Alle Artikel der Rubrik "PR & Pressestellen"

Gut in Verlagen: Konservative Verleger gegen linksliberal-grüne Redakteure

Geschrieben am 18. Mai 2016 von Paul-Josef Raue.

Lutz Schumacher ist Geschäftsführer und Chefredakteur des Nordkurier in Mecklenburg-Vorpommern, in einer dünn besiedelten Gegend also, in der die Werbung als Geschäfts-Grundlage der Zeitung immer weiter wegbricht. Er reagiert zum Blogeintrag „Redakteure sollen Chefredakteur abwählen können“ in einem Facebook-Beitrag:

Zeitungen – ob digital oder Print – benötigen eine solide wirtschaftliche Basis. Wenn diese nicht privatwirtschaftlich organisiert ist, müsste es über ein öffentlich-rechtliches Modell geschehen, mit allen Gefahren und Einflussnahmen, die so etwas mit sich bringt: Einfluss durch Politiker, informelle Meinungskartelle, Gefahr der totalen Kontrolle wie gerade in Polen und Ungarn sichtbar.

Natürlich hat der öffentlich-rechtliche Ansatz auch Vorteile, weil er in der Regel von wirtschaftlichen Interessen frei ist. Aus gutem Grund haben wir deshalb in Deutschland ein duales System: Öffentlich-rechtliche Sender und privatwirtschaftliche Zeitungen. Das sichert die Meinungs- und Medienvielfalt Mehr als jedes andere Modell.

Und es ist in diesem Zusammenhang auch gut, dass es durch die überwiegend liberal-konservative Verlegerschaft ein Gegengewicht zur überwiegend linksliberal-grünen Mehrheitsmeinung in den Redaktionen gibt. Beides ist wertfrei gemeint, ich beschreibe hier lediglich die Realität. Eine „demokratische“ Presse wäre in Wirklichkeit eine Meinungsdikatatur der Redaktionsmehrheiten. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwingen dagegen zur Vielfalt, um alle wesentlichen Zielgruppen zu bedienen.

 Auf Schumacher antwortet der freie Journalist Raimund Hellwig:
Alles richtig, Herr Schumacher, aber dennoch problembeladen, wenn es in die Praxis geht. Die stabile wirtschaftliche Basis hat dann ihren öffentlichen Zweck, wenn sie die Produktion von Öffentlichkeit ermöglicht. Wenn die stabile wirtschaftliche Basis genutzt wird, Öffentlichkeit zu reduzieren, dann wird es schwieriger – Stichwort lokale Öffentlichkeit. Wie steht es denn mit der Meinungsvielfalt, wenn die Redakteure in den Lokalredaktionen abgebaut werden und nur noch zum „Produzieren“ kommen, kaum dass der Mitbewerber die wirtschaftliche Stabilität verloren hat und verschwunden ist?
Welche Möglichkeiten zur kritischen Bearbeitung hat man noch, wenn heute auf einen Redakteur zwei Pressestellenmitarbeiter (und manchmal auch –profis) kommen? Und wie ist eine Zeitung als Träger von Meinungsvielfalt zu bewerten, die nur Bücher rezensiert, die im eigenen Verlagshaus verlegt und gedruckt wurden?
Medienhäuser sind immer auch Bestandteil des lokalen wirtschaftspolitischen Diskurses, weil sie naturgemäß und legitimerweise Interessen haben. Wie sollte das auch anders sein? Aber findet dieses (berechtigte) Interesse einen notwendigen Widerhall in der lokalen Berichterstattung?
Ihre Einschätzung zur liberal-konservativen Verlegerschaft als Gegenstück zur linksliberal-grünen öffentlich-rechtlichen Landschaft halte ich für richtig (Bayern ausgeklammert). Sie gewinnt aber erst dann an Relevanz, wenn die Zeitung ihre ureigenste Aufgabe zur Information umfänglich wahrnimmt. Einfluss durch Politiker, informelle Meinungskartelle und ähnliches sind eben auch im privatwirtschaftlichen Bereich möglich, und hier will ich gar nicht auf den berühmten Politiker kommen, der mit dem ebenso berühmten Verleger im Rotary-Club sitzt.
Redakteure wollen in der Regel die umfassende Information. Ob sie es im notwendigen Rahmen vor diesem Hintergrund können, sei dahingestellt.
Im Übrigen hat sich das von Ihnen skizzierte Modell bewährt. Der völlig unerwartete Einbruch des Internets in die Zeitungsgeschäfte hat aber viele neue Fragen aufgeworfen. Linksliberal-grüne und konservativ-liberale Meinungen sind dann nämlich ziemlich unwichtig, wenn jeder publizieren darf. Die Zeiten ändern sich, die Tageszeitungen, die eine Antwort auf das digitale Zeitalter haben, sind in der Minderheit, und die, die eine gute Antwort haben, eine ganz seltene Spezies.
Ich bin übrigens kein Anhänger von Karl Marx. Eher einer von guter Redakteursarbeit.

Wie Nachrichten-Magazine ihr Markenzeichen verkaufen

Geschrieben am 10. Mai 2016 von Paul-Josef Raue.
Zwei Nachrichten-Magazine mit identischer Titelseite: Anzeigen von VW

Zwei Nachrichten-Magazine mit identischer Titelseite: Anzeige von VW

Einstieg ins Flugzeug von Wien nach Berlin: Österreichische Nachrichten-Magazine werden gereicht – mit identischer Titelseite, die auf den zweiten Blick als VW-Anzeige zu identifizieren ist für den neuen Tiguan. Beim dritten Blick gehen die Augen nach links oben auf den Titel „Profil“ und auf den deutlich größeren Schriftzug „News“ beim zweiten Magazin.

Es sind zwei Magazine mit derselben Titelseite. Die dritte Seite ist die eigentliche Titelseite. Die Nachrichten (!)-Magazine haben ihr Markenzeichen verkauft. Je wichtiger der Leser wird, der für ein Magazin oder eine Zeitung bezahlt, umso williger scheinen die Verlage den Anzeigenkunden nachzugeben,  die immer weniger zum Umsatz beitragen.

 

 

Der Minister antwortet nicht. Oder: Was ist ein gutes Interview? (Teil 1)

Geschrieben am 11. Januar 2016 von Paul-Josef Raue.

Das FAZ-Interview mit Innenminister Thomas de Maizière zu seiner Kritik an der Polizei beginnen die Journalisten mit der Frage „Warum haben Sie das getan, Herr Minister?“ Der Minister beantwortet die Frage nicht, sondern schwadroniert: „Anschließend habe ich mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister telefoniert…“

Die Journalisten lassen dem Minister durchgehen, dass er ihre Frage ignoriert, sie fassen nicht nach, sondern gehen zum nächsten Thema über.

Die dritte Frage besteht aus drei Fragen:

Sollte in Köln etwas unter den Teppich gekehrt werden? Vieles war der Polizei schon in der Silvesternacht bekannt: sexuelle Übergriffe, Verdächtige mit Migrationshintergrund. Führen Sie das auf den Umgang mit Kriminalität zurück, sobald die Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben? Ist das die Kehrseite der Willkommenskultur?

Nur zwei beantwortet der Minister.

Die siebte Frage ist keine Frage, auf die der Minister nicht antworten kann: Also nimmt er die Einladung dankbar an und schwadroniert wieder.

In Köln ist nach außen hin aber das Gegenteil passiert: Die Polizei verbreitete am Neujahrstag eine Darstellung, die all diejenigen bestätigt, die sagen, da wird uns ein Bild präsentiert, das gar nicht der Wirklichkeit entspricht.

De Maizière: Ein Generalverdacht ist genauso wenig der richtige Weg wie das Tabuisieren der Herkunft von Kriminalität. Es darf keine Schweigespirale geben, schon gar nicht darf sie von der Polizei ausgehen.

Die neunte Frage ignoriert der Minister einfach und macht ein eigenes Thema auf:

Gewalt gegen Asylbewerberheime, Gewalt in Asylbewerberheimen, Gewalt auf öffentlichen Plätzen. Hat die Polizei noch die Kontrolle?

De Maizière: Ich will den Bogen etwas weiter spannen. Es gibt weit über die Vorfälle in und um Asyleinrichtungen hinaus eine Tendenz zur Verrohung sowohl der Sprache als auch des Verhaltens in wachsenden Teilen der Gesellschaft. Das hat ein Ausmaß angenommen, das nicht hinzunehmen ist…

Nach der 18. Frage korrigiert der Minister die Journalisten und stellt die Frage, die er für die richtige hält:

Nach den Kölner und anderen gewalttätigen Vorfällen fragt man sich außerdem: Was ist mit dem Entzug des Aufenthaltstitels?

De Maizière: Da stellt sich zunächst die Frage: Wirkt sich die Strafbarkeit auf die Erteilung von Asyl aus? Geltendes Recht ist, dass bei einer Strafe von drei Jahren eine Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist…

Was macht ein gutes Interview aus:

  1. Die Journalisten fassen nach, wenn die Frage nicht beantwortet wird – solange  sie eine Antwort bekommen oder dem Leser klar wird, dass der Gast nicht antworten will. Ein Interview mit einer unbeantworteten Frage zu beginnen, ist zumindest unglücklich.
  2. Journalisten stellen immer nur eine Frage, sonst laufen sie Gefahr, dass sich der Gast die Frage aussucht, die ihm gefällt.
  3. Wenn sie keine Frage formulieren, sondern Fakten präsentieren oder Meinungen äußern, müssen sie darauf achten, dass ihr Gast darauf reagiert.
  4. Korrigiert der Gast eine Frage zu Recht, dann ändert man in der Autorisierung die eigene Frage: Nicht nur der Gast kann seine Antworten ändern, auch die Redaktion ihre Frage – vor der Autorisierung selbstverständlich. Fragen und Antworten müssen aufeinander abgestimmt sein.

Gerade wenn ein Interview autorisiert wird, lassen sich in der zum Druck vorgesehenen Fassung manche Unebenheiten des Gesprächs ausgleichen – auf beiden Seiten. Ein Interview mit einem unsicheren Minister zu einem  heftig diskutierten Thema  ist nicht einfach zu schreiben, zumal – so ist zu vermuten – nur wenig Zeit bestand, es von einer sperrigen Presseabteilung  autorisiert zu bekommen; dennoch sollten einfache Regeln beachtet werden wie „Nachfassen“ oder „klare Fragen stellen“. Der Leser verlangt es.

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Quelle: FAZ, 9. Januar 2016, Seite 2 „Es darf keine Schweigespirale geben“

Gewerkschafts-PR wird zum Weihnachts-Aufmacher der Süddeutschen

Geschrieben am 27. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

Der Aufmacher der Süddeutschen Zeitung in der Weihnachts-Ausgabe ist ein Angstmacher: „Flüchtlingskrise und Terrorgefahr überfordern Deutschlands Polizei“, so der Beginn der Unterzeile. Ob ein Angstmacher die Leser unterm Tannenbaum abholt, dürften die meisten Blattmacher deutlich verneinen: Sie empfehlen den Mittelweg zwischen dem Elend der Welt und der Rührseligkeit der stillen Nacht. Den geht in der SZ Heribert Prantl, der Moralist für besondere Aufgaben (gern auch christlich), auf der vierten, der Meinungsseite: Auch er denkt nach über Angst und Eingreiftruppen, aber er meint nicht die irdischen, in der Polizeigewerkschaft organisierten, sondern die himmlischen, die Engel.

Der Prantl wäre der bessere Aufmacher gewesen: „Engel ist jeder, der Kraft hat, aus dem Ring der Unversöhnlichkeit zu springen.“ Aber ein Kommentar als Aufmacher?  Der Angstmacher, den die SZ wählte, ist auch einer, wenn man ihn freundlich beurteilt. Eigentlich ist er ein PR-Beitrag der Gewerkschaft, der wie eine Nachricht präsentiert wird.

Recherche fand nicht statt. Es gibt eine einzige Quelle: Zwei Funktionäre der Gewerkschaft der Polizei, der Chef in NRW und  Vizechef im Bund; dazu kommt ein Polizist aus Recklinghausen, der einen „Brandbrief“ geschrieben hat. In die Funktionärs-Erregung stimmt der Redakteur ein: „Die Überlastung hinterlässt Spuren“, wobei der Redakteur durchaus seine eigene Recherche-Überlastung gemeint haben könnte.

Da kommt kein Ministerium, weder Bayern noch Bund, zu Wort, kein anderes Bundesland als NRW rückt in den Blick, keine der privaten Sicherheitsfirmen, die auch ins Visier geraten, wird befragt. Selbst die Grafik zum Text, die den Stellenabbau illustriert, ist schludrig: Gemischt werden Angaben von Gewerkschaft und Statistischem Bundesamt; die Zeitabstände auf einer linearen Zeitachse sind höchst unterschiedlich, mal zwei Jahre, dann drei Jahre, dann neun (!) Jahre, abschließend ein Jahr. Zudem stimmen die Zahlen im Artikel-Text und in der Grafik nicht überein: Während der Text von einem Abbau „bis zu 17.000 Stellen“ spricht, zeigt die Grafik einen Abbau von 22.000.

Die Vergleiche hinken: Was hat die Schließung von Dorfwachen mit Großeinsätzen  wie G-7-Gipfel und Bundesliga-Spielen zu tun? Was eine Rufbereitschaft mit „Heiligabend in Uniform“ (so die irritierende Überschrift)? Wahrscheinlich haben die Funktionäre die schiefen Vergleiche geprägt –  aber ist es Aufgabe eines Journalisten, sie so zu übernehmen?

Wahrscheinlich haben wir zu wenige Polizisten und zu viele Überstunden – doch darum geht es nicht:  Es geht um professionelle Standards des Journalismus, um die rechten Themen zur rechten Zeit, um ausführliche Recherche, um Nachrichten, nach denen man sich richten kann, um klare Analysen, die dem Leser ein eigenes Urteil ermöglichen, um eine klare Sprache  – und Kommentare, die als Kommentare zu erkennen sind.

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Quelle: „Heiligabend in Uniform“, SZ 24. Dezember 2015

 

Kuppelei: Wenn sich in der SZ Anzeigen und Redaktion verbinden

Geschrieben am 11. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

SZ Reiseseite Thüringen 2 am 10-12-15Reiseteil der Süddeutschen Zeitung am 10. Dezember 2015: Eine normale redaktionelle Seite im normalen Layout über Thüringen, Luther und Bratwurst. Allerdings steht auf einem Viertel der Seite eine Anzeige des Thüringer Umweltministeriums, in dem die „Nationalen Naturlandschaften in Thüringen“ gepriesen werden.

In dem großen Reisebericht kommt ausführlich eine Mitarbeiterin der Thüringen Tourismus GmbH zu Wort. Die Seite ist klein in der Kustode als „eine Sonderseite“ gekennzeichnet. Der Text ist gefällig geschrieben, es ist nette PR.

Die rechtliche Seite: „Wer zusätzlich zur Erteilung eines Anzeigenauftrags die Zugabe einer redaktionellen Besprechung anbietet oder gewährt, handelt unlauter“, zitiert das Handbuch des Journalismus ein Oberlandesgericht.

Die ethische Seite: Ziffer 7 des Pressekodex mahnt zur Trennung von Werbung und Redaktion.

Zündeln Redakteure, wenn sie über Gewalt in Flüchtlings-Unterkünften berichten?

Geschrieben am 28. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Erst verfügte laut Gewerkschafts-Angaben der Innenminister in Thüringen, die Polizei solle nicht mehr über Einsätze in Flüchtlings-Unterkünften berichten, nun enthüllen auch die Kieler Nachrichten solch ein Schweigen der Polizei in Schleswig-Holstein. FDP-Chef Kubicki postet in Facebook:

Sollte es zutreffen, dass die Redaktion der „Kieler Nachrichten“ tatsächlich von der Landespolizei aufgefordert wurde, nicht über Fälle in der Flüchtlingsthematik zu berichten, die von der Landespolizei selbst als ‚relevante Ereignisse‘ eingestuft wurden, dann wäre das ein Skandal. Ressortleiter Michael Kluth berichtet dies in seinem Kommentar von heute.

Die Begründung für solch ein Vorgehen, die Presse ‚zündele‘, rechtfertigt in keinem Fall die Geheimhaltung offensichtlicher Tatbestände. Sie ist sogar doppelt skandalös. Denn erstens ist die Meinungs- und Pressefreiheit in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Sie bildet damit einen der Grundpfeiler unserer Republik. Zweitens dürfen wir nicht jeden, der Kritik übt, ja nur kritische Fragen stellt, in den Senkel stellen und mit dem Vorwurf der Zündelei belegen.

Wenn die Verantwortlichen den Eindruck vermitteln, es würden wesentliche öffentlichkeitsrelevante Fakten verschleiert und die Debatte unehrlich geführt, sorgt dies für einen massiven Vertrauensverlust der Menschen in unsere demokratische Ordnung. Es verhindert nicht nur eine sachliche Auseinandersetzung, sondern macht die Menschen erst empfänglich für antidemokratische Kräfte.

Polizisten und Behörden sollen die Wahrheit sagen, erklärt Thüringens Innenminister

Geschrieben am 19. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Es gibt bisweilen seltsame Pressemitteilungen aus Ministerien, das ist eine davon:

„Thüringens Innenminister Holger Poppenhäger spricht sich für bessere Kommunikation aus“ lautet die Überschrift zu einem Treffen des Innenministers mit Vertretern des Bundes der Kriminalbeamten (die namenlos bleiben), der Deutschen Polizeigewerkschaft (die namenlos bleiben) sowie der Gewerkschaft der Polizei (die namenlos bleiben). Dann folgen drei Sätze, die bemerkenswert sind:

  • Der Innenminister und die Vertreter der Gewerkschaften waren sich einig, dass für die Pressearbeit in den Polizeiinspektionen das Thüringer Pressegesetz sowie der Pressekodex des Presserates maßgeblich sind.
  • Öffentlichkeitsarbeit erfolgt dann, wenn sie geboten ist, der Vorfall von öffentlichem Interesse ist und die allgemeinen Persönlichkeitsrechte dabei gewahrt bleiben.
  • Landesbehörden sind dabei grundsätzlich gegenüber Journalisten zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet, so lange keine Ermittlungsergebnisse gefährdet oder persönliche Angaben ohne öffentliches Interesse preisgegeben werden.

Was ist bemerkenswert:

1. Ein Minister muss hervorheben, dass seine Beamten die Wahrheit sagen sollen.

2. Der Minister beruft sich auf den Pressekodex, der Journalisten zur Wahrheit verpflichtet – und der nicht für den Staat geschrieben wurde, sondern für die Kontrolleure des Staates.

3. Nach so viel bewunderswerter Offenheit und Wahrheitsliebe tritt der Minister gleich den Rückzug an: Die Polizei entscheidet, was geboten ist, sie entscheidet, was von öffentlichem Interesse ist, und sie entscheidet, was Ermittlungen gefährdet. Bleibt dann doch nur der Wild-Unfall auf der Kreisstraße übrig?

Immerhin stellte der Minister klar, dass er keinen politischen Einfluss nehme und der Polizei keinen Maulkorb mehr umbinden wolle. Hintergrund des Treffens und der Presseerklärung ist die Empörung über einen Maulkorb-Erlass des Ministers, den Kai Christ öffentlich gemacht hatte, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Thüringen: Die Polizei solle nicht über Einsätze in Asylbewerber-Heimen berichten. Das sei politisch nicht erwünscht, hatte der Gewerkschafts-Chef mehrfach erklärt.

 

 

 

 

Die Eisbar-Knut-Affäre: Müssen Journalisten eine Sperrfrist befolgen?

Geschrieben am 7. September 2015 von Paul-Josef Raue.

Verstößt eine Redaktion, wenn sie die Sperrfrist nicht beachtet, gegen die „journalistische Sorgfalt“? Diesen Vorwurf erheben renommierte Wissenschaftler des „Forschungverbunds Berlin“ gegen die Berliner Zeitung und den Berliner Kurier und beschweren sich beim Presserat.

Worum geht’s? Am Montag, 24. August 2015, erzählten Wissenschaftler aus Berlin, woran Eisbär Knut gestorben sei; sie gaben vorab Informationen weiter unter der Bedingung, bis zur Pressekonferenz drei Tage später nichts zu veröffentlichen. Die beiden Berliner Zeitungen berichteten allerdings schon am Montag auf ihren Internet-Seiten und am Tag darauf in der Zeitung.

Die Wissenschaftler sehen darin einen Bruch „international gültiger Regeln in der Wissenschaftskommunikation“ und „publizistischer Grundregeln“. Die Zeitungsredakteure erhielten Hausverbot, durften an der Knut-Pressekonferenz nicht teilnehmen und bekommen ein halbes Jahr lang keine Informationen mehr. Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Wissenschaftler hier. Wissenschaftsorganisationen wie die Präsidenten der Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft protestierten bei Aufsichtsrat und Vorstand der „DuMont-Schauberg“-Mediengruppe:

Wir sind bestürzt über das Verhalten zweier Zeitungen aus der Mediengruppe M. DuMont Schauberg, die durch Alfred Neven DuMont zu großem Ansehen gelangt ist und sich für uns stets durch seriösen und qualitätsvollen Journalismus ausgezeichnet hat.  Da zum Zeitpunkt des Embargobruchs das o.g. wissenschaftliche Manuskript noch nicht veröffentlicht war, bestand für unsere Wissenschaftler die akute Gefahr, dass das Manuskript von der Nature Publishing Group als bereits veröffentlicht zurückgewiesen wird. Die jahrelange Forschung unserer international renommierten Arbeitsgruppen wäre damit entwertet worden.

„Fehler machen wir alle mal, man kann sie aber korrigieren“, so bewerten die Forscher den kurzfristigen Bruch der Sperrfrist durch den Fernsehsender rbb und Focus Online, die ihre Berichte aus der Mediathek und Internet wieder löschten – Focus mit der redaktionellen Bemerkung:

Ein anderes Medium hat die Sperrfrist für die Berichterstattung gebrochen. FOCUS Online wird sich daran halten und veröffentlicht am 27. August zum offiziellen Ende des Embargos ausführliche Informationen zu Knuts Todesursache.

Der Begriff „Embargo“ für Sperrfrist, den die Wissenschaftler hier nutzen, ist in der Schweiz gebräuchlicher, in Deutschland weitgehend unbekannt.

Der Presserat sieht den Bruch der Sperrfrist offenbar als ethisch irrelevant an und strich die Richtlinie 2.5 im Jahr 2007; offenbar berufen sich die Wissenschaftler deshalb bei der Beschwerde auf die Sorgfalts-Pflicht – und da bin ich schon gespannt, wie der Presserat das löst, denn mit Sorgfalt hat der Bruch überhaupt nichts zu tun, die Fakten stimmten ja.

Sie alte Sperrfrist-Richtlinie des Presserats lautete:

Sperrfristen, bis zu deren Ablauf die Veröffentlichung bestimmter Nachrichten aufgeschoben werden soll, sind nur dann vertretbar, wenn sie einer sachgemäßen und sorgfältigen Berichterstattung dienen. Sie unterliegen grundsätzlich der freien Vereinbarung zwischen Informanten und Medien. Sperrfristen sind nur dann einzuhalten, wenn es dafür einen sachlich gerechtfertigten Grund gibt, wie zum Beispiel beim Text einer noch nicht gehaltenen Rede, beim vorzeitig ausgegebenen Geschäftsbericht einer Firma oder bei Informationen über ein noch nicht eingetretenes Ereignis (Versammlungen, Beschlüsse, Ehrungen u.a.). Werbezwecke sind kein sachlicher Grund für Sperrfristen.

Es ist  eine Frage des Vertrauens. So schreibt die Leibniz-Gemeinschaft auch, sie sende vorab Studien an Journalisten, „damit diese sich in der Planung ihrer Berichterstattung darauf einstellen und Artikel recherchieren und vorbereiten können“. Sperrfrist gilt also als ein Service – auf Vertrauen.

Und wie reagieren die Redaktionen? Ein „DuMont“-Sprecher schiebt – laut Bülent Ürük im Kress Report – die Schuld auf die Lokalredaktion, die mit gängigen Regeln nicht vertraut sei, und die Wissenschaftler selber, weil die nicht nur Wissenschafts-Redakteure eingeladen habe. Im Hausverbot sieht der Unternehmenssprecher einen Angriff auf die Grundsätze der Pressefreiheit.

Brigitte Fehrle, Chefredakteurin der Berliner Zeitung, verwies laut Kress Report auf den harten Wettbewerb im Berliner Zeitungsmarkt.

Wie gehen andere Länder mit der Sperrfrist um? Während sich englische und amerikanische Zeitungen etwa über die Autorisierung von Interviews in Deutschland wundern, achten sie strikt auf die Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Sperrfristen. Der spektakulärste Fall einer Sanktion ereignete sich am Ende des Zweiten Weltkriegs und zerstörte eine US-Reporter-Karriere:

Edward Kennedy, der Leiter des Pariser AP-Büros, berichtete am 7. Mai 1945 von der Kapitulation Deutschlands, so dass die New York Times titeln konnte: „The war in Europa is endet!“ Allerdings hatte Präsident Truman eine Sperrfrist verhängt – offenbar mit Rücksicht auf Stalin, der die Kapitulation in Berlin als seine Leistung herausstellen wollte. Zudem hatte General Dwight D. Eisenhower auf die dienende Rolle der Journalisten verwiesen: Ihr seid „auxiliary staff officers“!, also Hilfsarbeiter, um den Krieg zu gewinnen durch „objektive“ Berichterstattung. Die Amerikaner haben immer schon gerne die Journalisten in ihre Interessen eingebettet.

Die AP feuerte Edward Kennedy, der den Rest seines Reporter-Lebens verbittert in einer Lokalzeitung zubringen musste – nicht ohne 1948 dem Atlantic Magazin zu sagen: „Ich würde es wieder tun.“

Erst 2012 entschuldigte sich der AP-Präsident Tom Curley in einem Vorwort zu den Memoiren Ed Kennedys, die seine Tochter Julia nach seinem Tod herausgegeben hatte: „Ed Kennedy’s War: V-E Day, Censorship, and the Associated Press“.

„Es war ein schrecklicher Tag für die AP“, sagte Curley in einem Interview, „wir haben es in der schlechtest möglichen Weise gemacht. Kennedy hat alles richtig gemacht: Er war wirklich ein Held.“

 

 

 

Alternativlose Bullenscheiße: Der „Friedhof der Wörter“ über den Bullshit

Geschrieben am 1. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Das Wort sollten Sie sich merken, auch wenn es ein englisches ist: Bullshit. Das Wort zählt nicht zur Hochsprache und bedeutet wörtlich: Bullenscheiße. Weil Bullenscheiße einfach zu vulgär ist, bleiben wir beim Bullshit.

Die meisten Kandidaten für unseren „Friedhof der Wörter“ sind Bullshit:

  • Wenn die Kanzlerin „alternativlos“ sagt: Bullshit!
  • Wenn ein Verkäufer den Geländewagen als „umweltfreundlich“ anpreist: Bullshit!
  • Wenn „natürliches Aroma“ aus Kräuter, Blüten und Dill erzeugt wird: Bullshit!
  • Wenn ein Biomarkt „anthroposophisches Gemüse, geerntet bei Vollmond“ verkauft: Bullshit!

Es gibt sogar einen Bullshit-Philosophen: Der Amerikaner Harry Frankfurt. Er warnt: Bullshit richtet mehr Schaden an als Lügen. Er schaut sich vor allem bei Politikern und Werbetextern um, in Behörden, bei Esoterikern – und bei Journalisten.

Schon Rudolf Augstein, der Gründer des Magazins „Spiegel“, war sicher: Mindestens ein Artikel jeder Ausgabe ist unverständlich. Ob unsere Zeitung eine Ausnahme macht?

In Konferenzen versuchen Redakteure, die Augstein-Regel zu durchbrechen. Aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf: In jeder Konferenz gibt es einen, der Unsinn geschrieben hat, aber all seine Intelligenz einsetzt, ihn zu rechtfertigen. Ich bin sicher, dass dies in Unternehms-, Gewerkschafts- und Schulkonferenzen ähnlich ist, in Kabinetts-Sitzungen erst recht.

„Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben“, schreibt der Bullshit-Philosoph Frankfurt. Aber ohne Bullshit werden wir nicht auskommen, meinen Tobias Hürter und Max Rauner, die Journalisten, die ein schönes Buch geschrieben haben: „Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand“.

Sie raten: Lacht über den Bullshit! Stellt die Bullshitter bloß! Nehmt sie nicht ernst! Aber auch die Gegner des Bullshits kommen nicht ohne ihn aus – etwa bei einem netten Gespräch, einem Smalltalk. Dafür gibt es übrigens schon Computer-Programme, die automatisch Bullshit erfinden und Tiefgang vortäuschen.

In einem eigenen Kapitel gehen Hürter und Rauner auch auf  Medien und Bullshit ein: Da gibt es den Boulevard, ohne den viele Menschen nicht auskommen – auch wenn sie das, was dort geschrieben steht, nicht glauben, erst recht ihm  nicht vertrauen. Im Gegensatz zu bunten Blättern halten Hürter und Rauner die Bildzeitung für gefährlich:

Im Kern ist zumeist was Wahres dran, aber es ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Bild-Macher haben die Kunst perfektioniert, haarscharf an der Grenze vom Bullshit zur Lüge zu bleiben.

Selbst seriöse Medien geraten schnell in ein bullshitträchtiges Milieu, weil sie Nachrichten immer weiterdrehen müssen, „notfalls mit Gewalt“, weil nichts Neues zu berichten ist. Sie bedienen Sterotypen, bieten Schnipsel an statt der „ganzen Wahrheit“, befriedigen ein „tiefes menschliches Bedürfnis“: „Die Neugier. Nach der Lektüre hat man das beruhigende Gefühl, Bescheid zu wissen.“

Sie heben Rolf Dobelli hervor, den Schweizer-Bestseller-Autor, der keine Zeitungen mehr liest, diese „billigen Zuckerbonbons für den Geist“, sondern nur noch Bücher.

Man kann die Medien durchaus als Bullshit-Fabriken bezeichnen, schließen die Journalisten – und drehen sich noch einmal um die eigene Achse und zitieren den Philosophen Alain de Botton, der Bullshit preist, weil er Geschichten erzählt, „die uns mitfühlen lassen“, eben die berühmten Geschichten, die man sich seit altersher am Lagerfeuer erzählt.“Glamour ist nicht bloß lustig und albern,er ist eine wichtige Kraft des gesellschaftlichen Wandels“, sagt de Botton.

Wem dieser Medien-Bullshit zu dünn erscheint, wandere aus auf eine intellektuelle Spielwiese, die Hürter und Rauner erwähnen: Die Philosophen Mail (Philosophers‘ Mail), ein Blog, in dem Philosophen ein Jahr lang Nachrichten philosophisch erzählten (auf englisch). Den Blog haben sie beendet und beginnen einen noch aufregenderen: Das Buch des Lebens (www.thebookoflife.org) mit den sechs Kapiteln Kapitalismus, Arbeit (darin zum Beispiel: Die Leiden der Führung), Beziehungen („How to start having sex again„), Ich, Kultur und Curriculum. Lesen!

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Das Bullshit-Buch erscheint im Piper-Verlag: 304 Seiten, 16.99 Euro

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. August 2015 (hier erweiterte Fassung)

 

 

 

 

Lokaljournalismus in der DDR: „Wer am Tisch der Mächtigen sitzen durfte“ (Interview mit Ullrich Erzigkeit)

Geschrieben am 15. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.
Erzigkeit in Lobenstein

Ullrich Erzigkeit in Lobenstein: Wo heute Gäste des Hotels „Schwarzer Adler“ speisen, war zu DDR-Zeiten die Lokalredaktion der Volkswacht.

 

 

 

 

„Die meisten waren Siebzigprozentige, einige noch weniger. Die mit dem System unzufrieden waren, blieben ganz unscheinbar“, erinnert sich Ullrich Erzigkeit an die Redakteure, die mit ihm in der DDR gearbeitet hatten. Er war – nach der Revolution – der längst dienende Chefredakteur im Osten, fast ein Vierteljahrhundert: 1990 wurde er in turbulenter Sitzung von den Redakteuren gewählt, 2014 feierlich in den Ruhestand verabschiedet.

Ullrich Erzigkeit führte die Zeitung unter drei Titeln: Einen Tag noch als SED-Bezirkszeitung „Volkswacht“, dann ab 18. Januar 1990 als unabhängige „Ostthüringer Nachrichten“ und schließlich ab 1. Juli 1991, nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Treuhand, als „Ostthüringer Zeitung“.

Erzigkeit kennt die Grenze: Geboren wurde er 1949 unweit der bayerischen Grenze im kleinen Schieferbergbau-Dorf Unterloquitz-Arnsbach, das heute zu Probstzella gehört; in Saalfeld, idyllisch in der Mitte des Saalebogens gelegen, machte er das Abitur und gleichzeitig in der benachbarten Maxhütte seinen Facharbeiter-Abschluss als Stahlwerker.

Wir wanderten mit Ullrich Erzigkeit die alte innerdeutsche Grenze entlang und kehrten zum Abendessen in den „Schwarzen Adler“ in Bad Lobenstein ein. „Hier habe ich im Herbst 1968 mein Volontariat begonnen“, erzählte er, „im heutigen Gastraum standen früher die Schreibtische der Volkswacht-Lokalredaktion.“ Wir sprachen mit ihm über den Lokaljournalismus an der Grenze:
Gab es in der DDR einen unabhängigen Journalismus, wie wir ihn heute kennen und pflegen?

Nein, wir waren eine Parteizeitung, abhängig von den Weisungen der SED, die dirigistisch eingriff, eben ein Teil der umfassenden Propaganda, mit der die Partei die DDR überzog. Als sich die Volkswacht zur unabhängigen Tageszeitung wandelte, verabschiedeten wir ein Redaktionsstatut: Von dem Tag an waren wir Anwalt der Bürger und nicht mehr Anwalt einer Partei und ihrer Funktionäre.

Wie berichteten Sie in einer Grenz-Redaktion wie Lobenstein über die Grenze?

Wir durften über die Grenze nichts berichten, die war komplett Tabu. Nur an Silvester war das anders: Da gingen die hohen SED-Funktionäre zu den Soldaten und dankte ihnen für den „vorbildlichen Dienst“ mit den üblichen Floskeln; darüber berichteten wir mit Foto und vorgeschriebenem Text.

Waren auch verhinderte Fluchten kein Thema? Immerhin gab es für die Soldaten Lob und Auszeichnung

Nein, wir erfuhren auch offiziell nichts davon. Wenn wir abends mit den Grenzern ein Bier tranken, erfuhren wir schon, was an der Grenze los war. Aber das war inoffiziell, das durften wir eigentlich gar nicht wissen, erst recht durften wir davon nichts schreiben. Fluchtversuche passten so gar nicht in das Bild vom sozialistischen Paradies der Arbeiter und Bauern.

Hatten die Grenzer keine Angst, dass sie plötzlich doch in der Zeitung standen?

Nein, die wussten genau: Das bleibt eine vertrauliche Verschlusssache. Hätte ich etwas über eine Flucht geschrieben, wäre das in der mehrfachen Zensur sicher rausgeflogen – und ich gleich hinterher; keinen Tag länger wäre ich Redakteur geblieben. Wir mussten die vorgestanzten Texte von oben mitnehmen, das war unsere Aufgabe, das sicherte uns auch die Ruhe.

Prahlten die Grenzoffiziere nicht damit, wenn sie eine Flucht verhindert hatten?

Einige schon, aber manche fragten sich schon: Ist es das wert? Müssen wir wirklich ein Menschenleben zerstören, nur weil einer fliehen will?

Durften Sie als Redakteur überhaupt ins Grenzgebiet fahren?

Nur die Redakteure, die im Grenzgebiet wohnten und einen Stempel im Ausweis hatten, durften das. Ich hatte noch kein Auto. Wenn ich zu einem Termin fahren musste, holte mich ein Chauffeur im Redaktions-Wagen ab: Ins Grenzgebiet wäre der nie gefahren. Die Kontrolle der Redakteure war umfassend.

Worüber schrieben Sie denn, wenn die spannendsten Berichte, die von der Grenze, Tabu waren?

Meistens über die Bonzen, die immer irgendetwas eröffneten, verkündeten und sich gegenseitig auf die Schultern klopften. Oder über die Helden der Arbeit, aber die kannten uns und die kannten die Regeln: Sie sprachen schon so, wie wir schreiben mussten. Das war ein geschlossenes System, aus dem keiner ungestraft ausbrechen konnte.

Und was machten Sie dann den lieben langen Tag?

Das frage ich mich im Nachhinein auch. Wir waren zu fünft und produzierten eine Lokalseite, die jeden Werktag außer montags erschien; am Montag gab es einen erweiterten Sportteil. Wir begannen morgens um sieben und hörten mittags um zwei auf; um zwei ging einer zum Bahnhof, wo ein Zug die Texte und Fotos nach Gera mitnahm. Für die Ausgabe vom übernächsten Tag. Aktualität war für den damaligen Lokaljournalismus ein unbekanntes Wort.

Wie muss man sich eine Redaktion in der DDR vorstellen: Viele Hundertprozentige und einige Tausendprozentige?

Die meisten waren Siebzigprozentige, einige noch weniger. Die mit dem System unzufrieden waren, blieben ganz unscheinbar. Ich hatte einen Chef, der sich immer wieder konspirativ mit einem Freund aus Österreich traf. Er ließ sich gar nichts anmerken, war nicht übereifrig, aber immer korrekt im Sinne der Partei. So waren die meisten. Was erklärt, dass trotz kluger und weltoffener Leute in der Redaktion eine so grausige Zeitung gemacht wurde.

Gab es denn gar keine Hundertprozentigen in der Redaktion?

Ein paar in der Redaktion waren schon ideologisch verbohrt. Ihr Anteil bezifferte sich auf etwa ein Drittel. Der Chefredakteur gehörte dazu und die meisten Ressortchefs auch. Sie mussten die politische Linie der Partei durchsetzen, kompromisslos, eins zu eins, ohne die kleinste Abweichung. Karriere machten nur die strammen Genossen.
Wer am Tisch der Mächtigen sitzen durfte, musste nicht nur mit der Meute heulen, sondern auch denken und fühlen wie sie. Ein nachdenklicher oder gar zweifelnder Mensch wäre schnell zerschellt an der Sturheit, Borniertheit und gefährlichen Dummheit der Bonzen. Manche in der Redaktion, auch in der Chefredaktion, hielten ihren inneren Konflikten nur dadurch stand, indem sie sie mit Schnaps betäubten.
Aber in den Redaktionen saßen doch auch Parteileute, die nie im Roten Kloster waren, also der Leipziger Journalisten-Ausbildung.

Das waren Schein-Journalisten, wie ich sie nenne, die über Institutionen der SED und der Parteihochschule in die Redaktionen kamen. Die wussten nichts vom normalen Leben um sich herum, trugen aber den Marschallstab im Tornister. Sie stiegen gleich als Ressortleiter oder stellvertretende Chefredakteure ein.
Das permanente Misstrauen der SED-Führung gegenüber universitär ausgebildeten Journalisten verstärkte sich in den achtziger Jahren noch. Hätte die DDR noch ein paar Jahre fortbestanden, dann wären die Redaktionen durchweg von lupenreinen Parteikadern dominiert und geführt worden. Dann hätte der ohnehin todkranke Journalismus in den DDR-Medien seinen endgültig letzten Hauch getan.

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Das Interview erscheint in der Sommer-Serie der Thüringer Allgemeine (16. Juli 2015): Die Grenze (Eine politische Wanderung entlang der 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze)

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