Die verschwundenen Wörter: Der Buschklepper und der Schnatz (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 4. August 2013 von Paul-Josef Raue.
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„Beziehentlich“ und „Füsillade“ sind zwei Wörter, die der Duden schon in aufnahm in seiner ersten Ausgabe vor 133 Jahren. Im neuen Duden beerdigt er sie – ebenso wie die Veteranen „vetterlich“ und „Dragonade“, die wir bereits in einem Blog verabschiedet hatten.

Um „beziehentlich“ ist es nicht schade. So schreiben Bürokraten: „beziehentlich des Urteils vom 1. Juli lege ich den Termin der Hinrichtung …“ Wir nennen Wörter wie „beziehentlich“ gerne „Papierdeutsch“ – ein treffender Begriff: So spricht kein Mensch, so schreibt nur ein Beamter, von staatswegen, auf Papier.

Das Verschwinden der „Füsillade“ ist eine Folge unserer Verfassung, in der die Todesstrafe verboten ist – für alle Zeiten. Die letzte Hinrichtung durch Erschießung fand in Deutschland vor 32 Jahren in Leipzig statt, als der Stasi-Hauptmann Werner Teske durch einen Genickschuss hingerichtet wurde.

Die Tat, also die Hinrichtung durch Erschießen, gibt es nicht mehr; das Wort verschwindet mit der Tat. Andere Wörter verschwinden aus dem Duden, weil es die Dinge nicht mehr gibt – wie die Diskkamera oder den „Schnatz“.

Der Schnatz ist geflochtenes Haar mit einem Krönchen, wie es in Hessen die Bräute und Brautjungfern trugen. In einem alten Buch von 1757 lesen wir:

Die Braut saß auf einem mit Tannenzweigen ausgeschmückten Wagen, sang und spann; um sie saßen etwa sechs Brautmädchen und sangen mit – alle im Schnatze, das ist: bloßköpfig mit Band und Rosmarien geziert, auch zween geflochtenen Haarzöpfen.“

Der goldene Schnatz taucht auch in den Harry-Potter-Romanen auf, zumindest in der deutschen Übersetzung: Ein kleiner Ball mit silbernen Flügeln. Aber auch die Potter-Romane haben den Schnatz nicht im Duden halten können: beerdigt!

Die meisten anderen Wörter, die der Duden beerdigt, rühren uns nicht: Adremieren und antedatieren, borgweise und halbschürig, Mistigkeit und Stickhusten, Telekrat und Traftenführer. Um den „Buschklepper“ trauere ich schon ein wenig: Ein schönes Spiel mit den Silben und Wörtern – das sich um einen Dieb dreht, der sich in den Büschen versteckt. Den wird es immer wieder geben – und sei es in der Politik.

Thüringer Allgemeine 5. August 2013

Wie lange darf man ein Thema zum Aufmacher treiben?

Geschrieben am 3. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Frage kennen Redaktionen: Können wir das Thema am dritten Tag immer noch als Aufmacher bringen?

In Thüringen wechselt der Regierungssprecher als Vorstand zu einer Internet-Firma. Er kündigt nicht seinen Job in der Regierung, sondern bekommt von der Ministerpräsidenten den goldenen Handschlag – also viel Geld bis ins hohe Alter.

Ein Leser aus Sondershausen schreibt an die Thüringer Allgemeine (TA):

Was ist mit der TA los? Zum dritten Mal in dieser Woche wird auf der Titelseite der TA die Provinzposse mit Herrn Zimmermann wiedergekäut.

Gibt es nichts Wichtigeres und/oder Besseres zu berichten? Dieser Gaul ist doch schon sowas von tot geritten, töter geht nicht (extra für Sie als Liebhaber der deutschen Sprache).

Es ist ja schön, wenn die Redakteure Luther beherzigen und „den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie (was) sie reden“, aber ich bezweifle, ob die Leser dies zu würdigen wissen. Mal abgesehen davon, dass diese Berichterstattung meiner Meinung nach die Politikverdrossenheit massiv fördert.

(Ironie ein) Wenn meine Frau nicht gern den Hägar läse, hätte ich womöglich die TA schon abbestellt (Ironie aus). Mir ist zwar klar, dass die vielen Seiten der TA täglich irgendwie „gefüllt“ werden müssen und Redakteure auch nur Menschen sind, aber die ständigen Wiederholungen sind eine Beleidigung jedes denkenden Menschen und nerven.

In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Provinzposse? Provinz: Ja – wir leben in Thüringen, wir leben gerne hier, wir schämen uns nicht. Posse? Nein – wir haben die Arroganz der Macht an einem Beispiel offenbart; wir haben der Regierung klar gemacht, wie das Volk, das sie vertritt, denkt; wir haben den Mächtigen gezeigt, dass in einer Demokratie Kontrolle wichtig ist – und wir, die Journalisten, sie ernsthaft ausüben.

Die Aufmacher zur Zimmermann-Affäre waren auch keine Wiederholungen. Das Drama hatte, wie in der griechischen Tragödie, drei Akte:

> Der Jammer am ersten Tag: Was ist passiert?

>Der Schrecken am zweiten Tag: Droht eine Katastrophe?

> Am dritten Tag die Lösung, die „Katharsis“: die Reinigung.

Oder glauben Sie, Herr Schwartz, dass eine Regierung schwach wird – wenn wir einmal berichten und dann „Wichtigeres“ auf die erste Seite heben? Ermuntern sie die Mächtigen nicht, durch Schweigen, Halbwahrheiten und Aussitzen die Probleme in ihrem Sinne zu lösen?

„Provinzposse“ – so sähen es die Mächtigen gerne. Wir, die Redakteure, sehen es anders. Durch unsere Kontrolle der Macht fördern wir keine Politikverdrossenheit, sondern zeigen, wie stark eine Demokratie ist – in der Kontrolle funktioniert.

Thüringer Allgemeine 3. August 2013

Argumente gegen Häme: Zeitungen leben und sind stark

Geschrieben am 3. August 2013 von Paul-Josef Raue.

So zu tun,als gehörte Print schnellstmöglich beerdigt,ist lächerlich.

schreibt Horizont-Chefreporter Jürgen Scharrer zum Kauf von Hamburger Abendblatt, Berliner Morgenpost, Hörzu und anderen durch die Funke-Mediengruppe und kommentiert die grenzenlose Häme auf den Kommentarseiten im Netz mit drei Argumenten:

1. Es gibt nicht nur jemanden, der verkauft, sondern auch jemanden, der kauft. Ein Ausverkauf von Print sieht anders aus.

2. Wo sind die schlauen Digital Natives, die ein journalistisches Digitalangebot entwickelt, das groß und renditestark ist, um eine Redaktion zu beschäftigen, die nicht nur bloggt, sondern richtig recherchiert?

3. Was Vertriebs- und Werbeerlöse betrifft, liegt Print nach wie vor Lichtjahre vor Online.

Journalisten über Journalisten: Einfach draufhauen!

Geschrieben am 2. August 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 2. August 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, B. Die Journalisten, Recherche.

Journalisten schreiben selten nett über Journalisten. Einige Medienseiten überraschen die Leser immer wieder mit recherchefreier Häme, wie wir sie sonst nur aus dem Netz kennen; einzig tröstlich ist, dass sie kaum ein Leser zur Kenntnis nimmt – außer Journalisten, die online bei den einschlägigen Medien-Diensten zumindest die Kurzfassungen lesen und sich freuen: „Mich hat es nicht erwischt!“

Neu auf der nach oben offenen Häme-Skala ist das ausschließliche Zitieren von Anwälten der Verleger. Im Juli-Journalist wird ein nicht benannter Madsack-Anwalt bemüht, der Bernd Hilder, dem Ex-Chefredakteur der LVZ, vorwirft „keinen Draht zur Redaktion gefunden zu haben“; „zudem habe Hilder den Trend zum Lokalen und zu mehr Online ignoriert, sich ohnehin mehr für das Repräsentieren als für das Blattmachen interessiert“.

Recherche? Nur bei den Verlegern, aber nicht in der Redaktion und nicht beim Beschuldigten selbst – jedenfalls fehlt jeder Hinweis, dass der Autor die Gegenseite gefragt hat. Also – einfach draufhauen und die Splitter einsammeln oder zündeln und sich am Feuer wärmen.

In solch recherchefreien Zonen lässt sich fein spekulieren und Gerüchten nachhängen. Mit Journalismus hat das wenig zu tun.

Der Journalist war lange Zeit nicht gerade berühmt wegen seiner gründlich recherchierten Geschichten, sondern berüchtigt wegen seiner klaren Standpunkte und seiner strikten Missachtung von Ziffer 2 des Pressekodex: Er hatte mehr gekämpft als recherchiert.

Die Qualität hatte sich unter der neuen Chefredaktion verbessert: Es lohnte sich wieder, zumindest einige der Artikel zu lesen. Ist der kurze Frühling schon vorüber?

Wenn Rezensenten metaphern: Lynchen und Demolieren in Bayreuth

Geschrieben am 31. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Wie drastisch und menschenverachtend darf die Sprache sein? Die Sprache des Feuilletons? Ist „Lynchen“ ein Sprachbild, das angemessen ist in der Besprechung einer Opern-Inszenierung? In der Süddeutschen Zeitung schreibt Reinhard J. Brembeck über den „Siegfried“ in Bayreuth:

Als der Vorhang fällt, setzt ein Buhgeschrei ohnegleichen ein. Hätte sich Castorf gezeigt, er wäre gelyncht und das Festspielhaus demoliert worden.

Der Rezensent, so ihn einer fragte, rechtfertigte sich wohl: Ist doch Ironie! Ist doch nur ein „Spaß“! Ist doch Kunst!

Das ähnelte dem Verhalten von Hundebesitzern. Rast ihr Liebling auf einen Jogger zu und freut sich aufs Zupacken bereit, ruft der Besitzer: „Keine Angst, der will doch nur spielen.“

SZ, 31. Juli

Was ist das „Sommerloch“?

Geschrieben am 30. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Das Sommerloch ist ein gemeinnütziges, von den Presseorganen getragenes Unternehmen. Verwaltung und Organisation liegen bei den Nachrichtenagenturen, die laut Stiftungsvertrag verpflichtet sind, das Loch Jahr für Jahr mit adäquatem Material zu füllen… Die dpa zum Beispiel ist unlängst der Frage nachgegangen, ob man am Flug der Schwalben das Wetter vorhersagen könne.

Streiflicht der Süddeutschen Zeitung, 30. Juli 2013

Der deutsche Blogger: männlich, unerfahren, arm (= weniger als 300 Euro im Monat)

Geschrieben am 29. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Zwei Drittel aller Blogger verdienen weniger als 300 Euro im Monat, nur 13 Prozent verdienen mehr als 1000 Euro durch Werbe-Einnahmen. Das hat der Blogvermarkter Rankseller durch eine Umfrage unter mehr als 2.300 deutschen Bloggern ermittelt.

Der Großteil der Autoren schreibt fünf bis zehn Artikel pro Monat über Themen wie „Heim und Garten“, „Erotik und Liebe“ oder „Gesundheit und Ernährung“. Zwei Drittel der Blogger sind Männer, von denen nur 15 Prozent eine journalistische Ausbildung haben.

(aus einer Pressemitteilung des Ernst-Schneider-Preises des DIHK)

Als alle Journalisten – egal wie blöd – einen Job fanden

Geschrieben am 28. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Wenn sich alternde Chefredakteure, Chefreporter und Journalisten-Stars bei Kongressen treffen, die mindestens tausend Euros kosten, wenn sie abends an der Bar hocken mit melancholischer Untergangs-Miene, dann klagen sie:

Wir retteten den Journalismus, wir retteten Zeitungen und andere darbende Medien – wenn wir nicht so viele schwache, schwächelnde und einfach dumme Redakteure hätten. Alle, die an ihrem Whiskey nippen, nicken wie früher das Negerlein in den katholischen Kirchen, wenn man einen Groschen einwarf (ich entschuldige mich für das Negerlein, aber – um der historischen Wahrheit wegen: so hieß es nun mal).

Wenn man kein Chefredakteur mehr ist, in Weisheit alt geworden und einfach nur noch Bestseller-Autor, dann darf man auch öffentlich schreiben, was die Jüngeren verplaudern:

Dass früher alles besser war und alle sowieso, behaupten alle, die früher nicht besser waren als heutige Journalisten. Weil aber fast alle Jungen damals einen Job fanden auf dem Medienmarkt, ganz egal, wie blöd sie auch sein mochten, hielten sie sich bereits nach der ersten gedruckten Zeile zu Höherem, mindestens zum Chefredakteur berufen. Auf diesem Irrglauben beruht die Ballade von den guten alten Zeiten der sogenannten Vierten Gewalt.

So schreibt Michael Jürgs zu den „Trauerfeiern“ nach dem Verkauf des Hamburger Abendblatt und Hörzu und anderen Springer-Blättern „ins Ruhrgebiet“; die WAZ- oder Funkegruppe erwähnt er in seinem Fünfspalter nicht einmal.

Ins Poesiealbum journalistischen Überlebenskünstler seien noch einige Jürgschen Merksätze geschrieben:

Verleger tranken, egal welcher Couleur, den Champagner aus den Gehirnschalen ihrer Besten. Bis auf Rudolf Augstein, der Bier vorzog.

Jürgs ist ein exzellenter Schreiber. Warum beugt er sich der Marotte, die als modern gilt: Unvollständige Sätze laufen frei herum und bellen wie ein Hauptsatz („Bis auf Rudolf Augstein…“) So schriebe es ein Jürgs in besten Zeiten: „- bis auf Rudolf Augstein, der Bier vorzog“.

> Eigentümer – jeder auf seine Art im Herzen mehr Journalist als Kaufmann.

> Allen Verlegern ging es – je nach Perspektive – um den wahren Journalismus und nie nur um die Ware Journalismus.

>Bleibt heute nur der Blick zurück im Zorn über das Heute? Ach was. Wehmut ist zwar erlaubt, aber Schwermut unnötig.

> An den Seilen der Totenglöckchen ziehen die üblichen Seilschaften der Theoretiker.

Quelle: Süddeutsche Zeitung 27. Juli, Medienseite „Schaut auf diese Stadt“

Zwei Wörter, die nach 133 Jahren aus dem Duden verschwinden (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 28. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.
3 Kommentare / Geschrieben am 28. Juli 2013 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Wissen Sie, was eine Dragonade ist? Oder nutzen Sie noch das Wort „vetterlich“?

Wenn Sie die beiden Wörter weder kennen noch nutzen, dann könnten Sie in der Duden-Redaktion arbeiten – in der Abteilung „Wörter-Friedhof“. Diese zwei Wörter haben gemeinsam: Sie tauchen im neuen Duden nicht mehr auf – nach 133 Jahren als Teil des deutschen Wortschatzes.

Schon im ersten Duden, in Leipzig 1880 gedruckt, kamen die Wörter vor und wurden in diesem Sommer auf dem Friedhof der Wörter begraben. Wir weinen ihnen keine Träne nach.

Oder doch? Wenn wir eine Träne kullern lassen, dann für das „vetterlich“. Bismarck, der Eiserne, schrieb an seine Braut: „Wir dürfen unser in vetterlicher Liebe gedenken.“ Allerdings – ein wenig mehr als „vetterlich“ darf die Gattin schon erwarten.

Vetterliche Liebe gibt es nicht. Vettern sind bestenfalls nett. Der norddeutsche Dichter Theodor Storm, kurze Zeit auch Richter in Heiligenstadt, schrieb: „Im Haus meines Onkels war ich mit dessen einziger Tochter Gertrud ich vetterlich und kameradschaftlich aufgewachsen.“ So ist es nett und sittsam.

Und die Dragonnade? Das Wort könnten die Erfurter noch in ihren Geschichten aufbewahren: Sie hatten, so sie Luthers Lehre anhingen, in der Zeit der Mainzer Herrschaft viel zu leiden – wenn auch nicht so schlimm wie die Hugenotten im Süden Frankreich.

Dort ließ der Sonnenkönig die Protestanten von Dragonern verfolgen und ihre Frauen vergewaltigen: Dragonaden, so ist in Grimms Wörterbuch zu lesen, ist auch „jede durch Soldatengewalt ausgeführte Regierungsmaßregel“.

Dass solche Wörter verschwinden, zeigt uns: Die Zeiten sind friedlicher geworden, bei uns jedenfalls. Wir können auf Dragonaden in jeder Hinsicht verzichten.

Thüringer Allgemeine 29. Juli 2013

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