Christian Krachts Rat an junge Schriftsteller und Journalisten (Zitat der Woche)
Schreiben Sie kürzere Sätze. Lesen Sie Joseph Roth.
Ausnahmsweise keine Empfehlung von Wolf Schneider, sondern die Antwort von Christian Kracht, der vor 20 Jahren Faserland“ geschrieben hatte, auf der FAZ-Frage: „Was raten Sie denen, die heute Schriftsteller werden wollen?“
**
Quelle: FAZ 25. April 2015
Günter Grass und sein wohl längster Satz, gleichwohl schön und verständlich (Friedhof der Wörter)
Günter Grass war ein Dichter, der sich immer wieder in die politischen Debatten einmischte. Dafür lobten ihn die meisten seiner Nachrufer: Seine Stimme und seine Unbeugsamkeit wird uns fehlen.
Nein, sie wird uns nicht fehlen. Warner, Unbeugsame und Wachrüttler, Querdenker und Provokateure im besten Sinne erheben in ausreichender Zahl ihre Stimme. Wer uns fehlen wird, ist der Meister des Erzählens, der Meister der deutschen Sprache: Keiner hat nach dem Krieg mehr dafür getan als Grass – und das in einer Zeit, in der die unsere Sprache Einfluss in der Welt verliert, in der Frankreich den Deutschunterricht in der Schule stark reduzieren will und selbst Deutsche keinen Spaß mehr haben sondern „fun“.
Wolf Schneider, der bald 90-jährige Sprachpapst, zitiert Grass immer wieder. Er lobt ihn für seine kurzen Sätze wie „Ilsebill salzte nach“ (im „Butt“); er lobt ihn für seine langen Sätze, die ein Meister wie Grass schreiben kann, verständlich und schön. Erliegen wir einfach der Faszination über 69 Wörter in der „Blechtrommel“: Ein Subjekt – die Großmutter – mit vielen Prädikaten, ein kurzer einleitender Nebensatz und ein langer, die Hauptsache erzählender Hauptsatz:
Als ich meinte, genug geblasen zu haben, öffnete sie die Augen nacheinander, biß mit Durchblick gewährenden, sonst fehlerlosen Schneidezähnen zu, gab das Gebiß sogleich wieder frei, hielt die halbe, noch zu heiße Kartoffel mehlig und dampfend in offener Mundhöhle und starrte mit gerundetem Blick über geblähten, Rauch und Oktoberluft ansaugenden Naslöchern den Acker entlang bis zum nahen Horizont mit den einteilenden Telegrafenstangen und dem knappen oberen Drittel des Ziegeleischornsteins.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 20. April 2015
„Geo“-Schaper: Groteske Geldvernichtung in der Nannen-Ära beim „Stern“ (Zitat der Woche)
Ich habe die Nannen-Zeit beim Stern noch miterlebt, und die Verschwendung damals war wirklich unfassbar. Mag sein, dass der “stern” eine Zeitlang auch deshalb erfolgreich war, dennoch war das oft eine groteske Geldvernichtung. So arbeiten Chefredakteure aber schon seit mindestens 25 Jahren nicht mehr.
Michael Schaper, Chefredakteur von Geo Wissen, in einem Interview mit Peter Turi. Schaper gehörte dem legendären ersten Jahrgang der Hamburger Journalistenschule an, geleitet von Wolf Schneider, der am 7. Mai vor neunzig Jahren in Erfurt geboren wurde und in seinem nächsten Buch auf „mein langes, wunderliches Leben“ zurückblickt („Hottentotten Stottertrottel“ erscheint am 24. April bei Rowohlt).
Zitat-der-Woche-verdächtig ist auch Schapers Antwort auf die Kress-Frage: „Sehnen Sie sich manchmal danach, einen schnellen, oberflächlichen Artikel zu schreiben?“
Ist das ein Angebot zur freien Mitarbeit?
Zu Schnibbens („Spiegel“) Medien-Tsunami: Lokalzeitungen können überleben – nur wie?
Bravo! sollten wir Cordt Schnibben zurufen. Endlich! sollten wir hinzufügen. Endlich eröffnet einer, dessen Stimme Gewicht hat, eine tiefe Debatte über die Zukunft der seriösen Medien. Er hat es schon einmal vor einigen Monaten im Spiegel versucht – mit mäßiger Resonanz. Lasst uns dazu beitragen, dass eine große Debatte entsteht!
Ich bin mit Leib und Seele ein Lokaljournalist, der in Schnibbens Essay keine Rolle spielt. Deshalb meine Replik. Der Text ist dem Spiegel-Blog entnommen, er wird durch meine eingerückten Anmerkungen unterbrochen:
Wenn man das, was seit einigen Jahren die Medien erschüttert, als Tsunami bezeichnet, dann ist der Blogger Richard Gutjahr einer derjenigen, der auf dieser Welle der Zerstörung jauchzend dem Strand entgegen surft. TV-Moderator Claus Kleber ist dann derjenige, der sich auf der öffentlich-rechtlichen Segelyacht gelassen rauf und runter schaukeln lässt, und Printvater Wolf Schneider schaut von einem Hügel aus kopfschüttelnd zu.
Leser mögen Bilder, wenn sie ihnen sinnlich erklären,was nur schwer zu verstehen ist. Aber Bilder müssen stimmen, dieses stimmt nicht: Ein Tsunami ist eine Naturkatastrophe, die Veränderung der Medien ist Menschenwerk; der Tsunami ist Schicksal, also unabwendbar und gott- oder schicksalsgesteuert, die Medien hängen von den Veränderungen der Gesellschaft ab – für die weder Gott noch ein Schicksal herhalten können – und von der Bereitschaft der Journalisten und Manager, auf Veränderungen zu reagieren.
Und ich? Laufe am Strand aufgeregt auf und ab und zeige warnend zum Horizont. Darum habe ich bei den drei Journalisten aus drei verschiedenen Generationen mal nachgefragt, wie sie auf die Krise ihrer Branche blicken. Und auch bei Jessica Schober, einer jungen Journalisten, die wie eine Handwerksgesellin von Redaktion zu Redaktion zieht: Sie taucht unter der mächtigen Welle durch, hält nicht viel vom hektischen Ist-Zeit-Journalismus.
Noch einmal das Bild: Unter einer Tsunami-Welle kann man nicht durchtauchen: Wer das probiert, überlebt nicht. Wir sind froh, wenn wir ein tolles Sprachbild gefunden haben, aber wir dürfen es auch nicht endlos strapazieren.
Und, mit Verlaub, ich kann mir keinen Spiegel-Reporter oder -redakteur vorstellen, der aufgeregt auf und ab läuft. In keiner Redaktion in Deutschland dürfte ein Journalist so ausgeruht nachdenken können, recherchieren und schreiben wie beim Spiegel. Das ist allerdings purer Neid.
Die Krise des Journalismus und der Medien folgt der Gesellschaft, die sich in einem Atem raubenden Tempo aufteilt, in Teilen wieder vereinigt und auf ein Ziel steuert, das keiner kennt und das es vielleicht gar nicht geben wird. Deshalb hat die Tageszeitung die größten Schwierigkeiten: Sie war (und ist zum Teil noch) das einzige Medium, das nahezu alle Zielgruppen bedient und die Gesellschaft vereint. Ein Medium, in dem sich alle wiederfinden, tut der Demokratie gut – und deshalb ist die ökonomische und journalistische Krise der Tageszeitung auch eine Krise der Demokratie, zumindest der deutschen Prägung.
Deshalb schürft Cordt Schnibbens Analyse nicht tief genug: Wir müssen nicht nur in den verschiedenen Generationen fragen (wobei, am Rande festgestellt, junge Journalisten nicht typisch für ihre Generation sein müssen – aber das ist ein eigenes Thema); wir müssen auch deutlich unterscheiden zwischen nationalen Medien und regionalen / lokalen. Dass ein Spiegel-Reporter mit leichter Mißachtung in die Provinz schaut, nehme ich ihm nicht übel, sehe ich als Deformation professionnelle.
Das Problem des Spiegel ist aber nicht unbedingt das Problem der Thüringer Allgemeine. Den Spiegel – aber auch FAZ und SZ – liest kaum mehr jemand in Thüringen, die Lokalzeitung noch jeder zweite; erschiene nicht noch das Neue Deutschland, würde im Osten kein nationales Blatt von Bedeutung gelesen.
Wenn es nicht den dramatischen Rückgang der Anzeigen gäbe, würden wir in Lokalzeitungen noch nicht über eine Krise sprechen. Dass wir darüber sprechen, wenn auch viel zu wenig, ist notwendig: Unser Journalismus stimmt nicht mehr. Wir sind auf dem Niveau der achtziger Jahre stehen geblieben und waren nicht mal verdutzt, wie viele Leser an uns vorbeigezogen sind.
Als Steve Jobs vor fünf Jahren das iPad in die Höhe hielt, wurde mir klar, dass sich unser Beruf radikal verändern wird, damals sah ich wie viele noch mehr die positiven als die negativen Veränderungen. Inzwischen ist klar, dass Tablets und Smartphones das Zeitbudget für alle Printmedien und die Zahl der Leser reduziert, die für Journalismus bezahlen; dass die Vertriebs- und Werbeerlöse schnell sinken; dass die Verleger idiotischerweise Redakteursstellen und ganze Redaktionen streichen, also journalistische Qualität abbauen. Die größte Veränderung, die das mobile Netz bringt, oft wird das übersehen, ist allerdings die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Journalisten und Lesern.
Die Beobachtung ist korrekt, aber Journalisten waren stets mit technischen Veränderungen konfrontiert: Allein in einem halben Jahrhundert, also einem Journalistenleben, verschwand der Bleisatz, kamen die Redaktionssysteme mit dem Redaktroniker im Gepäck (bei den Lokalzeitungen, nicht beim Spiegel), stiegen die Renditen, weil die schwere Technik immer weniger Personal brauchte. Damals haben die Manager das Sparen gelernt, in den Druckereien und der Vorstufe; das Muster nutzen sie auch heute – allerdings bei den Journalisten. Das Problem der Medien sind nicht allein die Journalisten, ich wage zu behaupten: Es gibt mehr nachdenkliche und gute Journalisten als Manager.
Nur was setzen wir Journalisten dagegen? Was verstehen wir unter Qualität, wenn Qualität mehr ist als Selbstbefriedigung, sondern übereinstimmen soll mit der Qualitäts-Forderung der Leser?
Ich bleibe bei den Lokalzeitungen. Wir haben nicht das Problem des Spiegel: Unsere Leser haben uns schon immer kontrollieren können, weil sie sich in ihrer Stadt und Nachbarschaft auskennen. In einer Lokalzeitung können sie ihre Leser nicht an der Nase herumführen. Aber sie können die falschen Themen setzen, sich mit den Mächtigen verbünden und glauben, im Rotary-Club ihre Leser kennenzulernen.
Die Debatte um die Zukunft des Lokaljournalismus – also quantitativ der Mehrheit der gedruckten Tages-Medien – hat noch gar nicht richtig begonnen. Zu viele Lokaljournalisten arbeiten wie in den achtziger Jahren und hoffen, den Ruhestand noch gerade unbeschadet zu erreichen.
Als der Funke-Kommunikationschef Korenke bei einem TA-Symposium die Beamten-Mentalität vieler Redakteure beklagte, gab es einen Aufschrei bei Betriebsräten. In den Schreiben fand man viel Empörung, aber keine Konzepte, noch nicht einmal Hinweis wie: Lasst uns zusammen über die Zukunft nachdenken! Gemeinsam Strategien entwickeln! Gemeinsam Konzepte entwickeln! Gemeinsam Qualität bestimmen!
Meist wird über die Quantität die Qualität einer Redaktion bestimmt: Je mehr Redakteure umso höher die Qualität. Sicher gibt es Redaktionen, die so schwach besetzt sind, dass sich ein Gespräch über Qualität erübrigt. Aber wie viele große Redaktionen sind einfallslos, konzeptlos – und ahnungslos?
Marx und Engels sprachen vom Umschlag der Quantität in die Qualität. Das klappte in der sozialistischen Wirtschaft nicht, und auch nicht im Journalismus. Wir brauchen dennoch eine „Dialektik des Journalismus“. Nehmen wir Schnibbens Essay als Einführung dazu und die junge Wortwalz-Kollegin als Begleitung, die sich auf ihrer Homepage rühmt: „Mit Sprache sorgfältig umgehen, auf Schnörkel scheißen.“ Das könnte fast von Wolf Schneider sein.
Können Sie, werter Herr Schnibben, Jessica Schober noch einmal auf die Walz schicken? Mit einem Teil ihres Jubiläums-Bonus (der ja, das muss der Neid lassen, verdammt hoch sein muss)? Sie soll aber mehr schildern als Momentaufnahmen, die hübsch zu lesen sind; sie sollte die Krise nicht in Episoden auflösen – sondern mit einer reifen Idee vom besten Journalismus im Lokalen starten und prüfen, wo er gelingt und wo er misslingt und wie die Idee zu korrigieren ist. Am Ende hätten wir ein Konzept, das zur Debatte taugt. Und wir hätten eindlich eine Debatte statt Hunderte von Kongressen zu Online und Bezahl-Modellen.
Bevor ich zum SPIEGEL wechselte, arbeitete ich bei der „Zeit“. Wir glaubten damals an das Erfolgsrezept: Wir schielen nicht auf den Leser, wir machen die Zeitung für uns Journalisten, es werden sich schon genügend Leser finden, die für so ein Blatt bezahlen.
Auf meinem Flur saß ein Ressortleiter, der sich köstlich über Leserbriefe amüsieren konnte. Wenn sich ein Leser darüber beschwerte, dass ein Leserbrief unbeantwortet geblieben war, ließ er dem Schreiber mitteilen, er habe leider einen Zimmerbrand zu beklagen und dabei müsse wohl auch dessen Leserbrief in Flammen aufgegangen sein.
Es war die große Zeit der journalistischen Autokratie, die Texte wurde über den Lesern abgeworfen, wer sie kritisierte, wurde als Querulant abgetan, dem man am besten das Abo kündigte. Wir bestimmten, welche Themen mit welchen Informationen – oft auch mit welchen Meinungen – unsere Leser zur Kenntnis nehmen konnten, nur die Konkurrenz zwischen den überregionalen Medien sorgten für eine gewisse Pluralität. Dieses Gatekeeper-Monopol ist durch das Netz, insbesondere das mobile Netz, aufgebrochen worden, jeder Leser ist sein eigener Gatekeeper, erstellt sich seine Agenda – unterstützt von Suchmaschinen und sozialen Medien – quer durch alle Medien und all die Themen, die ihn interessieren, selbst zusammen.
Schöne Anekdoten aus der Geschichte des Journalismus: Wie wir lernten, den Leser zu vergessen. Warum haben wir uns diesen Dünkel nach dem Krieg nur geholt?
Solche Geschichten gibt es auch aus dem Lokalen zu erzählen: Wie die Honoratioren, zu denen auch die Verleger zählten, die Zeitung beherrschten. Da gibt es in einem leider vergessenen Buch von Karl-Hermann Flach von 1968 Deprimierendes zu lesen: „Macht und Elend der Presse“. Das meiste davon stimmt heute noch; wir sollten das Buch nachdrucken, zumindest den ersten Teil.
Schwer verständlich ist: Warum haben viele Lokalredakteure diese Rolle der Verleger übernommen? Warum sind sie so obrigkeitshörig? Die meisten Redaktionen gehören mittlerweile zu Konzernen oder großen Verlagen: Da findet kein Vereinspräsident oder Bürgermeister mehr so starkes Gehör, dass ein Chefredakteur oder Lokalchef bangen müsste. Die Konzentration der Zeitungen hat also nicht nur den Nachteil, dass Sparkonzepte übermächtig werden, sondern durchaus einen großen Vorteil für die Unabhängigkeit der Redakteure.Anders als bei den überregionalen Medien gibt es im Lokalen noch das Monopol, das wohl noch lange bestehen wird – wenn die Redakteure überhaupt recherchieren und das recherchieren, was ihre Leser wirklich interessiert. Wolf Schneider hat Recht: „Gute Lokalzeitungen haben die besten Überlebenschancen.“ Aber, aber: Sie dürfen nicht mehr die Überregionalen kopieren, die die Konkurrenz mit TV und Internet längst verloren haben; sie müssen konsequent die Themen ihrer Leser spielen – Provinz sein, aber nicht provinziell agieren. Professionellen Journalismus mögen auch die Leser einer Lokalzeitung.
Ich sehe eine ganz andere Gefahr im Lokalen. Wer schaut, was in den Online-Auftritten der Lokalzeitungen geklickt wird, entdeckt vorne durchweg Blaulicht-Geschichten. Der Hase, der überfahren wird, interessiert mehr als der Bericht aus dem Stadtrat. Daran ist nicht der Hase schuld, sondern die Redaktion – die aus dem Stadtrat nicht so aufregend berichtet, nicht tief genug recherchiert und vom Geschichten-Erzählen nur hört, wenn skurrile Kollegen auf „Storytelling“-Seminare gehen.
Daraus ziehen einige Manager und Chefredakteure schon den Schluss: Online im Lokalen ist Boulevard, also ganz viele Hasen und ganz wenig Politik. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass wir weit vorne im Grundgesetz auftauchen, dass der Artikel 5 nicht nur Rechte vergibt, sondern auch Pflichten. Es ist die Aufgabe von Redakteuren, dafür zu sorgen, dass dieselbe Seriosität der gedruckten Zeitung auch im Netz Nutzer und bald auch Käufer findet. Das schreibt auch Schnibben, wobei es im Lokalen nie Verifikationsabteilungen gab. Für die Verifikation sorgte der ortskundige Kollege, und wenn der irrte: Der Leser.
In diesem unendlichen Universum aus Fakten und Fälschungen, Meinungen und Gerüchten allerdings lauert die Gefahr, zum Spielball von Google, Facebook und Co. zu werden, da liegt die Chance für die alten Medien, so etwas wie Fixsterne zu sein, also durch Recherche, Dramaturgie, Stil, Glaubwürdigkeit und Transparenz herauszuragen. Das setzt allerdings voraus, dass sie ihre journalistische Qualität erhöhen, also Korrespondentennetze und Recherchepools ausbauen, Datenjournalismus und Verifikationsabteilungen aufbauen, es sei denn, sie haben sie, wie der SPIEGEL.
Und die Redakteure müssen ihr Verhältnis zu ihren Lesern neu denken: Journalisten sollten keine Türsteher mehr sein wollen, die entscheiden, was wie in die Köpfe ihrer Leser kommt; Journalisten sollten sich als Lieferanten sehen, die heranschleppen, was ihre Leser vielleicht in ihre Köpfe hereinlassen. Und das bedeutet: transparent zu arbeiten, Grenzen und Widersprüche ihrer Recherchen aufzuzeigen; um Wahrheit zu ringen, aber nicht zu glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und vor allem: im Meinungsaustausch mit den Lesern die Story weiterzuschreiben.
Ja, unbedingt: Respekt zeigen, den Leser ernst nehmen. Aber wie viele Leser sind nur passiv im Netz, haben weder Lust noch Zeit, Storys mit uns weiterzuschreiben? Ist nicht im Netz eine neue Elite unentwegt auf Sendung – neben den Nörglern, Beleidigern und verbalen Totschlägern, die es immer schon gab und die früher nur kein Medium hatten? Oder müssen wir im Dreck der Beleidigungen die Goldklümpchen entdecken?
Reicht es aus, wenn wir nicht mehr im Chefarzt-Ton sprechen?
Die Digitalisierung des Journalismus – eine ihrer Vorzüge – ermöglicht ein ganz neues Verhältnis zum Leser, durch Kommentarfunktionen, Chats, Redakteursblogs und die Personalisierung von Inhalten. Bisher haben die Verlage die Vorzüge der Digitalisierung vor allem in neuen Erlös- und Vertriebswegen von journalistischen Inhalten gesehen, sie investieren in Paywalls, E-Paper und Apps. Das nützt alles nichts, wenn sie gleichzeitig die Investitionen in journalistische Qualität zusammen streichen: Auf den digitalen Märkten ist die Konkurrenz größer als auf den analogen Märkten und das Preisniveau niedriger – wer langfristig wachsende Digitalerlöse will, muss sich gerade im Netz durch Qualität abheben.
„Ach ja, die Qualität!“, seufzt ein hoher Verlagsmanager gerne und blamiert seine Chefredakteure: „Und was bitte ist Qualität?“ Wie manche stottern oder einfach nur erröten.
Selbst wenn wir sie ausreichend bestimmen könnten, bleibt die Frage: Reicht unsere Ausbildung aus? Haben wir uns da schon auf die Zukunft eingestellt? Wer wie Cordt Schnibben beim Qualitäts-Gott Wolf Schneider gelernt hat, könnte lange und gut über den professionellen Journalismus der Zukunft sprechen; aber – wenn ich es recht sehe – wird die anspruchsvolle Ausbildung immer mehr ausgedünnt, so es sie überhaupt je gegeben hat. Wie ist es beispielsweise beim Spiegel?
Es muss schon irritieren, dass Springer Millionen in die wohl beste Journalisten-Ausbildung in Deutschland investiert – ein Verlag, der diese Investition immerhin vor seinen Aktionären rechtfertigen muss.
Von uns Altvorderen, die Wolf Schneider genießen durften, können die Nachkommen lernen, was einen Journalisten zum Profi machen. Von den digitalen Ureinwohner lernen wir – auch eine neue Situation – wie man im digitalen Universum heimisch wird. Was wir allerdings auch lernen und was wir den Nachkommen lehren sollten: Wir müssen künftig herausfinden, wie und wo wir unsere Recherchen vermarkten können – ohne die Regeln zu verletzen wie auf den Mode-Seiten der SZ (obwohl auch über diese Grenzen eine Debatte sinnvoll wäre).
Und wir Journalisten müssen begreifen, dass wir in Zeiten der Digitalisierung in den Lesern mehr sehen müssen als zahlende Kunden, wenn wir auch zukünftig ihr Geld kriegen wollen. Sie sind Experten, Gesprächspartner, Themengeber, manchmal sogar Rechercheure, sie sind Kritiker, Korrektoren, manchmal Nervensägen, in jedem Fall ist ihnen unser Blatt so viel wert, dass sie mehr verdient haben als nur unsere höfliche Aufmerksamkeit. Darin stimmen – Erkenntnis meiner Rundreise – Schreiber, Kleber, Gutjahr und Schober, die vier Journalisten aus vier Generationen, überein, so unterschiedlich und spektakulär auch sonst ihre Antworten auf die Printkrise ausfallen. Zu lesen im neuen SPIEGEL
Noch einmal, und mit Inbrust: „Experten, Gesprächspartner, Themengeber, manchmal sogar Rechercheure, Kritiker, Korrektoren, manchmal Nervensägen“ gab es im Lokalen immer schon; der Chefarzt-Ton klappt selten in einer Lokalredaktion. Aber es bleibt die Frage: Warum machen die meisten Lokalredaktionen so wenig mit den Themengebern und Nervensägen? Wir haben es einfacher als die Überregionalen.
Vor anderthalb Jahren habe ich eine ähnliche Rundreise entlang der Klippe der Krise gemacht, damals zu Chefredakteuren von Tageszeitungen – die ausdauernde Wucht des digitalen Tsunami war schon damals zu spüren. Die „Abendzeitung“ in München hat es bald darauf erwischt, aber es gab Stimmen aus der „SZ“, der „FAZ“ und der „Zeit“, die sich darüber wunderten, dass ein Printredakteur über die Printkrise schrieb: Wie kann man vor dem Tsunami warnen, dann hauen uns die Badegäste ab. Man dürfe die eigene Branche nicht schlecht machen, ganz so, als seien wir immer noch die Türsteher, die Texte über Strukturkrisen in der Luftfahrt, in der Atombranche und sonstwo zulassen, Artikel über die Medienkrise aber aussperren könnten.
Nun reicht es mit dem Tsunami. Und wo kommen denn nur die Klippen her? Und wenn doch: Nach Thailand fahren die Touristen wieder.
Und heute? Die „SZ“ zieht im kommenden Monat zum Schutz eine Paywall hoch, die „Zeit“ veröffentlicht inzwischen eine Krisenstory nach der anderen, in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ beschworen drei Redakteure gewagt das Ende der Zeitung auf Papier in sieben Jahren.
Im Gespräch damals warnte „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher, wenn es nicht gelinge, für Qualitätsjournalismus im Netz ausreichend Geld zu erlösen, rutsche die Printbranche in die „Ära des Darwinismus“, in der alle Tages- und Wochenzeitungen gegeneinander mit allen Mitteln um Anzeigenkunden, Leser und das Überleben kämpften. Von einer Paywall ist die „FAZ“ nach wie vor weit entfernt, schreibt im dritten Jahr in Folge tiefrote Zahlen; und der langjährige Mitherausgeber Günther Nonnenmacher warf dem verstorbenen Kollegen hinterher, solche Talking Heads wie Schirrmacher brauche die Zeitung nicht, der habe weder „die Auflage der „FAZ“ steigern können“ noch seien „wegen ihm mehr Anzeigen“ geschaltet worden. Solche Journalisten wie Nonnenmacher – unberührt davon, was und wer eine Zeitung dem Netz überlegen macht – sind die Totengräber der Tageszeitungen.
Musste dies Nachtreten gegen die FAZ und Nonnenmacher sein? Die Schmähung von Schirrmacher durch den Weggefährten war in der Tat unsäglich. Aber was soll es am Ende eines sonst exzellente Essays? Wir Journalisten waren untereinander schon immer schlimmer als die schlimmsten Leser. Wenn wir über Qualität reden, ist Nachtreten wenig förderlich.
Wolf Schneider zum Frauentag: „Der Inbegriff aller Weiblichkeit ist immer noch sächlich: das Weib“
Die Gender-Sprache führt zu einer „lächerlichen Verumständlichung“ des Deutschen, so berichtet die evangelische Nachrichtenagentur idea über einen Vortrag Wolf Schneiders beim Christlichen Medienkongress im Januar. Dort bekamen bibeltreue Christen zu hören, was Schneider beim „Luther-Disput“ in Erfurt am 4. Advent schon ausgeführt hatte: Alice Schwarzer und ein kleiner Klüngel von Feministinnen fühlen sich durch die Sprache diskriminiert; das ist aber töricht, denn das natürliche Geschlecht hat nichts mit dem grammatikalischen Geschlecht zu tun. „Der Inbegriff aller Weiblichkeit ist immer noch sächlich: das Weib.“
Beim Medienkongress ermahnt Schneider laut idea Pfarrer und Journalisten: Nehmt Euch ein Beispiel an Luther! Auch wenn Luthers klare Sprache unmöglich zu übertreffen sei, bleibe die Frage: „Muss die Mehrheit der Würdenträger so weit dahinter zurückbleiben, wie ich es hundertfach erlebe.“ Unverständlichkeit gelte inzwischen als Nachweis von Wissenschaftlichkeit gelte. Wenn Bischöfe von „Apostolizität“ sprächen, von „kybernetisch-missionarischer Kompetenz“ oder „situationsbezogener Flexibilität“, dann nutzten sie Wörter, „vor denen es einer Sau graust“. Wörter, die nur fünf Prozent der Deutschen verstünden, seien akademischer Hochmut und „die Pest“.
Schneiders Rat an Prediger und Journalisten:
> Lest täglich in der Lutherbibel!
> Nutzt kurze, konkrete und saftige Wörter!
> Schreibt schlanke und transparente Sätze!
> Sprecht Wörter mit wenigen Silben, denn alle großen Gefühle sind Einsilber wie Hass, Neid, Gier, Qual, Glück oder Lust! „Viersilbige große Gefühle gibt es nicht!“
Wer dagegen verstoßen wolle, dem rät Schneider: „Ehe Sie in einer Predigt fünf Silben verwenden, machen Sie fünf Liegestütze!“
Wer die deutsche Sprache loben und Anglizismen meiden möchte, den erinnert Schneider: Deutsch steht immer noch auf Platz vier der am meisten gelernten Sprachen weltweit – nach Englisch, Spanisch und Chinesisch.
Fremdwörter und deutsche „Arschkriecherei“: Wo kann man hier repunsieren? (Friedhof der Wörter)
Wenn sich Engländer über uns Deutsche lustig machen, dann amüsieren sie sich über unsere „sprachliche Unterwürfigkeit“ – wie es die „Times“ genannt hat. Walter Krämer, der dem „Verein Deutsche Sprache“ vorsteht, spricht sogar von „Arschkriecherei“:
„Viele Deutsche haben das Bedürfnis, zur Benennung der Welt nicht ihre eigene Sprache, sondern die ihrer Kolonialherren zu verwenden.“
Dazu passt eine Geschichte, die Ludwig Reiners erzählt, der deutsche Sprachpapst, bevor Wolf Schneider das Amt geerbt hat:
Einige Herren treffen sich beim Wein und erfinden aus Spaß ein Fremdwort, das einfach sinnlos ist: „repunsieren“. Sie gebrauchen das Wort, als müsse es jeder kennen – etwa: „Gestern haben wir herrlich repunsiert.“ Und der Angesprochene erwidert: „Oh, war es interessant?“
In einem Lokal fragt einer der Fremdwort-Erfinden: „Herr Ober, wo kann man hier repunsieren?“ Und der antwortet: „Bitte geradeaus, zweite Tür links.“
Ludwig Reiners erzählt diese Geschichte im fünften Kapitel seiner „Stilkunst“: „Ein Streitgespräch über den Gebrauch von Fremdworten“ – und er folgert: „Nur bei Deutschen, die vor jedem fremdländischen Wort auf die Knie fallen, ist dies Experiment möglich.“
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 17. Februar 2014
Drastische Sprache wie vom „Tyrannen, der stinkt wie Teufelsdreck “ – und große Vorbilder (Luther-Disput 5)
Luther nennt einen Mächtigen einen „wütenden Tyrannen, der stinkt wie Teufelsdreck“. Wie drastisch darf unsere Sprache sein? – ist die Frage im fünften Teil des Luther-Disputs im Erfurter Augustinerkloster.
Wolf Schneider:
Ich finde es einfach traurig, wenn ein Mensch ein Anliegen hat, aber nicht im Stande oder Willens ist, es auf geeignete Weise unter die Leute zu bringen. Wer etwas bewirken will, hat sich der Sprache zu bedienen, die etwas bewirken kann.
Noch einmal Büchners Woyzeck: „Wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen“. Das ist die perfekte Sprache abseits der Bibel, das ist Luther-Deutsch. Manchmal darf und muss Sprache eben auch drastisch sein.
Von Pfarrer Thomas Seidel aus Erfurt kommt der Einwand: „Die Kirche ist nicht der Jahrmarkt, nicht das Kaufhaus und nicht die Talkshow. Dort ist man ein anderer Mensch und will Menschen anders ansprechen. Dürfen und sollten dafür andere Sprachregeln gelten?“
Schneider: Warum anders? Saftig, drastisch, auf den Punkt und unter mutiger Ignorierung alles auf der Universität Gelernten. Dann wird man auch verstanden.
Leibrock:
Man muss trotzdem authentisch sein. Ich kann nicht in eine Rolle schlüpfen und sagen: Jetzt bin ich ein anderes Wesen. Schauspieler können das. Aber ich stehe ja auf der Kanzel bei einer Rede oder als Schreibender nicht als Schauspieler da.
TA-Leser Christoph Werner aus Erfurt meint:
„Ich habe Schwierigkeiten mit der Aussage: Alle müssen einen verstehen. Es gibt doch ganz verschiedene Adressaten, an die man sich wendet. Ein Thomas Mann beschränkt sich nicht auf Hauptsätze und ist dennoch in meinen Augen einer der größten Stilisten des 20. Jahrhunderts. Ein Mediziner, der über Lungenkrankheiten schreibt, hat ein anderes Publikum als ein Reporter einer Tageszeitung.“
Schneider:
Ich bewundere Thomas Mann. Noch mehr bewundere ich Heinrich Kleist, den ich aber niemals als Vorbild nennen würde, weil er viel zu schwierig ist.
Wir reden hier nicht von Weltliteratur, nicht von Wissenschaft, sondern wir reden von einem Publikum, das einerseits die Journalisten und andererseits die Pfarrer wohl in größtmöglicher Mehrheit erreichen möchten. Journalisten sollten so schreiben, dass 70 Prozent der Deutschen sie lesen können – 100 Prozent schafft man nicht. Sich dafür Thomas Mann als Vorbild zu nehmen, davon würde ich abraten.
Der Kabarettist Ulf Annel aus Erfurt:
„Beim Lesen von Luthers „Schrift vom unfreien Willen“ kommen mir Zweifel, ob das damals alle verstanden haben. Hat also auch Luther nicht immer für alle geschrieben?“
Schneider:
Luther hat auch für Professoren geschrieben. Aber die Bibel hat er nicht für Professoren übersetzt.
Leibrock:
Ein Beispiel ist für mich der Fernseh-Historiker Guido Knopp. Der wird von Fachkollegen oft scheel angeguckt. Er hat aber mit seinen historischen Filmen im ZDF einen riesigen Zuspruch.
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
**
Fünfter und letzter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Wolf Schneider: Zwei (plus eins) einfache Regeln für einen guten Stil (Luther-Disput 4)
Es gibt zwei einfache Regeln für einen guten Stil, sagt Wolf Schneider:
• Erstens: Die Wörter sollten möglichst wenig Silben haben. Die einsilbigen Worte sind das Größte – Blood, sweat, toil and tears –, die zweisilbigen sind das Zweitbeste.
• Zweitens: Keine Schachtelsätze, sondern vor allem Hauptsätze. Eingepferchte Nebensätze sind immer schlecht. Es möge laut vorgelesen gut ins Ohr gehen. Wir schreiben immer für die Ohren.
Felix Leibrock fügt eine dritte Regel hinzu:
Kein Passiv! Aktivformen verwenden! Beim Passiv stiehlt man sich aus der Verantwortung. Statt „Wir wurden heute begrüßt…“, besser: „Herr Müller, Meier, Schulze hat uns begrüßt…“.
Schneider: Ja, Passiv entpersonalisiert – das ist heimtückisch und frech. Die Deutsche Bank hat mir einen unverschämten Brief geschrieben: „Die Geschäftsbedingungen sind geändert worden.“ Sie hat nicht geschrieben: „Wir möchten ändern“ – dann hätte ich ja vielleicht widersprochen.
Und wie schreibt Wolf Schneider? „Meine Werkstatt verlässt kein Text, den ich nicht mindestens dreimal laut gelesen habe.“
Im vierten Teil des Luther-Disputs standen klare Sätze im Vordergrund und Vorbilder, die klare Sätze schrieben. Auf die Frage „Kann man nicht auch in Hauptsätzen Blödsinn reden?“ antwortete Wolf Schneider:
Wo immer mir klare Hauptsätze begegnen, bin ich angetan. Es ist eine Wohltat, eine Aussage in einem klaren harten Satz zu hören. Sich in klaren Sätzen zu äußern, ist keinem Prediger, keinem Bischof versagt.
Das allerdings von Politikern zu fordern, ist in meinen Augen weltfremd; das können Politiker sich nicht leisten, sie machten sich unglücklich. Von Festrednern sollte man fordern, dass sie gar nicht erst antreten, mit all den Allgemeinplätzen.
Von welchen Schreibern können wir noch gutes Deutsch lernen?
Schneider:
Ich kann nur jedem raten, möglichst viel von Bertolt Brecht, Franz Kafka, Georg Büchner und Heinrich Heine zu lesen. Da gibt es viele starke Sätze. Man denke nur an den geschundenen Woyzeck bei Büchner, der da sagt: „Wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen“.
Das ist ein gewaltiger Satz, das ist Lutherdeutsch. Auch Brecht hat sich vom Lutherdeutsch inspirieren lassen und andauernd die Bibel gelesen. Seine Aussage „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ ist ein strittiger Spruch, aber er hat Kraft. Und das Fressen darf eben auch mal vorkommen in einer Predigt.
Luthers Übertragung aus dem Alten Testament, aus dem Buch Jesus Sirach: „Die Geißel macht Striemen, aber ein böses Maul zerschmettert das Gebein“ verstehen auch heute 14-Jährige noch.
Oder Kafkas Briefe: Sie gehören zum Herrlichsten, was auf Deutsch je geschrieben wurde. Hier wird das akademische Vorurteil klar widerlegt, dass, wer verständlich schreibt, keine große Literatur produzieren könne.
Leibrock:
Ich suche nach vergleichbaren Gegenwartsautoren…
Schneider:
Heinrich Böll hat gutes Deutsch geschrieben, Magnus Enzensberger auch. Von Günter Grass gibt es ein paar starke Sätze, aber nicht mehr. Mit großer literaturtauglicher Sprache Millionen erreichen – das können wohl nur Kafka und Brecht.
Kann auch ein Ungläubiger Luther verstehen und schätzen?
Schneider:
Ja! Brecht war ein sehr heftiger Luthergegner, ein Kirchengegner überhaupt. Trotzdem hat er von Luther gelernt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Das ist ein großartiger Satz Luthers, nicht nur im Vertrauen auf die Allgegenwärtigkeit Gottes. So schreibt man, und so schreibt auch Bertolt Brecht.
Leibrock:
Die Hauptfrage Luthers ist allerdings heute nicht mehr aktuell. Luther fragt: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“. Heute fragen wir eher: „Gibt es Gott?“. Auch Luther würde heute diese Frage zu beantworten versuchen, und er hätte sicher gute Antworten.
Wir können Luther nicht einfach auf unsere Zeit übertragen, das sollten wir auch für das Lutherjahr 2017 bedenken. Viele Menschen könnten damit wenig anfangen, weil es nicht ihre Fragen sind.
Eine heutige Frage ist die nach Schuld und Vergebung:
> Wo bekomme ich Vergebung, wenn mir diese Welt nicht vergibt?
> Kann Michail Chodorkowski Herrn Wladimir Putin vergeben?
> Kann Wladimir Putin Herrn Chodorkowski vergeben?
Die Nachrichten sind voll mit Fragen nach Schuld und Vergebung. Die Frage ist, ob Luthers Antworten aus dem Mittelalter heute noch passen.
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
**
Vierter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Wolf Schneider: Drei goldene Regeln für Redner (Luther-Disput 3)
Im dritten Teil des Luther-Disputs geht es um die Predigten der Pfarrer. „Ich habe meine undankbaren Jünger Reden gelehrt“, sagte Luther einmal. Aber können das Pfarrer heute noch? So sprechen, wie es Luther tat und lehrte? Wolf Schneider gibt drei goldene Tipps für Redner und Prediger:
• Lasst die üblichen Gemeinplätze weg!
• Lasst die Fremdwörter und schrecklichen Adjektive weg – womit ihr die Sprache entlutherisiert.
• Gebt euch Mühe, Interessantes zu sagen!
Felix Leibrock:
Es gibt einen allgemeinen Verfall der öffentlichen Rede. Es fehlt der Mut zur klaren Aussage.
Das halte ich für ein gesellschaftliches Problem, weil wir so viel Zeit, so viel Energie verschwenden in Veranstaltungen, die uns wenig bringen. Deswegen mein Plädoyer für die freie Rede, für das gewagte Wort und für die Freiheit, etwas zu sagen, was falsch ist.
Vielleicht weiß Herr Schneider, wie wir das wieder hinbekommen?
Schneider:
Appelle wie „Werdet besser!“ helfen wenig. Viele Predigten sind trostlos. Ich habe im Auftrag der evangelischen Kirche Sachsen-Anhalt viele evangelische Texte und Predigten analysiert. Positiv aufgefallen sind mir nur ein paar Sätze von Margot Käßmann – zum Beispiel: „In Afghanistan ist gar nichts gut.“ Ich bin nicht ihrer Meinung, aber das ist klar und prägnant. Sonst ist kaum Besserung erkennbar.
Leibrock:
Vor so klaren Aussagen wie der von Margot Käßmann scheuen wir uns. Wir sagten lieber: „Die Situation in Afghanistan ist differenziert zu sehen.“
Wenn es um klare Worte geht, ist auch der neue Papst zu loben. In der Schrift „Evangelii Gaudium“ schreibt er:
„Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht.“
Schneider:
Oder er schreibt: „Die Kirche ist keine Zollstation. Sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit einem mühevollen Leben.“ Der Papst ist so gut, wie es Luther mal war.
Leibrock:
Ja, das sind Sätze, die verstehe ich sofort. Und andere Menschen auch. Ich habe den ersten evangelischen Papst-Franziskus-Fanklub gegründet…
Schneider:
In jeder Kirche sollte ein Plakat hängen: Wollt ihr wirklich schlechter sein als der Papst? Keinem Prediger, keinem Bischof ist es versagt, sich in klaren Sätzen zu äußern.
***
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
**
Dritter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Wolf Schneider: Wie Churchill mit „Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen“ die Seele des Volkes traf (Luther-Disput 2)
Ein Professor hätte Churchill 1940 geraten, die Engländer aufzufordern „zu einer Mobilisierung aller nationalen Energiereserven und zu einem Paradigmenwechsel und ihrer Einstellung zur Lebensqualität“. Aber Churchill wählte vier einfache Worte – die Wolf Schneider beim Luther-Disput der Thüringer Allgemeine empfiehlt.
Im zweiten Teil des Disputs geht es um die freie Rede: Führt der Heilige Geist den Prediger zu einer guten Rede? Oder weltlicher ausgedrückt: Gibt es eine Inspiration, der ein guter Redner einfach nur folgen muss?
Darauf antwortet Pfarrer Felix Leibrock, der die evangelische Akademie in München leitet:
Das ist Unsinn! Von einer solchen Predigt-Lehre, die besagt, man brauche sich nur hinzusetzen und der Heilige Geist wehe einem die Worte zu, halte ich nichts. Der Heilige Geist ist für etwas anderes gut.
Ich muss schon selber um die Worte ringen. Friedrich Nietzsche sagte einmal: Den Stil verbessern heißt, den Gedanken verbessern. Darum arbeite ich am Stil eines Textes.
Und – wie wäre es mal wieder mit mehr freier Rede! Der Augustinermönch Abraham a Sancta Clara, ein großer Prediger im 17. Jahrhundert in Wien, ließ von einem Ministranten auf der Kanzel Bibelstellen zufällig auswählen und hat dazu gepredigt. Als Mitbrüder die Bibel eines Tages versteckten, predigte er eine Stunde über das Nichts.
Das ist ein Weg, den wir heute viel zu selten gehen. Wir haben viel zu viel Angst, etwas Falsches zu sagen.
Wolf Schneider:
Ich bin durchaus ein Freund der freien Rede – wenn man sie beherrscht. Will sagen: Es zu können ist fabelhaft, sich darauf zu verlassen, halte ich für gefährlich.
Eine der wirksamsten Reden des 20. Jahrhunderts hielt Winston Churchill. Im Jahr 1940 wollte das englische Volk auf Adolf Hitlers Waffenstillstands-Angebot eingehen. Premier Winston Churchill hielt seine Rede von Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen – und drehte die Stimmung. Historiker und Philologen sind sich einig, dass diese Einsilber „Blood, sweat, toil and tears“, die in die Tiefe des Gemüts gingen, die Meinung des Volkes trafen.
Aber die sind Churchill natürlich nicht spontan eingefallen, an denen hat er hart und in großer Qual gearbeitet. Ein Professor hätte ihm geraten, die Engländer aufzufordern „zu einer Mobilisierung aller nationalen Energiereserven und zu einem Paradigmenwechsel und ihrer Einstellung zur Lebensqualität“.
Churchill hat die ausgearbeitete Rede in furchtbarer Qual auswendig gelernt und dann grandios vorgetragen. So macht man Geschichte.
Felix Leibrock:
Das ist der richtige Weg: eine Rede vorbereiten, aufschreiben, sie auswendig lernen – das schult auch das Gedächtnis. Und dann kommt beim Reden noch das eine oder andere Spontane hinzu.
Kennen Sie, Herr Schneider, einen Politiker, der das beherrscht? Helmut Schmidt – „Schmidt-Schnauze“ beispielsweise?
Wolf Schneider:
„Schnauze“ beschreibt ja schon, dass er flott mit dem Mundwerk war. Große Sätze hat er aber nicht geprägt. Da wird heute viel verklärt. So lange er Bundeskanzler war, war Schmidt nicht halb so gut wie heute.
*****
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
**
Zweiter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?