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Fundstücke: Wenn der Chefredakteur durchdreht

Geschrieben am 3. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 3. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Es gibt Chefredakteure, die während der Redaktionskonferenzen schon mal in Stücke gerissene Zeitungsseiten kauten (Nichts merkwürdiger als der Mensch, insbesondere, wenn er Journalist ist).

SZ-Reporterchef Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung 30. November 2012

(zu: Handbuch-Kapitel 46 Wer hat die Macht?)

Das Ulrich-Wickert-Interview: „Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält“

Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Herr Wickert, die meisten kennen Sie als den Moderator der Tagesthemen, als einen seriösen, freundlichen Mann. Ihr neues Buch nennen Sie „Neugier und Übermut“. Die Neugier nimmt man Ihnen leicht ab – aber den Übermut?

WICKERT Da mögen Kleinigkeiten gewesen sein – wie etwa dem Bundestagspräsidenten Hilde Knef auszuspannen, oder den übel gelaunten Bundeskanzler Helmut Schmidt zu fragen, ob er nur schnupfe oder auch spritze, oder gar einen Film über den marxistischen Philosophen Herbert Marcuse zu beginnen, obwohl die ARD dafür gar kein Geld bereit gestellt hat – und es eigentlich auch keiner wirklich sich traute.

Aber zum Ende meines Buches sage ich ja: Übermut ist gar nicht so wichtig gewesen. Es reichte schon, keine Angst zu haben. Und das ist übrigens auch wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse.

Mut kann man nicht lernen. Aber, so schreiben Sie, man kann lernen, was Mut bedeutet. Und Sie belegen es mit einer Jugend-Episode.

WICKERT Ja, in der Universität Bonn wollten mich Professoren vom Studium ausschließen, weil ich öffentlich gemacht hatte, wie die Diskussion über die Nazi-Vergangenheit des neuen Rektors unterbunden wurde. Der Dekan der philosophischen Fakultät Wolfgang Schmidt hat mich gerettet, in dem er mit seinem Rücktritt drohte, falls ich rausgeworfen würde. Da habe ich gelernt, dass man mit seiner Meinung und Haltung in der absoluten Minderheit sein kann – und trotzdem den Mut haben soll, bei seiner Haltung zu bleiben.

Wer in der DDR gelebt hat, dürfte erstaunt sein: Ein Bonner Student konnte von der Universität fliegen, weil er einen Nazi, der wieder Professor ist, einen Nazi nennt. Wie braun war die Bundesrepublik noch in ihrer Jugend?

WICKERT Bis in die achtziger Jahre hinein waren noch ehemalige Nazis in öffentlichen Ämtern. Manche hatten ihre Namen und Biographien geändert! Ich schildere ja in einem der ersten Kapitel meines Buches den Fall von Hans Fritzsche, einem ehemaligen Widerständler des 20. Juli, der nach dem Krieg in den Staatsdienst ging.

Beim Aufbau der Bundeswehr wurde er abgelehnt, weil er im Widerstand gewesen war. Und er wurde vom Verfassungsschutz als angeblicher „Bolschewik“ observiert. Frauen wurden auf ihn angesetzt, die bei ihm zu Hause nachschauen sollten, welche Bücher er las.

Da stand auch neben anerkannten Historikern wie Treitschke und Mommsen auch Karl Marx, weil er als Historiker solche Bücher las. Wer ließ ihn observieren: Die alten SS-Leute, die im Verfassungsschutz saßen! Andere Widerständler wie Erich Kordt wurden nicht mehr in den Auswärtigen Dienst aufgenommen, da sie – so Adenauer – „schon einmal ihren Chef verraten haben“.

Sie schreiben: Im Kalten Krieg war es schlimmer, Kommunist zu sein als ein Ex-Nazi. Sind Sie darüber in Ihrer Jugend zum heimlich Kommunisten geworden?

WICKERT Da muss ich doch lachen. Nein, ich bin deshalb kein heimlicher Kommunist geworden. Ich war dafür zu faul: ich habe das Kommunistische Manifest gelesen und fand darin vieles richtig. Aber vom „Kapital“ habe ich nur eine Seite gelesen. Das war mir zu anstrengend!
Ich bin humanistisch erzogen worden und war deshalb Mitglied der Humanistischen Studentenunion. Später, als Korrespondent in New York, habe ich einmal einen Film über die Hutterer gedreht. Diese religiöse Gemeinschaft hat mich tief beeindruckt. Denn dort wird ein „christlicher Kommunismus“ gelebt, der funktioniert!

Sie litten als junger Mensch darunter, dass in der Bundesrepublik vieles fehlte, was mit Freiheit zu tun hat. Wie fällt Ihr Urteil heute, Jahrzehnte später, über das vereinte Deutschland aus: Fehlt immer noch zu viel, was mit Freiheit zu tun hat?

WICKERT Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man im Rahmen der ethischen Vorgaben machen kann, was man für richtig hält. Aber in Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw.

Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!

Sie waren in einer der entscheidenden Stunden der Einheit dabei: Die beiden Außenminister Dumas aus Frankreich und Genscher aus Deutschland einigen sich, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren gegen Kohls erklärten Willen. Wie gelang es Ihnen, bei einem solch geheimen Treffen zuhören zu dürfen?

WICKERT Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen. Und der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher vertraute mir, als ich Korrespondent in Paris war, ebenso wie sein französischer Kollege, der Außenminister Roland Dumas.

Als ich nun erfahren hatte, dass Genscher sich plötzlich und ungeplant in Paris mit Dumas traf und die beiden dabei drehte, sagte mir Genscher, nachdem der Kameramann den Raum wieder verlassen hatte: „Setzen Sie sich doch zu uns.“

Es war kein Dolmetscher dabei, da Dumas deutsch spricht. So konnte ich miterleben, wie Hans-Dietrich Genscher mit harten Worten die Ablehnung von Bundeskanzler Helmut Kohl kritisierte, die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens öffentlich anzuerkennen, und mit Dumas beriet, wie der französische Präsident Francois Mitterrand Druck auf Kohl ausüben könnte.

Manche im Osten fühlen sich als besiegt, obwohl sie selber die friedliche Revolution erstritten haben. Die Frage geht an den Journalisten, der nach dem Krieg intensiv über „besiegt und befreit“ nachgedacht hat: Wer hat denn nun im Osten gesiegt?

WICKERT Im Osten hat die Bevölkerung gesiegt! Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hat das Volk sich erhoben und eine Regierung davongejagt. Ja, mehr als eine Regierung, ein ganzes politisches System. Also gibt es keine Frage: „Wir sind das Volk!“ hat gesiegt.

Dann kam allerdings: „Wir sind ein Volk!“ Und da hat die Bundesregierung in Bonn ihre ganze Macht ausgespielt, um Sieger zu sein. Es wäre politische für unsere Zukunft klug gewesen, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, wie es ja im Grundgesetz vorgesehen war. Aber die Regierung Kohl, die fürchtete im Dezember 1990 die Bundestagswahl zu verlieren, nutzte ihre Überlegenheit aus.

Sie wollten eigentlich kein Journalist werden. Hat es sich dennoch gelohnt? Und würden Sie jungen Leute heute raten, Journalist zu werden?

WICKERT Ja, ich war nie auf den Gedanken gekommen Journalist zu werden – und wer das Kapitel „Neugier als Lebensmotto“ in meinem neuen Buch liest, der wird sich biegen vor Lachen, wie dämlich ich mich in dem ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt habe. Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.

Und wenn heute ein junger Mensch diese Neigung in sich spürt, wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen.

Sie gehören,nach eigenem Bekunden, einer Generation an, die keine Angst hatte. Ist die neue Generation eine ängstliche Generation?

WICKERT Mit „Generation ohne Angst“ meine ich: Wir mussten uns keine Sorge um einen Beruf zu machen; der würde schon irgendwie kommen. Wir empfanden Vorgesetzte als Personen, die man erst einmal kritisch behandeln sollte. Vor ihnen hatten wir auch keine Angst. Die Zukunft war für uns wie ein Blick in den blauen, sonnigen Himmel.

Die heutige Generation erlebt schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?

Doch, wie ich schon eingangs sagte: Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.

Thüringer Allgemeine 17. November 2012

BUCH Ulrich Wickert: Neugier und Übermut (Hoffmann und Campe, 22.99)

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten)

Wickert zum 70.: „Es reicht, keine Angst zu haben“

Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 2. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Wieviel Misstrauen braucht ein Journalist? Wenig, meint Ulrich Wickert, der heute, am 2.  Dezember 2012, seinen  70. Geburtstag feiert. „Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen“, sagt Ulrich Wickert in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen.

Eigentlich wollte er kein Journalist zu werden. Dämlich habe er sich im ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt: Wer das in seinem neuen Buch „Neugier als Lebensmotto“ lese, werde sich biegen vor Lachen. „Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.“

Hans Leyendecker schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.12.2012), ein wenig resignierend über den Beruf des Journalisten: „Wickert gehört zu den Glücklichen, die einen Sinn in all dem Schaffen erkennen können.“

Was ist Wickerts Glück, Leyendecker folgend:

  • Rheinischer Optimismus
  • Der nie beirrte Glaube an den Sinn journalistischer Arbeit
  • Der nie schwindende Glaube an die Aufklärung (der bei anderen in der Regel mit dem Alter abhanden kommt)
  • Fehlender Zynismus („Zynismus wird in diesem Beruf  Erfahrung genannt“)
  • Realismus statt Resignation
  • Weltenbummler
  • Nachrichtenversessen (liest morgens Herald Tribune, Le Monde und drei weitere Zeitungen,  schaut Tagesschau, Tagesthemen und Dokumentationen bei Arte)
  • Charmant, sehr gelassen, erstaunlich normal (im TV-Studio wie beim Einkaufen im Gemüseladen)

Einem jungen Menschen gibt Wickert im Interview der Thüringer Allgemeine den Rat, Journalist zu werden – „wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen“.

Im Gegensatz zu seiner Generation, die eine „Generation ohne Angst“ war, erlebten die jungen Leute in ihrer Generation heute „schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?“

Sein Rat lautet: „Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.“

Kritisch geht Wickert, der die Welt kennt, mit seinem Heimatland um: „In Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw. Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!“

Das komplette TA-Interview: Freiheit ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Der Journalist)

Sprache in Auflösung: Sätze, die keine Sätze sind

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Eine Marotte macht Schule: Nimm den zweiten Teil eines Satzes, setze davor einen Punkt und verunstalte ihn zu einem eigenständigen Satz ohne Subjekt, ohne Prädikat, ohne Sinn und ohne Verstand.

Die Marotte, die manche als literarisch rühmen, ist nicht nur im Feuilletons zu finden, sondern auch im Sportteil, wie in der FAZ vom 23. November 2012:

Auch wegen Mario Götze, der gegen Ajax drei Treffer, erzielt von Reus (8. Minute) und Lewandowski (41./67.) mit zielstrebiger Eleganz vorbereitete, und das 2:0 nach einem seiner spektakulären Sololäufe selbst erzielte (36.).

Das ist der komplette Satz. Er gehört zum Satz, an den er anschließt:

Alles scheint inzwischen möglich für dieses Perpetuum mobile des Meistertrainers Jürgen Klopp.

Statt des Punkte hinter Klopp wäre ein Gedankenzeichen sinnvoll. Der „auch-wegen“-Satz wird zudem unverständlich

1. durch drei Klammern,
2. durch fünf Zahlen (die ans Ende des Textes in eine Übersicht gehören),
3. durch ein Komma, das fehlt hinter „Lewandowski“, am Ende der Apposition zu „Treffer“,
4. durch ein Hängeverb: Zwischen „Götze, der gegen Ajax drei Treffer..“ und „vorbereitete“ stehen neun Wörter,
5. und durch den zweiten Relativsatz, der nicht mehr erkennbar ist, weil das zweite „der“ fehlt: „und (der) das 2:0 selbst erzielte“.

Es bleibt ein Geheimnis des Autors, warum Götze einen Vornamen bekommt, Reus, Lewandoswki und Hoesen aber keinen bekommen

Im folgenden Satz hemmt ein Klammerverb das Verstehen:

Das eine Törchen für Ajax durch Hoesen (86.) nahm er von der Bank aus, auf die er in der 70. Minute unter donnerndem Applaus von rund 5000 Dortmunder Fans gewechselt war, en passant zur Kenntnis.

Zwischen „nahm er…“ und „…zur Kenntnis“ stehen 23 Wörter und Zahlen mit einem eingeschobenen Nebensatz. Diese Umklammerung ist unverständlich, aber in der deutschen Grammatik korrekt – im Gegensatz zur englischen. Diesem Unsinn können wir nur ein Ende bereiten, wenn wir zwischen die beiden Verbteile maximal fünf Wörter stellen und nie ein Nebensatz.

(zu: Handbuch-Kapitel 22 Warum alles Informieren so schwierig ist + 27 Vorsicht, Zahlen!)

Der Boulevard im Feuilleton: Ist Wulff grauer geworden?

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lexikon unbrauchbarer Wörter.

Christian Wulff spricht wieder, öffentlich. Die großen Zeitungen sind dabei, die Zeitungen, die sich Qualitätsmedien nennen. Was er in der Alten Aula der Heidelberger Uni sagt, wird nur am Rande erwähnt.

Das Feuilleton wird zum Boulevard. Der Ex-Präsident hat, beobachtet Jan Wiele in der FAZ, eine neue Brille, randlos „wie in der Zeit vor der Katastrophe“, er ist sichtlich schmaler geworden – und er ist ein bisschen grauer (Anzug und Haare).

In der Welt hat Ulrich Exner den anderen Blick, den Anti-Blick: Wulff wirkt nicht ausgezehrt, nicht so verhärmt; und er bekennt sich zu seiner Scham – für die Mordserie des NSU.

Auch Exner sucht das Graue an Wulff: Dunkelgraue Hose, graues Jackett und graue Krawatte. Und die Haare? Da spielt Exner mit seiner Reporter-Rolle:

Sind da vielleicht ein paar mehr graue Haare? Man kann sich auch lächerlich machen als Beobachter. Christian Wulff sieht ziemlich genau so aus, wie Christian Wulff immer ausgesehen hat.

Ein Lob für die Reporter, der sich selbst mit leiser Ironie beobachten kann!

Ironisch wird auch Jan Wiele in der FAZ: Er nennt Wulffs Rede „postinformativ“; und er legt seine Bibel-Kenntnisse offen und schreibt „wahrlich“ in einer kommentierenden Anmerkung zu Wulffs Honorar, das dieser nicht bekommen hat.

Oder meint er es wahrlich ernst, weil es im Feuilleton steht, dem postinformativen Feuilleton?

(FAZ 23.11.2012 „Der Anfang nach dem ende ist schnell gemacht“ + Welt 23.11.2012 „Der neue alte Wulff“)

(zu: Handbuch-Kapitel 32-33 Die Reportage + 16 Lexikon unbrauchbarer Wörter)

Kein Grund für linksintellektuelle Schwermut: Das Zeitungssterben fällt aus

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

„Die allermeisten Verlage stehen grundsolide da“, schreibt Chefredakteur Armin Maus im Samstags-Essay der Braunschweiger Zeitung über die Insolvenz der Frankfurter Rundschau und das Ende der Financial Times Deutschland. Wie stark Zeitungen seien, werde verschwiegen, weil es schlecht ins Untergangsszenario passe. Stattdessen könne man viel Unfug vom „Zeitungssterben“ lesen.

Selbst eine gut gemeinte Titelgeschichte in der Zeit, in der viel Kluges über Qualität und Verantwortung zu lesen ist, war überschrieben: „Wie guter Journalismus überleben kann“. Diese Schlagzeile transportiert ein Bild, das in seiner pathetischen Schwarzfärbung vom Hang des linksliberalen Intellektuellen zur Schwermut zeugt.

Maus kritisiert Medienwissenschaftler, Experten und Politiker und bescheinigt ihnen ein Niveau zwischen Nostradamus und Radio Eriwan, wenn sie aus unterschiedlichen Geschichten die eine vom Zeitungssterben bastelten:

  • Medienwissenschaftler, hochgebildete Intellektuelle, sprechen über eine Realität, die sie mangels praktischer Erfahrung nur aus zweiter Hand kennen.
  • Experten, deren Geschäftsmodell auf der These beruht, die Verlage machen ohne sie alles falsch, rezensieren vom Turme herab.
  • Politiker, die die These vertreten, Tageszeitungen seien „ja nicht mehr so wichtig“.

Armin Maus stellt die Erfolge der Tageszeitungen heraus, die zu den wichtigen Faktoren des öffentlichen Lebens gehöre:

  • Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine vergleichbare Vielfalt. Deutschland spiegelt sich in seinen Regional-Zeitungen.
  • 47 Millionen Menschen lesen in Deutschland täglich Zeitung.
  •  Leser schätzen die Unabhängigkeit der Redaktionen. Die Staatsferne, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk für sich reklamiert, ist bei den Zeitungen Realität.
  • Die Tageszeitung genießt bei den Bundesbürgern höchstes Vertrauen, liegt weit vor der „Tagesschau“.
  • Das Vertrauen gilt auch für junge Leute, die sich in beachtlicher Zahl weigern, „keine Zeitung mehr zu lesen“, obwohl es allenthalben von ihnen behauptet wird.
  • Die Zahl der Leser, die ein Abonnement bezahlt, ist leicht rückläufig. Nimmt man allerdings die Reichweiten der Internetangebote der Verlage dazu, sieht das Bild schon anders aus. Denn auch Leser, die keine Papierzeitung wünschen, schätzen die Informationen, die ihnen eine unabhängige Redaktion anbietet.
  • Als Werbeträger haben die Zeitungen unbestreitbar an Boden verloren. Aber es gibt zum ersten Mal eine intensive Zusammenarbeit der wichtigsten Verlage, die die Schaltung bundesweiter Kampagnen erleichtert.
  • Zeitungshäuser – Springer allen voran – sind auf dem Weg zum Multimedia-Anbieter.

(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 53-57  Die Zukunft der Zeitung)

Sind Deutschlands Chefredakteure bestechlich?

Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Christian Lindner, Chefredakteur der in Koblenz erscheinenden Rhein-Zeitung, zeigt sein Honorar bei Twitter an (18.11.12, 19:28):

Zeige hiermit mein Moderations-Honorar beim #forumWHU an: Eine Flasche Nahe-Riesling. Mit Blindenschrift auf Etikett.

(zu: Handbuch-Kapitel 38 Die Satire)

„Die Gesellschaft ist angewiesen auf reichhaltige Presse“

Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 18. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Die Bundesrepublik wurde auch erbaut auf den herrlichen Bleiwüsten ihrer großen und leidenschaftlichen Debatten, aus dem Zusammenwirken von politischem Journalismus, kultureller Reflexion und akademischer Brillanz…

Länder mit miserabler Presse sind schlechter regiert und haben mehr extremistische Parteien, da helfen schlaue Blogs bisher wenig…

Diese Gesellschaft ist viel zu komplex, viel zu angewiesen auf Analyse und Kritik, um auf eine reichhaltige Presse verzichten zu können.

Gustav Seibt „Wo die Demokratie lebt“, Leitartikel in der Süddeutschen zur Insolvenz der Frankfurter Rundschau (17.11.2012)

(zu: Handbuch-Kapitel Welche Zukunft hat der Journalismus (Seite 341))

„Rechtsradikal“ ist Werturteil, keine Tatsachenbehauptung

Geschrieben am 15. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Im Zweifelsfall für eine öffentliche Debatte, auch wenn sie hart geführt wird! Und gegen das Verbot einer Debatte, in der es immer noch um das Thema geht! Wer seine Meinung öffentlich zur Diskussion stellt, muss eine Diskussion darüber auch ermöglichen – und ertragen.

So urteilte das Verfassungsgericht in Karlsruhe für einen Rechtsanwalt, der einen anderen Anwalt in einem Internet-Forum „rechtsradikal“ genannt hatte – und gegen Land- und Oberlandesgericht, die entweder eine unwahre Tatsachenbehauptung oder eine Schmähkritik entdeckt und zur Unterlassung aufgefordert hatten.

Drei Kriterien nennt das Bundesverfassungsgericht für die Abgrenzung von erlaubter Meinungsäußerung und Schmähkritik:

1. Sie darf den Kritisierten nicht in seiner Intimsphäre treffen.
2. Sie darf nicht in sein Privates eindringen (was der Fall ist, wenn die Diffamierung im Vordergrund steht und nicht mehr die Sache, über die diskutiert wird).
3. Sie dringt in seine Sozialsphäre ein – was in einer Debatte, die man angezettelt hat, erlaubt ist (nach dem Motto: Wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte nicht kochen).

(zu: Handbuch-Kapitel 50 Presserecht)

Dokumentation
Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 77/2012 vom 13. November 2012
Beschluss vom 17. September 2012
1 BvR 2979/10

Die Bezeichnung anderer als „rechtsradikal“ ist ein Werturteil
und fällt unter die Meinungsfreiheit

Eine Person in einem Internetforum in Auseinandersetzung mit deren
Beiträgen als „rechtsradikal“ zu betiteln, ist ein Werturteil und
grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dies entschied das
Bundesverfassungsgericht in einem heute veröffentlichten Beschluss vom
17. September 2012 und hob daher die angegriffenen Unterlassungsurteile
auf. Es obliegt nun den Zivilgerichten, das Grundrecht auf
Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers mit dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht der kritisierten Person abzuwägen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Der im zivilrechtlichen Ausgangsverfahren auf Unterlassung klagende
Rechtsanwalt beschäftigte sich auf seiner Kanzleihomepage und in
Zeitschriftenveröffentlichungen mit politischen Themen. Er schrieb unter anderem über die „khasarischen, also nicht-semitischen Juden“, die das Wirtschaftsgeschehen in der Welt bestimmten, und über den
„transitorischen Charakter“ des Grundgesetzes, das lediglich ein
„ordnungsrechtliches Instrumentarium der Siegermächte“ sei.

Der Beschwerdeführer, ebenfalls Rechtsanwalt, setzte sich in einem
Internet-Diskussionsforum mit diesen Veröffentlichungen auseinander: Der Verfasser liefere „einen seiner typischen rechtsextremen originellen Beiträge zur Besatzerrepublik BRD, die endlich durch einen
bioregionalistisch organisierten Volksstaat zu ersetzen sei“. Wer meine, „die Welt werde im Grunde von einer Gruppe khasarischer Juden
beherrscht, welche im Verborgenen die Strippen ziehen“, müsse „es sich
gefallen lassen, rechtsradikal genannt zu werden“.

Das Landgericht und das Oberlandesgericht verurteilten den
Beschwerdeführer zur Unterlassung der Äußerungen, wobei das Landgericht
sie teilweise als unwahre Tatsachenbehauptungen und das
Oberlandesgericht sie als Schmähkritik aus dem Schutzbereich der
Meinungsfreiheit herausfallen ließen. Das Bundesverfassungsgericht hat
beide Urteile aufgehoben und die Sache an das Landgericht
zurückverwiesen.

2. Diese Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

a) Es handelt sich um Meinungsäußerungen in Form eines Werturteils, denn es ist nicht durch eine Beweiserhebung festzustellen, wann ein Beitrag „rechtsextrem“ ist, wann sich ein Denken vom „klassisch rechtsradikalen verschwörungstheoretischen Weltbild“ unterscheidet und wann man „es sich gefallen lassen muss, rechtsradikal genannt zu werden“.

b) Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit werden verkannt, wenn
eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung
oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im
selben Maß am Grundrechtsschutz teilnimmt wie Äußerungen, die als
Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.

Verfassungsrechtlich ist die Schmähung eng definiert, da bei ihrem
Vorliegen schon jede Abwägung mit der Meinungsfreiheit entfällt. Eine
Schmähkritik ist nicht einfach jede Beleidigung, sondern spezifisch
dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der
Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Dies
kann hier aber nicht angenommen werden, denn alle Äußerungen haben einen Sachbezug.

c) Verfassungsrechtlich geboten war also eine Abwägung zwischen der
Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und dem Allgemeinen
Persönlichkeitsrecht des Unterlassungsklägers. Das Ergebnis dieser
Abwägung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Abwägung
muss das Gericht, an das zurückverwiesen wurde, berücksichtigen, dass
der Unterlassungskläger weder in seiner Intim- noch in seiner
Privatsphäre betroffen ist, sondern allenfalls in seiner Sozialsphäre.
Dagegen ist die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers in ihrem Kern
betroffen.

Die Verurteilung zur Unterlassung eines Werturteils muss im
Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum
Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden. Der
Unterlassungskläger hat seine Beiträge öffentlich zur Diskussion
gestellt; dann muss zur öffentlichen Meinungsbildung auch eine
inhaltliche Diskussion möglich sein.

Überregional Denkende gegen Patrioten des Lokalen – Wie sich ein Ex-FR-Redakteur an seine Zeitung erinnert

Geschrieben am 15. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

Als Redakteur eines überregionalen Ressorts fehlte mir wohl das Verständnis, wie sehr ihre lokalen Wurzeln die Zeitung prägten. Ich nahm sie als das, was sie fern von Frankfurt gewesen war: als eine Bühne der intellektuellen Auseinandersetzung, die in Feuilleton und Politik stattfand, als eine harte Währung im intellektuellen Diskurs – und womöglich war auch das in den Neunzigern schon mehr Nimbus als Realität.

Peter Körte in der FAZ in seinem Nachruf auf die FR „Der Tag der lebenden Toten“ (14. November 2012), in dem er auch über die Debatten berichtet zwischen den „überregional Denkenden“ und den „Patrioten des Lokalen“.

(zu: Handbuch-Kapitel 57 Wie können Zeitungen überleben + 55 Der neue Lokaljournalismus + Welche Zukunft hat der Journalismus)

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