – das millionenfach online verbreitet wurde, sich dadurch wie eine Wahrheit las und das doppelte Gesicht der Internets offen legte.

Wirtschaft auf  den ersten zehn Rängen? Keine Finanzkrise, kein Banken-Skandal, keine Ratingagentur – sondern zwei Produkte, das Samsung-Smartphone und das neue I-Pad von Apple.

Um uns herum die Welt ist meist unruhig. Einige Jahr lang feierten wir den Triumph von Freiheit und Demokratie und das Ende der Diktatoren. Wir gaben diesen Revolution einen schönen Namen: Der arabische Frühling – und wir dachten an eine Idylle, wie wir sie von unseren Reisen in die Sonne kennen.

Doch in der Welt ist kein Frühling ausgebrochen, sondern der Herbst der Revolutionen:

• In Syrien tobt der Bürgerkrieg, und so recht traut kaum jemand den Aufständischen zu, dass sie Freiheit und Gleichheit etablieren werden.

• Im Jemen gilt die Scharia, die Gesetze-Sammlung nach islamischem Recht wie etwa das Verschleierungs-Gebot für Frauen; in Ägypten soll sie etabliert werden.

• In Tunesien gilt offiziell nicht die Scharia, aber die herrschenden Islamisten dulden Verfolgung im Namen der Scharia.

• Palästina ist gespalten, wobei sich keines der befeindeten Lager als Vorhut der Freiheit versteht.

• Der Iran hatte den persischen Diktator verjagt, aber nach der islamischen Revolution einen neuen Unterdrückungs-Staat aufgebaut mit Geheimpolizei und Steinigungen; heute droht das Land mit Atombomben, die nicht nur Israel vernichten, sondern auch  Ziele in Westeuropa treffen könnten.

• Der Irak ist nicht befreit, die Emirate wehren jede Revolution ebenso ab wie Saudi-Arabien.

In diesen und vielen anderen Ländern spielt die Religion eine große Rolle, auch bei Menschen, die gegen die Unterdrückung kämpfen. Wir können uns im aufgeklärten Deutschland, vor allem im weitgehend religionsfreien Osten, nicht mehr vorstellen, wie sich Gott und seine Vertreter auf  Erden in die Ordnung der Gesellschaft einmischen – und dies von der Mehrheit der Menschen bejaht wird.

Wir verstehen diese Welt nicht mehr, obwohl wir Weltmeister im Verreisen sind – und die Welt versteht uns oft nicht mehr.

Dabei heißt „verstehen“ nicht: gut heißen oder gar akzeptieren. Aber wer nicht verstehen will, verliert zu schnell den Respekt vor dem anderen, dem Fremden.

Auch auf anderen Kontinenten herrscht mehr Unterdrückung als Freiheit, auch im wirtschaftlich aufstrebenden China, das jährlich Tausende von Aufständen unterdrückt.

Russland hat die Revolution von 1990 längst verraten: Das Land ist von einem Rechts- und Freiheitstaat so weit entfernt wie Pussy Riot von Putin. Undsoweiter

Selbst in Westeuropa, in einer der besten Demokratien der Welt, zerfleddern die ersten Freiheits-Fahnen der Revolution: Ungarn nähert sich ungeniert einer Ein-Parteien-Herrschaft, der Balkan kommt erst gar nicht zu Ruhe.

Und ist es ein Zufall, dass Spanien und Griechenland Europa ins Wanken bringen – zwei Länder, in denen die Menschen noch nach dem Zweiten Weltkrieg Diktatoren erleiden mussten?

Es scheint ein Gesetz der Geschichte zu sein, dass auf Revolutionen die Konterrevolutionen folgen. In der Tat ist es wohl leichter, die Freiheit zu zerstören, als sie mühsam aufzubauen. Die nachrevolutionären Wirren der Welt zeigen nicht mehr Bilder von Frauen, die unverschleiert Rosen in Gewehrläufe stecken, sondern zerfetzte Leiber von Kindern und Flüchtlingslager. Revolutionen sind keine Jahreszeiten: Es gibt keinen Frühling und keinen Winter, es gibt nur Freiheit, die Menschen erkämpfen – immer wieder.

Vielleicht lohnt ein Gedanke, ein dankbarer Gedanke, dass Deutschland seine friedliche Revolution nicht verraten hat – bei aller Ungleichheit, die noch herrscht, bei allen Missverständnissen und Vorurteilen, die östlich wie westlich wabern.

Deutschland ist ein friedliches Land, ein ruhiges Land, in dem der Tod eines Komikers mehr erregt als ein Bürgerkrieg, gerade mal vier Flugstunden von uns entfernt.

(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen + 5 Die Internet-Revolution)

Wie viele gibt es, die Journalismus als Berufung sehen?

Geschrieben am 28. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Max Brods „Prager Tagblatt – Roman einer Redaktion“ ist eines der schönen Geschenke zu Weihnachten. Ein guter Kollege schickte mir das längst vergriffene Buch mit den Zeilen:

Das Buch behandelt die redaktionellen Zustände in der ,guten alten Zeit‘, als Redakteure Besessene waren, die keinen Feierabend kannten und sich mit Haut und Haaren dem Journalismus verschrieben haben.

In meinem Dank für das Geschenk formulierte ich meine Hoffnung:

Ich kenne Brods „Prager Tagblatt“ in der Tat noch nicht. Aber ich hoffe, dass ich in Brod einen Vorfahren aller Redakteure entdecke, die sich auch heute noch  mit Haut und Haaren dem Journalismus verschreiben.

Ja, es gibt diese Idealisten noch, wahrscheinlich mehr als früher. Sie fallen nur weniger auf, weil es viel mehr Journalisten gibt als zu Brods Zeiten – und deshalb heute viele, die ihren Beruf nicht als Berufung sehen, sondern als ein Beamten-Dasein mit Ärmelschonern.

Brods Buch erschien erstmals 1957 und hieß „Rebellische Herzen“; Brod änderte den Titel selber 1968, kurz vor seinem Tod.

(zu: Handbuch-Kapitel 2 Welche Journalisten wir meinen – und welche nicht + Service A Literatur)

Joachim Braun: Ein junger Wilder wird Chefredakteur des Jahres

Geschrieben am 27. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.

Joachim Braun ist ein ungewöhnlicher Chefredakteur: Kein Manager, dem Zahlen wichtiger sind als Recherchen; kein Presseclub-Dauergast, der die Welt erklärt; kein Liebling der Mächtigen in der Provinz, auch wenn sie ihn umarmen wollen. Joachim Braun ist Chefredakteur des Nordbayrischen Kurier in Bayreuth, ist Regional-Chefredakteur des Jahres – und feiert heute Geburtstag (27. Dezember).

Braun plädiert für eine strikt journalistische Haltung

Das alte Sowohl-als-auch, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, zählt nicht mehr. Journalisten müssen sich bekennen, müssen Orientierung geben, Hintergründe aufarbeiten, darstellen und vor allem: Sie müssen Klartext schreiben. Nur so bekommen sie Relevanz und erreichen ihre Leser auch emotional.

So steht es in seinem Blog „An(ge)kommen in Bayreuth“, eine ebenfalls ungewöhnliche Chronik eines Chefredakteurs, der vom ersten Tag an notierte und öffentlich machte, was ihm in der Redaktion und in der Stadt auffällt und missfällt.

So machte er sich nicht überall beliebt – auch nicht bei allen in seiner Redaktion, vor allem nicht bei jenen, die – so steht es in seinem Blog – „immer noch glauben, sie hätten in den vergangenen 25 Jahren alles richtig gemacht,

  • weil ihnen die Abonnenten nicht davon gelaufen sind,
  • die soziale Netzwerke standhaft ablehnen, weil sie glauben, sie verrieten dort ihre Ideale,
  • die eine Schulverbandsversammlung 60 Zeilen lang ins Blatt hieven, obwohl sie der Text nicht interessiert,
  • denn: Das haben wir schon immer so gemacht.

Dazu passt eines der Lieblings-Zitate von Braun, das er in einem Interview mit Jürgen Klopp, dem Meistertrainer von Borussia Dortmund, gelesen hat:

Sollten wir einen finden, den ich nicht mehr motivieren kann – der wäre hier auch nicht mehr so glücklich.

Der regionale Chefredakteur des Jahres, den eine Jury des Medium Magazin  wählt, kommt am Ende einer langen Liste von Journalisten, die unsere eitle Zunft als die wahren Journalisten preist: Dreimal FAZ, einmal Spiegel, Welt und dpa, je einmal WDR und ZDF.  Mit der Provinz will man sich nur am Rand ein wenig schmücken, wenn man sich feiert „unterstützt von der Metro group und otto group“.

Die Jury- Begründung für Joachim Braun ist jedoch vorzeigbar:

Er steht für einen unerschrockenen Journalismus, wie man sich ihn nur wünschen kann in einer Region: Gradlinig und kantig scheut er keine Konfrontation mit der Obrigkeit (was u.a. 2012 dazu führte, dass der Bayreuther Oberbürgermeister nicht wiedergewählt wurde). Ebenso wenig scheut er sich davor, alte redaktionelle Zöpfe abzuschneiden (z.B.Vereins- und Honoratioren-Berichterstattung). Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und gibt mit seinem kritischen Blog „An(ge)kommen in Bayreuth“ täglich die journalistische Haltung vor, die er auch von seiner Redaktion erwartet.

Da ist allerdings noch ein Rest von Verachtung der Provinz zu lesen: Vereinsberichterstattung als alter Zopf, der abzuschneiden ist – als ob der Bürger, der sich engagiert und selbst organisiert, unserer Gesellschaft schadet. Da wird Lokalberichterstattung gerühmt, nur wenn sie Skandale entdeckt und Bürgermeister absägt – als Provinz-Spiegel sozusagen.

Diese Kopf-ab-Mentalität ist nicht Brauns Sache. Er mag seine Leser, er mag den  Stolz der Menschen auf ihre Heimat, er mag die Provinz, aber nicht das Provinzielle. In seinem Blog ist zu lesen:

Um’s klar zu stellen: Der Nordbayerische Kurier ist weder CSU noch SPD, weder rechts noch links, weder für noch gegen Festspielhaus. Er ist ausschließlich der Wahrhaftigkeit verpflichtet und damit seinen Lesern.

Bei allem Übermut, der Joachim Braun bisweilen überfällt, ist das die rechte Haltung. Glückwunsch,  lieber Joachim Braun!

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten + 55 Der neue Lokaljournalismus)

 

„Sagen“ und der Wechsel im Ausdruck

Geschrieben am 25. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.

Leser sind genervt, wenn sie unentwegt „sagen“ lesen, Redakteure finden in ihrer Not für „sagen“ meist unsaubere Synonyme. So kommentiert auch Alexander Marinos, Vize-Chefredakteur des Bonner Generalanzeiger, auf Facebook den „Friedhof“ gegen den Krampf, Wortwiederholungen zu vermeiden:

Dem ließe sich noch die Unsitte hinzufügen, nach dem ersten „er/sie sagte“ krampfhaft nach anderen redeeinleitenden Verben zu suchen, die nicht passen, die mehr, weniger oder etwas anderes bedeuten als „sagen“ (betonen, meinen etc.).

Meine Antwort:

Danke! Es ist eine Unsitte, zumal die meisten Synonyme für „sagen“ in der Tat wertend sind und in PR-Texte von Pressesprechern gehörten wie  „unterstreichen“ und „behaupten“.

Allerdings nervt es, wenn in einer Nachricht mehrfach „sagen“ zu lesen ist. Nach Wolf Schneider gibt es nur fünf saubere Synonyme für „sagen“, die nicht wertend sind: mitteilen, ankündigen, fortfahren, ausführen, hinzufügen; dazu kommen fünf Verben, die ein Objekt oder eine „dass“-Fortsetzung verlangen: bezeichnen als, bemängeln dass, widersprechen, kritisieren, warnen vor.

Schneiders Vorschlag: Wer fünfmal „sagen“ nutzen will, nehme zuerst „sagen“, dann „mitteilen“, dann wieder „sagen“, dann „fortfahren“ und schließlich noch einmal „sagen“.

„Lächeln“ oder „schmunzeln“ sind für Schneider ungeeignet als Synonyme, da sie stumme Vorgänge sind. Doch kann ein Mensch sprechen und lächeln, so dass die Verschmelzung von „sagen“ und „lächeln“ möglich ist – im Gegensatz zu „grinsen“, dass herablassend ist.

Alexander Marinos:

Wie wäre es mit Formen der Redewiedergabe, die kein redeeinleitendes Verb benötigen: die berichtete Rede mit Redeeinleitung in Fernstellung zum Beispiel oder Zitate, die mit „x zufolge“ oder „wie x sagte“ eingeleitet werden. Bei letzteren erspart man dem Leser zudem den lästigen Konjunktiv. Ich behaupte, man kommt in einem langen Zitatenbericht mit einem, maximal zwei Formen von „sagen“ aus, wenn man die Redewiedergabeformen variiert.

Perfekt! Erweitern wir also die Schneidersche Regel: Nur einmal „sagen“, einmal „mitteilen“ oder „fortfahren“, zweimal „laut X“ oder „wie X sagte“ oder „X zufolge“. Dabei sollten wir so wenig Konjunktive gebrauchen wie möglich (und in der Tat meiden wir ihn bei den Vorschlägen von Marino).

Der Konjunktiv der indirekten Rede hat den Nachteil, dass er wie eine Distanzierung wirkt: Er hat es so ähnlich gesagt, aber ob es stimmt… So wird der Konjunktiv unbeabsichtigt zu einer Kommentierung.

Das verlorene Herz oder: Die schönste Liebesgeschichte der Welt (Weihnachts-Editorial)

Geschrieben am 25. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 25. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Die Geschichte der Frau, die das Herz ihres Mannes sucht, ist eine der schönsten Liebesgeschichten der Welt. Diese etliche tausend Jahre alte Geschichte geht zu Herzen, auch wenn sie grausam beginnt wie so oft, wenn es um die garstigen Spiele der Mächtigen geht; aber sie endet so romantisch wie ein Hollywood-Film.

Das Herz ist wirklich verloren gegangen. Der geliebte Mann der Isis ist von seinem Bruder Seth ermordet worden. Um der Seele keinen Frieden zu schenken, zerstückelt Seth die Leiche und zerstreut die Teile über das große Land Ägypten.

Isis sucht verzweifelt das Herz, segelt den Nil hinauf, vielleicht in einem der Feluken, einem dieser schönen Boote mit dem großen weißen Segel, die noch heute die Touristen faszinieren. Dort wo Ägypten endet, in den Stromschnellen des Nils, findet sie auf einer Insel sein Herz.

Die Ägypter verehren Isis, die Herzens-Sucherin, als Göttin der Liebe und bauen auf der Insel, wo sie das Herz fand, einen Tempel.

In Götter-Legenden ist vieles möglich: Zwar will der geliebte Mann nicht wieder ins Reich der Lebenden zurückkehren, doch Isis zeugt mit ihm einen Sohn. So wird diese uralte Romanze zu einer Weihnachtsgeschichte.

Im Isis-Tempel schauten die Ägypter auf die Statue der Isis mit dem Sohn auf ihrem Schoss. Der Sohn ist der Gott Horus, der höchste der Götter. Die Geschichte von der höchst irdischen Geburt Gottes – zudem unter widrigen Bedingungen – dachten sich die Priester Jahrhunderte vor der Geburt in Bethlehem aus. Die Juden, die lange in Ägypten lebten, hörten sie und bauten sie in ihre Geschichte ein.

Religion ist zuerst Geschichte und Geschichten, wandelbar – eben Menschenwerk. Wer es nur als metaphysische Spinnerei verachtet, verzichtet auf den Reichtum der Erfahrungen der Menschheit; diese entdecken wir in den Mythen, Legenden, eben auch in der Weihnachtsgeschichte.

Auch unsere Weihnachts-Erzählung gründet viel tiefer und zeigt, dass das Christentum – und erst recht der Islam – jung ist in der viel tausendjährigen Historie der Menschen. Nicht nur wir, sondern alle Generationen vor uns, stellten die Frage nach dem Warum: Wie ist entstanden, was wir sehen, fühlen, denken und verlieren?

Die Menschen haben stets ihre Wurzeln gesucht und aus den Erinnerungen die Basis ihres Wissens geschaffen. Wer demütig hinter den Schleier der Vergangenheit schauen will, kann seine Gegenwart verstehen. Wer diesen Schleier unberührt lässt, verharrt im Hochmut der Gewissheit, dass er allein alles verstehen und schaffen kann.

Thüringer Allgemeine 24. Dezember 2012

Luther, das rote „W“ und der Wechsel im Ausdruck (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.

Martin Luther ist ein Vorbild für alle, die die deutsche Sprache schätzen. So luden denn die evangelischen Kirchen in Thüringen zum Adventsempfang in die „unbeheizte“ Augustinerkirche mit einem Vers von Luther, mit dem er gegen gewaltsame Missionierung predigte.

Wer die Menschen von Gott überzeugen will, vertraue nur dem Wort:

Predigen will ich’s,
sagen beabsichtige ich’s,
schreiben befördere ich’s.

Das ist korrektes Deutsch, so wie es Journalisten mögen und Germanisten, Lehrer und Pressesprecher. Korrekt ist es, denn den „Wechsel im Ausdruck“ fordern sie und empfehlen den Kauf eines Synonym-Wörterbuchs.

Luther hatte das Vermögen, korrekt schreiben zu können – aber auch das Glück, keinen neben sich zu haben, der bei jeder Wortwiederholung ein rotes „W“ an den Rand schrieb. Luther durfte sich wiederholen, er tat’s und pries so das Wort:

Predigen will ich’s,
sagen will ich’s,
schreiben will ich’s.

Zwei rote „W“ hätte die Deutschlehrerin Luther an den Rand geschrieben, vielleicht sogar vier, wenn sie auch das dreifache „Ich“ unerträglich fände. So nähme sie zwar den Schwung aus dem Reim, die Kraft aus den Worten und erschwerte das Verstehen, aber vermiede jede Wiederholung.

Nur – wenn ich dasselbe meine, dann sage ich dasselbe: Ein Sturm ist ein Sturm und bei der zweiten Erwähnung ist er immer noch ein Sturm und kein mächtiger Wind.

Für unsere stärksten Wörter finden wir keine Synonyme: Liebe und Hass, Sonne und Mond – es sei denn wir griffen zu gequältem Ersatz und sprächen von „jenem starken Gefühl“ und vom „glühenden Zentralgestirn“.

Nur wenn wir schwache Wörter schreiben, sollten wir Wiederholungen verbieten: Nicht zweimal „aber“ oder „kreativ“ oder „tun“. Auch bei „sollen“ oder „wollen“ reicht ein Mal – es sei denn jemand ist ein Meister wie Martin Luther: Sagen will ich’s, schreiben will ich’s!

Thüringer Allgemeine, 10. Dezember 2012

Der, die, das Gott (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 22. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Ist Gott männlich oder weiblich? Die deutsche Sprache ist sich sicher: Gott ist ein Mann – eben: der Gott.

Die deutsche Familienministerin Schröder ist sich nicht sicher: „Man könnte auch sagen: das liebe Gott“, erklärt sie in einem Interview mit der Zeit. Da Interviews von Ministerinnen nicht einfach so in der Zeitung drängen, wird sich die Ministerin lange geprüft haben, ob sie eine sprachliche Panik-Attacke reiten soll.

Sie ist geritten – auch noch kurz vor Weihnachten, also in einer an Nachrichten armen Zeit. Es kam, wie es wohl geplant war: Ein kurzer Weihnachtssturm wütete. Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) hat die Ehre Gottes in der Bildzeitung gerettet, dem Zentralorgan der deutschen Männlichkeit: „Dieser verkopfte Quatsch macht mich sprachlos.“

Katherina Reiche, auch eine Parteifreundin, sprach nicht von ihrer Sprachlosigkeit, aber stellte den Weihnachtsfrieden wieder her: „Der liebe Gott bleibt der liebe Gott!“

Nein, verehrte Politikerinnen: Frau Schröder hat den Sturm nicht verdient. Der, die, das Gott? „Der Artikel hat nichts zu bedeuten“, sagt sie im Interview, bevor sie Gott zur Sache macht.

Recht hat sie. Warum ist die Bibel weiblich? Die Kirche ebenso? Das Christentum sächlich?

Der Artikel taugt wenig zu ideologischer Auseinandersetzung. Schröders Pressesprecher hat sogar die Bücher des Papstes lesen müssen und wurde fündig: „Natürlich ist Gott weder Mann noch Frau.“

So wird der Weihnachtssturm zur warmen Brise, passend zum Frühlingswetter an Heiligabend. Wenn die Ministerin beim nächsten Fest wirklich die Entrüstung stürmen lassen will, nehme sie den Stellvertretern Gottes ihren Artikel: Das Papst, das Bischof, das Priester – da ächzt das Kirchengebälk! Denn Gott ist alles, aber der Papst bleibt ein Mann.

(Die Überschrift ist der Rhein Zeitung entnommen. Christian Lindner hat sie gewittert und in seine „Hall of Fame“ der besten Überschriften aufgenommen)

Thüringer Allgemeine (geplant für 27. Dezember 2012)

Sprach-Bilder: Der überalterte Zauberlehrling

Geschrieben am 18. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Wir werden von Klischees begleiten. Nur selten gelingt es Journalisten und Dichtern, neue, anschauliche, treffende und Überraschende Vergleiche in Bildern zu ersinnen. Wir sammeln sie – wie diesen:

Er lachte so gut wie nie, aber wenn, dann über das ganze Gesicht. Doch selbst dann sah er nie besonders fröhlich aus, sondern lediglich wie ein überalterter Zauberlehrling, der kichernd unheilvolle Weissagungen erstellte.

Haruki Murakami in „1984“ ( btb-Taschenbuch Seite 39)

Fundstücke: Ist der Verleger wichtiger oder die Redaktion?

Geschrieben am 7. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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Das Publikum kommt nicht wegen des Zirkusdirektors in den Zirkus.

Was ist wichtiger: Die Redaktion oder der Verleger? Dirk Ippens Understatement, zu lesen in der „Süddeutsche Zeitung“ (4. Dezember 2012, nach Turi.de). Ippen hat seine Zeitungen zu einem Lokalzeitungs-Imperium ausgebaut nach dem Grundsatz „Jedes Geschäft ist lokal“. Vor vierzig Jahren wurde er belächelt, heute gilt das Lokale als die Zukunft der Zeitung.

Wenn der Neger nickt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 4. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
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In der Eisenacher Georgenkirche feiert der Bachchor am ersten Advent ein Jubiläum: Der 200. Kantaten-Gottesdienst – mit Georg-Philipp Telemanns: „Nun komm, der Heiden Heiland“. Auch Johann-Sebastian Bach hat eine Kantate mit diesem Titel geschrieben.

Wer die Melodie hört, summt sie mit – sie ist in unseren Köpfen; den Text beachten wir nicht, wie so oft in den Kantaten aus den fernen Jahrhunderten. Die Musik bleibt, die Worte fliegen davon.

Die „Heiden“ stören, das Wort ist aus unserem Wortschatz gewichen, es passt nicht in unsere multi-kulturelle Gesellschaft, die eine multi-religiöse und gottferne geworden ist. Wir kommen uns schäbig, gar fremdenfeindlich vor, etwa die Besucher einer Moschee „Heiden“ zu nennen – auch wenn Muslime uns „Andersgläubige“ nennen; dabei schwingt noch die Bedeutung mit, die Bach mit den „Heiden“ verknüpfte.

Wir verbannen Wörter aus unserer Sprache, weil sie grausame Bilder aus der Geschichte mitschleppen, die der Kreuzzüge gegen die Heiden, das Morden und Zerstören in Gottes Namen. Oder aus unserer Erinnerung tauchen peinliche Bilder auf. In katholischen Kirchen standen vor nicht allzu langer Zeit noch Neger-Figuren, die – politisch inkorrekt – so genannt wurden. Sie standen in der Kirche und nickte mit dem Kopf, wenn man einen Groschen einwarf.

Von einigen Esoterikern abgesehen, die sich als neue Heiden verstehen, haben wir den „Heiden“ begraben. Nur am 1. Advent werden wir ihn nicht los, wenn wir Bachs und Telemanns Musik hören. Musik ist stärker.

Thüringer Allgemeine 3. Dezember 2012

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